Schweitzer Fachinformationen
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Einblicke in die Neurowissenschaften
Die "Biologie der geistigen Prozesse" gewinnt für Psychiatrie und Psychotherapie immer mehr an Bedeutung und wird auch auf die neuen Klassifikationssysteme DSM-V und ICD-11 Einfluss nehmen. In den Ausbildungscurricula wird der Anteil neurowissenschaftlicher Inhalte weiter steigen und damit den Weg zur Psychiatrie als klinische Neurowissenschaft ebnen. In diesem Buch werden "Highlights" neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse sowie die verfügbaren Methoden und Werkzeuge vorgestellt.
Spannend und innovativ
Aus dem Inhalt
Das Buch richtet sich an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachgebiete Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie sowie klinische Psychologie, Psychotherapie und sämtliche Medizinfachberufe.
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"Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit." Friedrich Schiller (in "Wallensteins Tod", 1799)
Sowohl die intrauterine Hirnentwicklung als auch die frühkindlichen Erfahrungen sind - neben den Genen - hoch relevant für die Reifung und Differenzierung der einzelnen Hirnareale und Funktionsnetze. Sehr wahrscheinlich haben diese Einflüsse eine große Bedeutung für die Entstehung psychischer Erkrankungen. Wie schon erwähnt, geht die neuronale Entwicklungstheorie der Schizophrenie davon aus, dass zumindest bei einem Teil der Betroffenen die Störung schon im vulnerablen zweiten Drittel der Schwangerschaft ihren Ursprung nimmt. Indirekte Hinweise dafür bei Patienten sind erweiterte innere Liquorräume ( ? Abb. 1.4) sowie eine vermehrte präfrontale Gyrifizierung (Harris et al. 2007) ? [189].
Die Hirnentwicklung beginnt spätestens mit der Entstehung der Neuralplatte ungefähr 3 Wochen nach der Vereinigung der Eizelle mit dem Spermium. Nach etwa 40 Tagen kann man am Neuralrohr 3 Auftreibungen erkennen (Prosencephalon, Mesencephalon, Thomencephalon), aus denen sich dann die weiteren Hirnteile (Großhirn, Zwischenhirn, Hirnstamm und Kleinhirn) entwickeln ( ? Abb. 2.1). Es folgt die Phase der Migration und Aggregation. Bei der Migration orientieren sich die Neuroblasten an den radialen Gliazellen ("Gliastraßen") auf ihrem Weg zum endgültigen Bestimmungsort. Bei der Aggregation am Ende der Migration passen sie sich in den Verband anderer Zellen ein (hier spielen Zelladhäsionsmoleküle eine wichtige Rolle), differenzieren zu reifen Neuronen und beginnen mit der synaptischen Vernetzung. Stresserfahrung in dieser frühen Phase wirkt sich nach neueren Untersuchungen stärker auf die Mikrostruktur des Hippokampus von männlichen als auf die von weiblichen Feten aus, was wohl zur Häufung von Hirnentwicklungsstörungen bei Jungen beiträgt (Mueller u. Bale 2008) ? [330]. Auch Nikotin-, Alhohol- und besonders Cannabiskonsum der Mutter in der frühen fetalen Phase haben nachhaltige Auswirkungen. So wurden bei chronischem Cannabiskonsum spezifische Entwicklungsveränderungen des Dopamin-2-Systems und damit der Vulnerabilität für Impulsivität, Psychose und Sucht gefunden (Jutras-Aswad et al. 2009) ? [232] oder bei Nikotinabusus Veränderungen in der Belohnungserwartung im Rewardsystem oder im Amygdalavolumen (Müller et al. 2013) ? [331].
Abb. 2.1 Entwicklung des Gehirns (Quelle: Schünke M, Schulte E, Schumacher U et al. Prometheus Kopf, Hals und Neuroanatomie. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2009) ? [406]. a: Embryo im 2.? Entwicklungsmonat. b: Fetus im 3.? Entwicklungsmonat. c: Fetus im 4.? Entwicklungsmonat. d: Fetus im 6.? Entwicklungsmonat.
Bei der normalen Entwicklung findet intrauterin schon ein selektiver Zelltod statt. Von den ca. 200 Mrd. Neuroblasten werden noch im Verlauf der Schwangerschaft etwa 80?-?90 Mrd. eliminiert. Dieser Vorgang trägt wesentlich zur hohen Funktionsfähigkeit des Nervensystems bei. Wenn der selektive Zelltod nicht richtig funktioniert bzw. embryonale Zellen nicht differenzieren und reifen, können sie einen Beitrag zur Entstehung von hirneigenen Tumoren (z.?B. Glioblastom, Medulloblastom) leisten. Migrationsstörungen können zu Heterotopien mit der Konsequenz von z.?B. epileptischen Anfällen führen.
Vergleicht man ein menschliches Gehirn in der 19.? Schwangerschaftswoche und kurz vor der Geburt in der 39.? Schwangerschaftswoche, wird die gewaltige Entwicklung des Organs in nur 20 Wochen deutlich ( ? Abb. 2.2). Zum Zeitpunkt der Geburt ist das Zerebellum, das immerhin 50% aller Nervenzellen enthält, noch relativ klein dimensioniert. Dies entspricht dem Status des Neugeborenen als "sensorischem Riesen" und "motorischem Zwerg".
