Schweitzer Fachinformationen
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Als Arzt stehe ich in stetem Austausch mit meinen Patientinnen und Patienten. Viele sprechen unabhängig von ihren Beschwerden eine Form von Entwurzelung in ihrem Leben an. Es fehlt ihnen an Bedeutsamkeit: an verlässlichen Beweggründen. Doch wie kommt es dazu?
»Panta rhei - alles fließt«, wusste bereits vor 2500 Jahren der griechische Philosoph Heraklit. Und während diese Lebensweisheit in krisenbehafteten Zeiten wie den jetzigen durchaus Mut machen kann, kann sie uns auf der anderen Seite manchmal ganz schön ins Schwanken bringen.
Genau das beobachtete ich häufig bei Patientinnen und Patienten, deren Beschwerden einfach nicht abklangen oder immer wiederkehrten. Manche von ihnen waren schon seit Monaten oder gar seit Jahren in ärztlicher Behandlung und hatten sich beinahe schon damit abgefunden, dass ihre körperlichen Leiden chronisch wiederkehrten. Natürlich gibt es chronische Krankheiten, gegen die auch die Medizin nur wenig ausrichten kann; das will ich gar nicht infrage stellen. Doch Rückenschmerzen oder Burnout etwa gehörten meiner Ansicht nach nicht dazu.
Die Allgemeinmedizin behandelt in vielen Fällen lediglich die körperliche Symptomatik. Gesundheit in der Medizin ist dreidimensional. Wir Medizinerinnen und Mediziner schauen auf den Körper, das Mentale und das Soziale, bei Letzterem vor allem auf gesellschaftliche Teilhabe, auf Bildung und Einkommen. Alle drei Dimensionen bilden das sogenannte bio-psycho-soziale Modell der Gesundheit und zusammen gelten sie als Normalzustand. Gemäß der medizinischen Definition von Gesundheit ist das ein Zustand, bei dem alle wesentlichen Parameter im Normbereich sind. Doch wer bestimmt diese Parameter? Die Mediziner. Und um welche Parameter geht es dabei? Um Merkmale und Messgrößen, die mit den Instrumenten und Mitteln der Medizin operationalisierbar und zugänglich sind. Was sich (noch) nicht messen lässt, spielt folglich keine wesentliche Rolle, geht hier nicht weiter in die ärztliche Arbeit ein. Man misst nur, was man kennt - wofür es Begrifflichkeiten und eine Fachsprache gibt. Für alles andere ist man »strukturell blind«.
Würde man die medizinische Definition von Gesundheit wortwörtlich nehmen, dann wäre die Norm, also das Normale, der Maßstab, der über Gesundheit und Krankheit entscheidet. Man könnte folglich erwarten, dass entlang von Normalverteilungskurven - also entlang der objektiven Verteilungen von Merkmalen in der Normalbevölkerung - das Nichtnormale und damit das Kranke als Abweichung eindeutig aufzufinden und zu beschreiben sei.
Nehmen wir zum Beispiel die Körpergröße: Ein krankhafter Zwergwuchs oder eine medizinisch behandlungsbedürftige Übergröße würden dann vorliegen, wenn eine Person, möglicherweise ein Heranwachsender, entlang von Perzentilen und Wachstumskurven im Vergleich zur altersgemäßen Normalbevölkerung nach definierten Standards objektiv messbar aus dem Rahmen fällt. So weit, so gut.
Doch wie verhält es sich mit Aspekten wie Körpergewicht, Blutdruck und Blutfettwerten? Würde man hier eine Norm zugrunde legen, dann wären viele der heute medikamentös behandelten Zustände eigentlich gesund, weil normal. Denn die entsprechenden Verteilungskurven würden Werte noch als normal ausweisen, die aus Sicht der Medizin bereits als krank gelten.
Wie verträgt sich das mit der Tatsache, dass vermeintlich gesunde Menschen heute massenhaft Medikamente einnehmen? Gibt es neben dem objektiven Bereich nicht auch noch eine Grauzone, einen ärztlichen Entscheidungskorridor?
Die Dimension des Subjektiven - die vierte Dimension: Sinn, Bedeutung - betrachtet das Gesundheitswesen bis heute kaum. Im Gegenteil, sie wird strukturell und systematisch ignoriert. Wie stark die Kraft des Geistes jedoch sein kann und dass genau jenes klare Bewusstsein den Unterschied ausmacht, das begegnete mir in der medizinischen Welt überall.
Die vermeintlich objektive Sicht auf Werte und Daten ergibt sich aus medizinischen Untersuchungen, ist fachsprachlich zu beschreiben und lässt sich mit einem Standard - ebenjenem Normalzustand - vergleichen. Nach dieser Definition ist Gesundheit in der Alltagswelt der Menschen durchaus möglich, vielleicht sogar die Regel. Die Hoheit jedoch, über die Existenz von Gesundheit objektiv zu entscheiden, einen überprüfbaren Haken unter eine Gesundheitscheckliste zu machen, bleibt einer dritten Person überlassen: dem »äußeren Arzt«, wie ich ihn gern nenne, das heißt einer medizinischen Fachkraft. Beim äußeren Arzt liegt auch der Verhandlungsspielraum. Denn er urteilt durch den Zusatz, dass alle wesentlichen Parameter (folglich nicht alle Parameter) zu erfüllen sind und sich im Normbereich zu befinden haben, nach seiner eigenen Einschätzung. »Wesentlich« bedeutet also: Gesundheit bleibt eine ärztliche Entscheidung.
