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12. Mai 2021, Offenbach
Ich will nicht zur Mama!
Vorsichtig hebe ich meinen rechten Fuß über den Rand der Badewanne, tauche ihn von oben ganz langsam in das Wasser. Gerade so weit, dass die Zehen unter der Wasseroberfläche verschwinden. Ich halte kurz inne, meine Hände umklammern den Wannenrand, das Wasser ist so heiß, dass es einen brennenden Schmerz an meinen Zehen auslöst. Ich setze den ganzen Fuß hinein und ziehe den nächsten hinterher. Ich stehe starr in der Wanne, das Wasser reicht mir bis kurz unter die Knie. Wenn ich mich nicht bewege, das Wasser ganz stillsteht, ist die Hitze gerade so auszuhalten. Ich warte, gefühlt eine Ewigkeit, still und ohne Bewegung, bis sich mein Körper an die Temperatur gewöhnt hat. Dann lasse ich meinen gesamten Körper in die Wanne gleiten. Die ersten Sekunden sind immer die schönsten. Die wohlige Wärme, die mich umhüllt, gibt mir für kurze Zeit das Gefühl, dass es mir gut geht, dass die Welt in Ordnung ist. Doch bevor ich dieses Gefühl zu fassen kriege, ist es schon wieder verflogen. Ich strecke meine Hand zum Wasserhahn, der sich kühl anfühlt unter meinen Fingern, und lasse noch ein bisschen mehr von dem kochend heißen Wasser in die Wanne prasseln. Es dauert nicht lange, und ich spüre, wie sich die Hitze einen Weg zu meinen Beinen bahnt. Doch egal, wie oft ich diesen Vorgang wiederhole, wie sehr ich die Temperatur auch erhöhe, die Wärme kann nur meinen Körper, aber nicht mein Inneres erreichen.
Meine Gedanken kreisen wieder, in rasender Geschwindigkeit, immer und immer weiter, lauter und lauter. Sie intensivieren dabei den Schmerz mit jeder neuen Umdrehung. Bevor ich es vor Schwindel kaum ertrage, lege ich die Hände vor meine Augen. Ich halte kurz inne und lasse dann meine Finger mit großem Druck nach hinten durch mein Haar fahren. Laut atme ich ein und aus. Für einen kurzen Moment empfinde ich Wut. Wut auf mich selbst, aber vor allem auf mein beschissenes Leben. Ich bebe innerlich, die Unruhe ist kaum zu ertragen. »Warum?«, frage ich mich. Es ist wohl meine am häufigsten gestellte Frage. Ich könnte sie jeden Tag meines Lebens erneut stellen, wohl wissend, nie eine Antwort zu erhalten. Sie nimmt mir die Wut. Man könnte meinen, dass das gut wäre, aber das ist es nicht. Sie tauscht die Wut nur ein, gegen Trauer. Eine Trauer, deren Größe für mich kaum mehr zu messen ist. Der Kloß im Hals schmerzt unerträglich, er schnürt mir die Luft ab, und ich weiß, dass ich keine Chance mehr habe. Ich muss es zulassen und dieser Energie ihren Raum geben. Der Damm bricht, Tränen fließen meine Wangen herunter, finden ihren Weg weiter den Hals entlang, um sich schließlich im warmen Badewasser aufzulösen.
