1.
Thea verrenkte sich fast den Hals, um einen Blick auf das unwirkliche Blaugrün des Sees zu werfen, der weit unter ihnen in der Talmulde lag.
»Nur Geduld.« David lächelte vom Fahrersitz zu ihr herüber. »Wir sind ja gleich da. Dann kannst du drei Tage lang auf den See schauen.«
»Unfassbar, diese Farben!« Ungeachtet seiner Worte starrte Thea weiterhin aus dem Fenster. Niemals hätte sie gedacht, dass es so etwas wie Bergseen auf Mallorca gab. Zwar war das Gewässer, an dem sie die kommenden Tage verbringen würden, künstlichen Ursprungs - ein Stausee, für eine Insel, die mit der steigenden Zahl der Touristen und Golfplätze unter allsommerlicher Wasserknappheit litt -, doch fügte er sich so malerisch in die Bergwelt der Tramuntana ein, als wäre er schon immer da gewesen. Das Wasser schimmerte, ein Schwarm Vögel hob vom Ufer ab und die Sonne tauchte die Natur in dieses besondere Licht Mallorcas. Über allem thronte, mit seiner Radarkuppel von Weitem erkennbar, majestätisch der Puig Mayor, der höchste Berg Mallorcas.
Noch zwei, drei Kurven, dann bog David von der Straße ab und hielt vor einem Tor. »Gleich sind wir da«, erklärte er zufrieden.
Thea wurde immer neugieriger auf ihr Quartier. Sie wusste, dass David und sie einige Tage in den Bergen verbringen würden. Das allein hatte er ihr verraten, bevor er sie bei ihrer Freundin Becca abgeholt hatte, und das auch nur, damit sie die richtigen Sachen einpacken konnte. Also hatte sie im Gästezimmer ihrer Freundin vor allem dicke Kleidung in den Weekender gestopft, denn so kurz vor Ostern wurde es in den Höhen der Tramuntana nachts noch empfindlich kalt. Was er genau plante, hatte David ihr nicht verraten. Sogar ihr Ziel, den Cúber Stausee, kannte sie erst seit wenigen Minuten.
Thea sog gierig die neuen Eindrücke auf. Die schroffen Berge, den blauen Himmel, den unwirklichen Schimmer des Wassers. An den schattigen Bergflanken machte sie sogar weiße Flächen aus. Sie wusste, dass schneebedeckte Gipfel im mallorquinischen Winter nicht so selten waren, wie manch ein Inselbesucher dachte. Es allerdings mit eigenen Augen zu sehen war trotzdem ungewöhnlich.
»Was fasziniert dich gerade so?« Nachdem sie das Tor passiert und hinter sich wieder geschlossen hatten, holperten sie über einen befestigten, aber dennoch ausgesprochen unebenen Weg am Ufer des Cúber Stausees entlang.
»Da liegt Schnee.« Es war Thea ein Rätsel, wie David auf dieser Straße neben dem Fahren noch mitbekam, dass ihre Blicke an dem Schneefeld auf der gegenüberliegenden Seite des Sees klebten. Ein weiterer Beweis dafür, dass David ein ausgezeichneter Ermittler war, dem so leicht nichts entging.
»Deshalb habe ich dir ja geraten, warme Kleidung einzupacken«, erwiderte er nüchtern. »Hier oben ist es unglaublich schön, aber eben auch deutlich kälter als an der Küste. Immerhin sind die Berge um uns herum rund tausend Meter hoch. Der da«, er zeigte auf den Puig Mayor, »sogar über vierzehnhundert Meter. Aber weißt du, was das Beste an dieser Gegend ist?«
»Die Ruhe?«, schlug Thea vor.
»So ungefähr.« David schmunzelte. »Es ist so einsam, dass wir hier garantiert keine einzige Leiche finden werden. Diesmal wird uns keine Mordermittlung in die Quere kommen!«
Thea lachte und wünschte sich, er behielte recht. Dies war ihr dritter Aufenthalt auf Mallorca. Trotz ihrer gerade einmal achtundzwanzig Jahre hatte sie ein Sabbatical nehmen müssen, nachdem ihr Kollege vor ihren Augen niedergeschossen worden war, und nun hoffte sie, auf der Insel Abstand von ihrem Job als Ermittlerin in Deutschland zu gewinnen. Stattdessen schien es jedoch, als würde sie jedes Mal aufs Neue mit menschlichen Abgründen konfrontiert. Genau das, was sie hinter sich lassen wollte, verfolgte sie bis nach Paguera. In diesem hübschen Küstenort betrieb ihre beste Freundin Rebecca einen Laden für mallorquinische Spezialitäten, weshalb es Thea bei jedem Aufenthalt dorthin und meist auch in Beccas Gästezimmer zog.
Hoffentlich hatten sie diesmal wirklich alles Böse an der Küste zurückgelassen. Sie freute sich unbändig auf die vor ihr liegenden Tage mit David. Er war das einzig Gute ihres ersten Falls auf der Insel gewesen, ohne den sie den Sargento der Guardia Civil wohl niemals getroffen hätte.