Abb. 2.2 Gehirn in der 19.? Schwangerschaftswoche (links) und kurz vor der Geburt in der 39.? Schwangerschaftswoche (rechts).
Das Gehirn des Neugeborenen umfasst ca. 12% des Körpergewichts, ist aber für ca. 60% des gesamten Energieverbrauchs verantwortlich. Das Gehirn Erwachsener entspricht - je nach Adipositas - gerade noch 2% des Körpergewichts und verbraucht 20?-?25% der Körperenergie.
Zum Zeitpunkt der Geburt sind der Geruchs- und der Geschmackssinn (über Bulbus olfactorius, entorhinalen Kortex und Zunge) am weitesten entwickelt; alle anderen Sinne sind weniger reif. Allerdings ist auch das Hörsystem bereits intrauterin etwa im 8.?Schwangerschaftsmonat funktionstüchtig. Das ungeborene Kind registriert u.?a. die Darmgeräusche und den Herzschlag seiner Mutter sowie über Schallleitung das gesprochene Wort der Mutter, was im pränatalen Gehirn schon zu synaptischen Verankerungen und damit zu Plastizität und Lernen führt. Denkt man in diesem Zusammenhang an die Musiktherapie in der Psychiatrie, so sei bemerkt, dass archaische indische, afrikanische, australische und auch europäische Instrumente wie z.?B. Didgeridoo oder Alphorn Geräusche bzw. Klänge erzeugen, die der frühen Erfahrung des Gehirns intrauterin sehr nahe kommen. Über solche Klänge wird möglicherweise das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit angeregt, was sich auf den "emotionalen Apparat" auswirkt.
Prinzipien der Arbeit des Nervensystems
Die Arbeitsprinzipien des menschlichen Gehirns, das aus etwa 100 Mrd. Nervenzellen besteht, sind mit nichts aus der menschlichen Erfahrungswelt zu vergleichen. Die Utopisten aller Zeiten haben sich nichts annähernd Ebenbürtiges ausgedacht, von den tatsächlichen Regierungen ganz zu schweigen. Es klingt zu schön, um wahr zu sein:
Jede einzelne Nervenzelle ist "persönlich bescheiden und diszipliniert".
Jede einzelne Nervenzelle ist "hoch leistungsmotiviert und bereit zur Kompensation".
Jede einzelne Nervenzelle hat eine auf Erfahrung beruhende "Meinung" und bringt diese - gewichtet nach der Relevanz des Neurons für das zu lösende Problem - auch ein.
Die richtigen Nervenzellen sind an der richtigen Stelle.
Entwicklungsgestörte Zellen werden frühzeitig intrauterin aussortiert.
Ganz entscheidend: Die Auseinandersetzung mit der Umwelt bestimmt, "wohin die Reise geht".
Die Kommunikation zwischen den Nervenzellen ist eindeutig und kontinuierlich.
Jede Nervenzelle erreicht jede andere nach wenigen Umschaltstationen.
Schwellenwerte führen permanent zu Priorisierungen, d.?h., immer werden Entscheidungen getroffen und aus Voraussagefehlern wird sofort gelernt.
Diese einfachen Prinzipien erlauben eine erstaunlich effiziente Leistungsfähigkeit. Diese imponiert durch hohe Voraussagefähigkeit dessen, was in den nächsten Millisekunden eintreten wird und welche Handlungsschemata in diesem Falle am günstigsten für das "Überleben" sind. Nervenzellen "votieren" in jedem Moment, integrieren das Ergebnis in einen Populationsvektor, der auf Mehrheitsentscheidung beruht sowie nach Spezialisierung, Relevanz und gesammelter Erfahrung gewichtet wird.
Die Phase mit der höchsten Gehirnwachstumsgeschwindigkeit beginnt beim Menschen im letzten Drittel der Schwangerschaft und reicht etwa bis zum 4.?Lebensjahr. Die Dichte der für Plastizität und Lernen wichtigen Synapsen nimmt ab der Geburt exponentiell zu und fällt dann in der Pubertät wieder ab. Der höchste Grad an Vernetzung ist beim 4- bis 7-Jährigen erreicht. Er hat 3-mal mehr Synapsen als ein Erwachsener, bei dem die Synapsenzahl ganz langsam - pro Dekade um etwa 2% - abnimmt. Sigmund Freud (1856?-?1939) hatte wohl recht: In den ersten Lebensjahren geschieht im Gehirn etwas Außergewöhnliches. Die metabolische Rate des Gehirns steigt in den ersten Lebensjahren enorm an und fällt erst mit der Pubertät allmählich wieder ab. Das Gehirn des Kindes unterscheidet sich damit aus neurobiologischer Sicht fundamental vom Gehirn des Erwachsenen. Der Input, der auf ein Kind niederprasselt, trifft auf ein vollkommen unterschiedliches biologisches System.
Man kann - grob vereinfacht - folgende Phasen der Gehirnentwicklung unterscheiden:
die ersten 6 Monate
der 7.?-?13.?Monat
die Zeitspanne bis zum 2.?Lebensjahr
diejenige bis zum 4.?Lebensjahr
der Abschnitt vom 4.?-?6.?Lebensjahr
derjenige vom 6.?-?10.?Lebensjahr bzw. bis zum Beginn der Pubertät
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