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"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral" - so grob beschreibt Bertolt Brecht in seiner Dreigroschenoper die Hierarchie der Lebensnotwendigkeiten. In der Ballade "Wovon lebt der Mensch?" lässt der Kriminelle Macheath, auch Mackie Messer genannt, wenig Zweifel daran, was wirklich wichtig ist. Essen und Trinken sind die Basis jeder Gesellschaft. Ob es nun Jäger und Sammler sind oder Ackerbauern, die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln ist entscheidend. Daher haben in diesem Bereich auch Änderungen und Neuerungen so weitreichende Folgen. Die entscheidende Komponente ist hier das "Mehr", nicht das "Besser".
Das war schon beim Übergang von der Altsteinzeit zur Jungsteinzeit, der sogenannten Neolithischen Revolution, so. Durchgesetzt hat sich das Modell "Landwirtschaft", weil es mehr Nahrung ermöglichte, und nicht, weil es ein besseres Leben versprach.
Der britische Anthropologe Mark Dyble hat auf den Philippinen das Volk der Agta untersucht. Die sind zu Teilen noch Jäger und Sammler, andere haben bereits den Reisanbau für sich entdeckt. Jene Gemeinschaften, die sich von der Jagd auf Rehe oder Schweine und von Früchten ernähren, haben deutlich weniger Arbeitsaufwand als die bäuerlichen Agta. Die Feldarbeit verringert deren "Freizeit" erheblich, vor allem jene der weiblichen Gruppenmitglieder. Für sie bedeutet der Reisanbau rund 20 Arbeitsstunden mehr in der Woche. Dazu kommt, dass die Jäger- und Sammler-Gemeinschaften gesünder sind als jene der Ackerbauern. Diese leiden häufiger unter Parasiten, ihre Lebenserwartung sei kürzer, schreibt Mark Dyble. Allerdings sind sie fruchtbarer, sie bekommen mehr Kinder und das in kürzeren Abständen. Auch hier bewahrheitet sich also, dass der wichtigste Faktor der Veränderung das Mehr und nicht das Besser ist.
Die nun folgenden Abschnitte werfen einige Streiflichter auf den Wandel im Nahrungsmittelangebot und wie er die Gesellschaft verändert hat.
Im Februar 1573 wird im Spital Hospital de la Sangre in Sevilla Geschichte geschrieben - und zwar von einem Buchhalter. Heute heißt es Hospital de las Cinco Llagas und ist der Sitz des andalusischen Parlaments, damals war es eine mildtätige Stiftung, in der vor allem armen Frauen geholfen werden sollte. Sie wurden dort in 15 Sälen behandelt, beherbergt und verpflegt. Und über diese Verpflegung vermerkt der Schreiber des Hospitals an einem Februartag vor mehr als 450 Jahren erstmals, dass Papas gekauft worden seien.
Papas oder auch patatas, das waren Früchte aus dem eben erst entdeckten Amerika, und zwar solche, denen man fast wundersame Wirkung zuschrieb. Erstmals erwähnt wurden sie 20 Jahre davor von Francisco López de Gómara, der in seiner Historia general de las Indias schrieb, die Bewohner der Hochebene um den Titicacasee würden sich vom - ebenfalls neu entdeckten - Mais und von Papas ernähren und daher allesamt "100 und mehr Jahre alt" werden.
100 Jahre sind die Armenhäuslerinnen vom Hospital de la Sangre wohl nicht geworden. Aber die Frucht aus den spanischen Kolonien in Lateinamerika trat dennoch ihren Siegeszug an. In England als potatoes, in Frankreich als pommes de terre, der heimische Erdapfel kommt aus dieser Sprachtradition, außer in Vorarlberg, wo er als Grumpiera oder "Grundbirne" vom Apfelhaften abweicht. In Deutschland ist es die Kartoffel, die vom Wortursprung her Anleihen bei einer anderen Bodenfrucht nimmt: der Trüffel. Diese italienische tartufo ist hochgeschätzt - was man anfangs über den Erdapfel bei Weitem nicht sagen konnte.
Denn die Pflanzen, die die Spanier aus Amerika mitbrachten, mussten erst an die europäischen Verhältnisse angepasst werden. An und für sich haben die Erdäpfel ja einige große Vorteile gegenüber dem damals in ganz Europa als Hauptnahrungsquelle vorherrschenden Getreide: Man muss sie nicht dreschen, man muss sie nicht mahlen, man muss sie nicht backen. Man kocht sie oder brät sie über Feuer - fertig. Weil sie unter der Erde wachsen, sind sie auch relativ diebstahlsicher, in den damaligen Zeiten war das ein Vorteil. Ein Problem war anfangs: Die Kartoffel ist ein Nachtschattengewächs, sie wächst - wie viele andere Pflanzen - vor allem in der Nacht. Das ist am Äquator kein Problem, da sind Tag und Nacht immer gleich lang. In Europa mit seinen Jahreszeiten sind die Nächte im Sommer und damit in der Wachstumsperiode aber relativ kurz. Die ersten Erdäpfel waren daher ziemlich klein. Dieses Problem hat man zwar rasch durch Neuzüchtungen behoben, aber zunächst blieb Irland das einzige europäische Land, in dem sich der Kartoffelanbau durchgesetzt hat. In Kontinentaleuropa blieb sie eine Zierpflanze für Gartenanlagen, keine Nutzpflanze fürs Feld.