Ein rascher Blick auf sein verschmitztes Lächeln setzte das gewohnte leichte Kribbeln in ihrem Magen frei. Ja, es wäre durchaus schade gewesen, ihm nicht zu begegnen. Dennoch hätte sie David lieber auf einem anderen Weg kennengelernt als im Rahmen einer Mordermittlung. Beim Salsa tanzen zum Beispiel, das konnte er beneidenswert gut. Das wäre wohl auch ihm lieber gewesen, denn der Sargento in ihm schätzte es überhaupt nicht, wenn sie sich in seine Arbeit einmischte - um es vorsichtig zu formulieren.
David hatte den Wagen währenddessen um den halben See gelenkt und brachte ihn neben einem kleinen Häuschen zum Stehen. »Das Refugi de Cúber. Wir sind da.«
Thea bemerkte die abwartende Anspannung in seinem Blick, wie sie auf die winzige Unterkunft reagieren würde. Dabei sah die Hütte mit der hölzernen Verandaeinfassung und den dicken Natursteinmauern so einladend aus, dass man sie sofort lieben musste.
»Es ist großartig!« Sie sprang aus dem Auto, öffnete das kleine Tor und betrat, gefolgt von David, das Grundstück. Unweit der Veranda entdeckte Thea eine Sitzgruppe aus Holz, bestehend aus Tisch und fest verbundenen Bänken, die sie an Picknicktische in Wandergebieten erinnerte, die sie aus Deutschland kannte. Von hier würde man abends einen traumhaften Blick über das Wasser haben.
Rechts von ihr erhob sich ein gemauerter Grill. Ihre Outdoor-Küche für die nächsten Tage.
Neugierig sah sie sich weiter um. Ein Bad im engeren Sinne gab es nicht. Hinter dem Haus befand sich eine Art Plastikcontainer mit Chemietoilette, das hatte David ihr vor der Abfahrt verraten, vielleicht, um ihr Gelegenheit zu geben, die ganze Sache doch noch abzusagen. Nie im Leben hätte Thea das getan.
Drei ungestörte Tage mit David klangen himmlisch. Außerdem hatte sie als Kind das Zelten geliebt und auch als Erwachsene darüber nachgedacht, es noch einmal mit einem Campingurlaub zu versuchen. Aber ihr Ex-Freund Ben war ebenso wenig bereit gewesen, in einem Zelt oder Wohnwagen zu übernachten, wie er einen Fuß auf die Insel der Sauftouristen, wie er Mallorca nannte, setzen wollte. Was ihm durch diese Engstirnigkeit alles entging, dachte Thea mitleidig, atmete tief die klare Bergluft ein und ließ ihren Blick weiterwandern.
Die Hütte lag direkt am Ufer des Stausees. Wenn dieser voll war, würde das türkisfarbene Wasser bis fast an die Grundstücksgrenze heranreichen. Da ein trockener Winter hinter ihnen lag, waren die Seen allerdings nur zu rund fünfzig Prozent gefüllt. Das hatte sie vor einigen Tagen in der Zeitung gelesen, in einem Artikel über die Wasserknappheit, die immer mehr Inselbewohnern Sorgen bereitete. Die sandigen Uferstreifen, die sich vor ihr ausdehnten, erschienen Thea wie ein stummes Mahnmal.
Trotzdem war dieses Fleckchen Erde atemberaubend schön, und sie sah sich bereits am Abend mit einem Glas Wein in der Hand und an David gekuschelt den Blick auf das Wasser und die Berge genießen. Ihre Hütte war die einzige menschliche Behausung weit und breit und außer einigen Schafen, die sich auch jetzt schon lautstark unterhielten, würde kein Geräusch die Stille stören, wenn die Wanderer abends erst das Gelände verlassen hätten. Hoffentlich würde es später nicht zu kalt werden. Sie spürte die kühle Brise, die über den See strich, während zwei, drei durchziehende Wolken ein spektakuläres Licht- und Schattenspiel auf dem Wasser erzeugten.
David trat hinter sie. »Gefällt es dir?«
»Ich liebe es!« Sie drehte sich strahlend zu ihm um. »Es ist wundervoll!«
»Ich sehe schon: Will ich in den nächsten Tagen deine Aufmerksamkeit haben, muss ich dir die Augen verbinden.« Er meinte es keineswegs vorwurfsvoll, sondern wirkte im Gegenteil ausgesprochen zufrieden. Sie wusste, wie stolz er auf seine Heimat war.
»Damit könntest du recht haben.« Sie seufzte glücklich. »Ich könnte ewig hier stehen. Die Berge sind so rau und wild und gleichzeitig so friedlich.« Es gab nur David und sie und diese spektakuläre Umgebung. Sie hätte sich gern an ihn geschmiegt und diesen Moment in Zweisamkeit ausgekostet, doch David bremste ihre romantischen Pläne unbeabsichtigt aus, indem er auf seinen Wagen deutete.
»Bevor du dich diesem Genuss hingibst, sollten wir trotzdem das Auto ausräumen und uns einrichten. Die Beleuchtung drinnen ist mit >spärlich< noch optimistisch beschrieben, sobald das Tageslicht weg ist.«
Wie das Äußere der Hütte Thea hatte vermuten lassen, erinnerte der einzige Raum im Innern tatsächlich an Campingurlaub. Ein Tisch mit zwei Bänken aus rustikalem Holz auf gefliestem Boden, eine steinerne Bank vor einem Kamin, ein weiterer kleiner Tisch, dazu ein Besen und ein Feuerlöscher stellten die komplette Einrichtung dar.
Thea warf einen skeptischen Blick auf...