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Heute spaziert Trotta plötzlich wieder aus dem Bücherregal und baut sich vor mir auf. Ob ich mich immer so bitten lasse, schnauzt er mich an. Ich erinnere das Gespräch vor drei Wochen, druckse ein wenig herum, hätte momentan einfach unerwartet viel zu tun und . - Das interessiere ihn nicht, unterbricht er mich. Er wolle nun endlich vor seinen Schöpfer treten. Wir müssten erst die Flüge buchen, entgegne ich, außerdem . - Das habe er längst getan, erwidert Trotta knapp.
"Das Kennzeichen des Aristokraten ist vor allem anderen der Gleichmut", dieser Satz fällt mir ein, während Trotta mich barsch auffordert, ihm zu folgen. Etwas zögerlich komme ich seiner Aufforderung nach, ahne zugleich, dass der Weg, auf den er mich schicken will, in die gleiche Richtung führt wie jener, auf dem ich mich seit mehr als einem halben Jahr befinde. In Trottas Blick spiegelt sich unversehens das Umherirrende und Strauchelnde, zwischen Auflehnung, Erstaunen, Demut und Bestürzung Pendelnde, das all jene Menschen eint, die ich in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren in England und Israel kennenlernen durfte. Ich war mit einem Projektteam unterwegs gewesen, um die letzten noch lebenden Zeitzeugen aufzusuchen, die 1938 aus Innsbruck vertrieben worden waren. Die Recherche hatte uns nach London, Manchester, Plymouth, Haifa, Tel Aviv und Netanja geführt, und stets hatte ich eines der Bücher von Joseph Roth in meinem Reisegepäck.
Heimat und deren Verlust, die Tage ausgefüllt mit Begegnungen, die Abende und Nächte mit Roth'schen Sätzen. Trotta zieht mich immer tiefer hinein in einen Blick, der zur Klammer meiner Gedanken wird, schon steige ich die Kapuzinergruft hinab und komme an im Paris des Jahres 1939.
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Paris, 6. Arrondissement, auf dem Boulevard Saint-Germain, Trotta hat es eilig, ich kann ihm kaum folgen. Vorbei am Café de Flore, wo sich die Pariser Avantgarde des 20. Jahrhunderts getroffen hat. Charles Maurras soll in den 20er-Jahren über dem Café gewohnt und gearbeitet haben, keuche ich, Trotta rümpft entrüstet die Nase. Rasch will ich davon ablenken, gerade einen der aktivsten Anti-Dreyfusards und Vordenker des nationalistischen Frankreich genannt zu haben, und schaue deshalb auf die gegenüberliegende Straßenseite zum Les Deux Magots: Hier gingen Verlaine, Rimbaud und Mallarmé ein und aus, Breton, André Gide, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Auch Hemingway, Camus und Picasso seien oft in diesem Café zu Gast gewesen, füge ich hinzu. Trotta seufzt, er packt mich am Handgelenk, zieht mich weiter.
Rechts ab in die Rue de Seine, aus dem Maison Mulot tritt eine Gruppe von Touristen. The filling was wonderful and creamy, höre ich eine Dame sagen, und bedeutungsschwer fügt ein Herr mit Baseballmütze hinzu: I tried lots of flavored macarons in Paris - hands down, the best ones were at Maison Mulot.
Gerne würde ich mich auch davon überzeugen, doch Trotta - immer zielstrebiger wird sein Schritt, wir erreichen die Rue de Tournon, steuern geradewegs auf den Jardin du Luxembourg zu. Kurz vor dem Eingang zum ehemaligen Schlosspark bleibt Trotta unvermittelt stehen, er lässt meine Hand los und streckt den Arm aus. Mein Blick gleitet von seiner Schulter zum Ellbogen, dann den Unterarm entlang zur Fingerspitze: Sie zeigt auf das Café Le Tournon.
Ich betrachte die Fassade des Gebäudes, ein schmaler Bau, der aufgrund der geringeren Anzahl an Etagen im Häuserensemble auffällt. Auf Höhe des ersten Stockwerks eine Gedenktafel: ICI A RÉSIDÉ JOSEPH ROTH, lese ich, HOMMAGE DE SES AMIS AUTRICHIENS.
Über dem Tournon befanden sich einst die Räumlichkeiten des Hôtel de la Poste, das zwölf Zimmer und ein einziges Bad zählte. Das Haus wurde von Madame Alazard geführt, a darkly handsome French-woman who runs things like a tough but affectionate drill sergeant, so wird sie in einer Ausgabe der Zeitschrift Ebony beschrieben. Der Artikel handelt von den Pariser Jahren des Schriftstellers Richard Wright, der mit seinem 1954 erschienenen Buch Black Power das Schlagwort der 60er-Jahre prägte. Ein weiterer Satz aus dem Artikel ist mir in Erinnerung geblieben: Madame Alazard is aware of all the romances and the scandals, the hopes and blasted hopes.