Den Regierenden lag sie dagegen lange Zeit deutlich mehr am Herzen als der bäuerlichen Bevölkerung. Vor allem der preußische König Friedrich II. tat ab 1750 alles, um die Kartoffeln in seinem Land populär zu machen. Er hat damals seine berühmten "Kartoffelbefehle" erlassen: Erdäpfelanbau war nun patriotische Pflicht. Geholfen hat das zunächst aber wenig. So griff er zu einem Trick: Er ließ Kartoffelfelder anlegen - und sie dann von Soldaten bewachen. Diese Bewachung wurde allerdings bewusst so nachlässig gehandhabt, dass die Bauern der Umgebung in der Nacht das Saatgut stehlen konnten. Denn sie sollten, so der Plan, die "wertvolle Frucht des Königs" auf den eigenen Feldern anbauen. Funktioniert hat auch das nicht so wirklich, Friedrich II. ist allerdings der Spottname "Kartoffelkönig" geblieben.
Seine Gegenspielerin Maria Theresia hatte in Österreich ebenfalls versucht, den Kartoffelanbau populär zu machen. Und sie war ebenso erfolglos geblieben. Durchgesetzt haben sich die Erdäpfel bei uns erst im Zuge der Hungersnöte nach den Napoleonischen Kriegen. 1815 war in Indonesien der Vulkan Tambora ausgebrochen, sein Ascheausstoß führte im Jahr darauf in Europa zu einem "Jahr ohne Sommer", wie Zeitgenossen schrieben. Und auch die folgenden Jahre waren noch davon betroffen. Die Getreidepreise stiegen vor allem nördlich der Alpen, wo der temporäre Klimawandel die Ernten besonders beeinträchtigt hatte, aufs Dreifache. Plötzlich wurde der lange verschmähte Erdapfel doch populär. Allerdings nicht gleich und nicht überall.
Kärnten, von den Wetterkapriolen der Jahre 1816 bis 1819 weitgehend verschont, fand erst in den 1850er-Jahren Gefallen am Kartoffelanbau. Bis dahin galt: Was der Bauer nicht kennt, . Da war es aber auch schon höchste Zeit. Denn die moderne Welt verlangte nach moderner Ernährung, und die hieß im 19. Jahrhundert: Erdäpfel. Der Grund dafür war die außergewöhnliche Ausgiebigkeit, die der Kartoffelanbau mit sich bringt: Auf derselben Fläche, auf der man Getreide für ein Kilo Brot anbauen kann, kann man 30 Kilo Erdäpfel ernten. Und das ohne großen Arbeitsaufwand. Es gibt sogar Historiker, die die legendäre Streit- und Rauflust der Iren, die sich in vielen Erhebungen gegen ihre englischen Gutsherren belegen lässt, auf den dort sehr früh vorherrschenden Erdäpfelanbau zurückführen: Dessen lange, ruhige Wachstumsperioden, die wenig bäuerliche Pflege erforderten, hätten genug Spielraum für Aufständisches gelassen. Was aber auf alle Fälle historisch belegt ist: Die Kartoffeln wurden zum "Superfood" der Industrialisierung.
Der wirtschaftliche Wandel der Gründerzeit und die Schaffung von Fabriken hatten einerseits unentwegt nach neuen Arbeitskräften verlangt. Diese waren daher nicht mehr in der Landwirtschaft tätig, es zog sie ins freiere Leben, in die Stadt. Den Bauern kamen die Knechte und Mägde abhanden. Um die drastisch angewachsene Stadtbevölkerung zu ernähren, brauchte es andererseits wiederum ausreichend viele und ausreichend billige Lebensmittel. Für all das war die Kartoffel die Lösung: einfach zu ernten, ohne aufwendige Verarbeitung zu verspeisen, billig und immer reichlich vorhanden. Im ausgehenden 19. Jahrhundert aßen die Menschen in Europa im Jahr durchschnittlich 200 Kilo Erdäpfel - mehr als ein halbes Kilo pro Tag.
Wie wichtig die Kartoffeln geworden waren, sah man, als in den neu angelegten Monokulturen Pflanzenkrankheiten ausbrachen. Irland war deshalb nicht nur jenes europäische Land, in dem sich der Erdäpfelanbau als Erstes durchgesetzt hatte, sondern auch das, in dem die Abhängigkeit von der Feldfrucht besonders deutlich wurde. 1845 brach dort die Kartoffelfäule aus, eine Pilzerkrankung, die die gesamte Ernte vernichtete. Binnen zwei Jahren sind in Irland daraufhin eine Million Menschen verhungert, denn plötzlich fehlte das Hauptnahrungsmittel. Zwei weitere Millionen sind ausgewandert, insgesamt kam es innerhalb von nur vier Jahren zu einem Bevölkerungsrückgang von mehr als einem Drittel. Auf der Insel merkt man diesen Aderlass bis heute: Vor der großen Hungersnot von 1845 bis 1849 hatte Irland rund 8,5 Millionen Einwohner. Heute sind es knapp sieben Millionen.
Der Kartoffelkonsum spielt in Europa heute noch eine große Rolle, auch wenn es nicht mehr 200 Kilo Erdäpfel pro Person und Jahr sind: Die Österreicher liegen derzeit bei rund 60 Kilo jährlichem Verbrauch, das heißt, sie essen im Durchschnitt mehr als ein Kilo Erdäpfel in der Woche. Die Deutschen konsumieren wöchentlich noch einmal 30 Dekagramm mehr. Dass "Kartoffel" ein Spitzname für Deutsche ist, kann damit aber nicht belegt werden: In Großbritannien liegt der Erdäpfelkonsum mit 90 Kilo pro Person und Jahr...
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