Vielen Menschen ist dabei nicht bewusst, wie viel ihrer eigenen Gesundheit sie selbst in der Hand haben. Denn jeder Mensch hat auch einen »inneren Arzt«. Wir alle besitzen Selbsthilfe- und Selbstheilungskompetenzen, ja Selbstwirksamkeit, und es liegt an uns, diese Fähigkeiten zu erkennen und zu stärken.
Viele Patientinnen und Patienten kennen das Potenzial ihres inneren Arztes nicht. Sie geben die Verantwortung für ihre Gesundheit am Tresen der Arztpraxis ab. Eine Spritze, ein Medikament, eine Krankschreibung wird es schon richten. Und meist tut es das auch - für eine kurze Zeit. Es ist ein Kreislauf, der sich ewig wiederholen mag. Dabei sind Glück und Gesundheit prinzipiell lern-, form- und trainierbar. Vor allem, wenn äußerer und innerer Arzt Hand in Hand arbeiten.
Integriert und aus einem Guss, jedoch aus mehreren Händen kommend, entsteht so das, was ich gern den »Dreibeinigen Stuhl der Gesundheit« nenne: Medizinische Prozeduren und das, was ich vom äußeren Arzt bekomme, bilden zusammen mit der Selbsthilfe, dem inneren Arzt (oder eben dem dritten Stuhlbein), das Fundament einer wirklich ganzheitlichen Integrativen Medizin.
Was ich damit sagen möchte, ist: Gesundheit ist nicht nur eine ärztliche Entscheidung. Auch wenn die Medizin nicht nur den Körper behandelt, sondern sich gemäß dem dreidimensionalen Modell der Gesundheit auch um das Mentale, also die Psyche, und das Soziale bemüht, betrachtet die somatische Medizin, und das gilt noch heute, die Psyche vor allem in Bezug auf messbare Veränderungen ebenso wie auf entsprechende Symptome und Krankheiten, etwa bei Depressionen, Ängsten und Suchterkrankungen. Grenzphänomene wie manische Zustände, bipolare Störungen, Schizophrenien, Psychosen und auch Borderline-Störungen werden häufig in der Psychiatrie behandelt und oft biologisch oder pharmakologisch betrachtet. Primär psychotherapeutisch zu arbeiten, ist in der Medizin noch immer relativ unterrepräsentiert.
Halten wir also fest: Gesundheit ist letztlich auch individuell. In diesem Zusammenhang spreche ich von der Gesundheit - in Gegenüberstellung zur bereits beschriebenen medizinischen Definition - als einem »Individualzustand«. Diese neue beziehungsweise erweiterte Definition enthält ebenfalls eine Entscheidung, aber dieses Mal die des inneren Arztes, der betroffenen Person selbst, nicht die des äußeren Arztes.
In der erweiterten Definition deutet der Mensch sich und seine Beziehung zur Welt: Gesundheit wäre demnach ein Zustand, bei dem man sich subjektiv gesund fühlt. Man interpretiert seinen individuellen Zustand selbstbewusst als gesund - und zwar völlig unabhängig von einem äußeren Ideal oder einem vermeintlich objektiven Standard, der für alle anderen ebenfalls gilt. Im Individualzustand sind Gesundheit und Krankheit höchst persönlich.
Doch zurück zu meinen Patientinnen und Patienten. Eines nahm ich nämlich immer deutlicher wahr: Viele von ihnen gingen in die Arztpraxis, wie sie beispielsweise zum Einkaufen oder zum Haareschneiden gingen, das heißt mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und Regelmäßigkeit. Manchmal konnte ich mit fast hundertprozentiger Sicherheit vorhersagen, wer an welchem Tag und zu welcher Zeit zu uns kommen würde.
Sie alle kamen zwar mit einem körperlichen Leiden, aber im persönlichen Gespräch mit ihnen erkannte ich, dass sie unter weitaus mehr litten als nur unter körperlichen Symptomen. Manche sagten mir, sie fühlten sich irgendwie »nicht mehr in ihrer Mitte«. Andere empfanden es so, als sei ihre Umwelt in eine profunde und unaufhaltsame Umwälzung geraten, wie eine Art »Wanderdüne«. Sie hatten das Gefühl, fremdbestimmt zu sein, ein Spielball in einer Welt voller Hindernisse. Wieder andere fühlten sich einfach nicht mehr recht »zu Hause« in ihrem Leben, nicht mehr wohl am konkreten Wohnort, in ihrem Job, dem Kollegium, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis, in der Familie oder der Partnerschaft.
Irgendwo schien es bei fast jedem zu klemmen. In jedem Fall war für all diese Menschen scheinbar »alles« in Bewegung geraten - panta rhei, ihr Leben floss und sie schienen Halt suchend und um Luft ringend einfach von den Fluten mitgerissen. Dieser Zustand brachte für sie ein Gefühl der Unsicherheit mit sich, das sich zunehmend verstärkte. Wo würde sie ihr Leben hinführen? Was würde sie in der Zukunft erwarten? Würden sie es...
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