Ich weiß nicht, wie oft ich in meinem Leben schon in einer solchen Situation war, ich wünschte, ich könnte es noch zählen. Ich schäme mich für meine Gefühle, für all die negativen Gedanken, dafür, kein Glück zu empfinden, obwohl es mir doch eigentlich an nichts fehlt. Gleichzeitig weiß ich, dass auch meine negativen Empfindungen ihre Daseinsberechtigung haben. Ich weiß, dass dieser Zustand gerade temporär ist und morgen wieder besser sein kann, dass meine Gefühle nicht ich selbst sind, sondern kommen und gehen. Ich fühle mich allein gelassen mit alldem. Doch egal, wie viele Freunde mir ihre Hilfe anbieten, weiß ich doch: Es ist letztendlich mein Leben, und ich bin es, die aktiv werden muss, um etwas zu ändern. Doch wie viel Einfluss habe ich überhaupt auf mein Leben? Ich kann nichts daran ändern, alleinerziehend zu sein, es wird wohl kein Tag vergehen, an dem ich es mir nicht anders wünschte. Viel zu groß ist die Sehnsucht nach einer intakten Familie - bereits seit meiner frühen Kindheit. Ich wollte meinen Kindern das geben, was ich nicht hatte. Auf eine Weise habe ich meinen Sohn durch die Trennung von seinem Vater sicher vor vielem bewahrt, was mich als Kind gejagt hat. Trotzdem sieht mein Leben so anders aus, als ich es mir gewünscht, ja, als ich es mir einmal selbst versprochen habe. Bin ich schuld daran, dass es nicht so kam? Habe ich die falschen Entscheidungen getroffen? Nein. Ich bin meinem Herzen gefolgt, und mein Herz hat mich schließlich zu meinem größten Glück dieses Lebens geführt, zu meinem Sohn. Für nichts auf der Welt würde ich das anders haben wollen, und all das, was ich dafür in Kauf nehmen musste, würde ich immer und immer wieder in Kauf nehmen.
Die Frage ist nur: Was mache ich jetzt? Wie gestalte ich jetzt unser Leben? Soll es für immer so weitergehen? Emil von 9 bis 17 Uhr in der Kita, im Anschluss bis abends bei meiner Oma und ich währenddessen innerlich aufgefressen von der Sehnsucht nach ihm und dem Versuch, all die Rollen auszufüllen, die mir das Dasein mit vier parallelen Jobs abverlangt? Wie lange kann ich noch in der Schule die liebevolle Klassenlehrerin, in der Galerie die versierte Assistentin, in der Hochschule die angesehene Dozentin und bei meiner Doktormutter die begabte Doktorandin sein? Dann, wenn ich Emil abhole, die geduldige Mutter und zu guter Letzt noch die gründliche Hausfrau? Wie soll ein einziger Mensch all das schaffen? Nebenbei noch ein bisschen was als Fotografin dazuverdienen, sich ehrenamtlich im Kinderhospizverein engagieren, Sport machen, sich gesund ernähren, Freunde treffen, mich um meinen Vater und um meine Oma kümmern. Ist es nicht vollkommen selbstverständlich, dass ein Körper bei so einem Pensum irgendwann kapituliert, das Innere »Stopp« schreit und sich die mühsam einstudierten Rollen nicht mehr spielen lassen?
Wie gerne hätte ich diesen Vollzeitjob im Museum. Eine Stelle, bei der ich 100 Prozent geben kann, anstatt meine Kräfte auf tausend Baustellen aufzuteilen. Doch es bleibt offenbar dem Schicksal überlassen, ob ich je einen Weg zu diesem Leben finde. All meine Mühen scheinen völlig zwecklos zu sein. Ich kann nur noch auf ein Wunder hoffen. Doch was soll bis dahin passieren? Soll ich so weitermachen, Jahre unglücklich leben, die besten Jahre meines Sohnes verpassen, weil ich ihn kaum zu Gesicht bekomme, um irgendwann endlich den Job zu kriegen, der mich glücklich macht? Ist es das wert? Was ist, wenn dieser Traumjob nie kommt? Lohnt es sich zu kämpfen, oder gebe ich auf, wenn ich einen anderen Weg einschlage? Was ist mit meinem Traum vom Reisen und Schreiben? Kann ich, wenn ich all meine Träume aufgebe, trotzdem glücklich sein?
Es sind seit Tagen die immer gleichen Gedanken, die nie verschwinden, weil ich einfach keine Lösung finden kann. Seit Wochen, nein Monaten, hat sich die Spannung aufgestaut. Es war klar, dass das alles irgendwann nicht mehr zu bewältigen sein würde. Und trotzdem habe ich weitergemacht, was hatte ich schon für eine Wahl? Und jetzt bekomme ich die Quittung! Und nicht nur eine. Viele. Unmengen an Denkzetteln. Täglich werden es mehr. Die Galeriechefin kommuniziert nicht mehr wie sonst mit mir, ich weiß gar nicht mehr, was in der Galerie überhaupt vor sich geht. Kein Wunder, musste ich doch so oft in den letzten Wochen meinen Dienst absagen, weil Emil krank war. Die Schule nimmt mich immer mehr ein, mein Leben dreht sich nur noch um die Schüler:innen, ihre Eltern und die Kolleg:innen, und dabei habe ich gar keine Kapazitäten, um all die Konflikte und Probleme zu lösen. In meinem Postfach waren heute früh gleich zwei Absagen von Museen auf meine Bewerbungen und ließen all die Hoffnung auf ein besseres Leben verpuffen. Und zu allem Übel wurde heute auch noch die Präsentation meiner Doktorarbeit abgesagt. Die Professorin fand mein Exposé nicht gut genug, was ich ihr nicht verübeln kann, habe ich es doch mitten in der Nacht geschrieben.
Bevor ich losfuhr, um Emil aus der Kita abzuholen, öffnete ich dann noch einen Brief von meinem Anwalt und erfuhr, dass der Unfallgegner und dessen Versicherung sich weigern, für den Schaden aufzukommen. Dieser Unfall vor fünf Monaten, bei dem mir jemand die Tür abgefahren hatte, während ich Emil anschnallte, hatte mir gerade noch gefehlt. Seitdem fahre ich täglich 30 Kilometer mit dem Fahrrad von der Kita zu meinen Jobs, wodurch noch weniger Zeit für mich und Emil bleibt. Der Anwalt fragte, ob wir vor Gericht gehen wollen. Ich dachte nur: Ich habe keine Ahnung, mir ist das zu viel. Alles entgleitet mir. Mein ganzes Leben.
Als ich dann gemeinsam mit Oma in der Kita stand, kochte ich innerlich vor Wut, und meine Anspannung war auf einem neuen Höhepunkt. Emil war nicht zu mir gerannt, wie er es sonst für gewöhnlich tat, wenn er als Letzter abgeholt wurde. Er kam dann überhaupt nur widerwillig in meine Nähe. Und schließlich weigerte er sich, mit mir mitzugehen. Er schrie sich die Seele aus dem Leib und rannte immer wieder vor mir weg in die Arme seiner Erzieherin. Er hasst mich, dachte ich. Ich hatte Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. Nur unter größter Anstrengung schaffte ich es, ihn in das Auto von Oma zu setzen und anzuschnallen. Die ganze Fahrt über schrie er: »Ich will nicht zur Mama!«, so dass Oma anbot, ihn mit zu sich zu nehmen. Ich verneinte. Ich dachte nur: Das geht nicht, er ist doch der Einzige, der mir gerade überhaupt noch helfen kann. Ich brauche seine Liebe! Ich fühlte mich in diesem Augenblick, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegreißen. Außerdem wollte ich Emil in diesem Zustand nicht gehen lassen. Doch sein Schreien wurde lauter und lauter, je mehr wir uns der Wohnung näherten. Meine Augen füllten sich bereits mit Tränen, die Schreie drangen geradewegs in mein Herz. Dann entschied Oma, dass er mit zu ihr kommt. Gegen meinen Willen. Sie hielt vor unserem Haus an. Rasend vor Wut stieg ich aus und rief:
»Dann nimm ihn halt zu dir, behalt ihn doch gleich, wenn hier eh niemand auf mich hört und ich so scheiße...
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