An Hoffnungen, und noch so verdammten, litt Roth keinen Mangel und für einen Skandal war er immer zu haben. Einmal geriet er bei der Lektüre eines Manuskripts wohl derart in Rage, dass er mit dem Text des Kollegen auf der Toilette verschwand, um ihn dort zu zerreißen und hinunterzuspülen. Doch das Unterfangen misslang, ein Handwerker musste geholt werden, der das verstopfte Klo schnellstmöglich wieder funktionstüchtig machte, damit der Bistrobetrieb aufrechterhalten werden konnte. Dennoch wurde Roth von Alazard geliebt und bemuttert, während ihr Mann, der Patron, den Emigranten hasste, ihn jedoch als großen Konsumenten sowie Zugkraft für weitere Flüchtlinge tolerierte, bescherten sie dem Hotel und Bistro doch Umsätze.
Roths Tisch im Bistro soll ein offenes Haus gewesen sein, hier traf er Freunde, Bekannte und Verhandlungspartner, in seiner 'Republik Tournon', wie er diesen Teil des Quartier Latin nannte.
Vor dem Café ein paar Tische und Stühle.
"Ich saß neben ihm draußen vor dem Bistro und sah zu, wie sie drüben an der anderen Seite der Terrasse die letzten Reste des Hôtel Foyot demolierten. Als er mit dem Schreiben fertig war, las er mir den Aufsatz vor", hält Soma Morgenstern in seinen Erinnerungen fest. Ein Kind der Habsburger Monarchie, aus dem Königreich Galizien und Lodomerien stammend, Journalist und Schriftsteller und aufgrund der jüdischen Herkunft in die Emigration getrieben, verband ihn mit Roth eine fast dreißigjährige, sehr wechselvolle Freundschaft, die vor allem durch Roths Trunksucht in den letzten Monaten seines Pariser Exils auf harte Proben gestellt wurde.
Ich versuche, mir die beiden vorzustellen, und wie Roth seinem Freund nun die Zeilen vorliest:
"Gegenüber dem Bistro, in dem ich den ganzen Tag sitze, wird jetzt ein altes Haus abgerissen, ein Hotel, in dem ich sechzehn Jahre gewohnt habe." Ich schaue kurz auf. "Vorgestern abend stand noch eine Mauer da, die rückwärtige, und erwartete ihre letzte Nacht." Hier also stand es, das Foyot. "Jetzt sitze ich gegenüber dem leeren Platz und höre die Stunden rinnen. Man verliert eine Heimat nach der anderen, sage ich mir. Hier sitze ich am Wanderstab. Die Füße sind wund, das Herz ist müde, die Augen sind trocken. Das Elend hockt sich neben mich, wird immer sanfter und größer, der Schmerz bleibt stehen, wird gewaltig und gütig, der Schrecken schmettert heran und kann nicht mehr schrecken. Und dies ist eben das Trostlose."
Der Platz ist jetzt asphaltiert, ein breites Trottoir angelegt. Ein paar Fahrräder lehnen an den Laternen, ein Zeitungskiosk, auch ein Wartehäuschen für den Bus sehe ich und Telefonzellen mit abgerissenen Hörern.
Gerade die letzte gemeinsame Zeit ist es, der Morgenstern in seinen Memoiren viel Raum widmet. Dabei schafft er es, die innere Zerrissenheit seines Freundes und zugleich die vieler Vertriebener in unaufgeregtem Ton darzustellen. Ihm selbst, der am Tag der Annexion Österreichs nach Paris floh, gelingt 1941 über Marseille, Casablanca und Lissabon die Flucht nach New York. Hier bleibt er bis zu seinem Tod 1976, weder von österreichischer Seite zur Heimkehr aufgefordert noch willens, in seine Heimat zurückzukehren.
Die Begegnungen in England und Israel kommen mir in den Sinn. Für die aus Innsbruck Vertriebenen gab es ebenfalls kein Zurück. Wohin auch? Ließ sich das Genommene denn überhaupt noch Heimat nennen?
Ziellos streune ich durch das 6. Arrondissement, das seinen Namen der ältesten Kirche von Paris verdankt, Saint-Germain-des-Prés. Mehr oder weniger als Fortsetzung des Quartier Latin und am Rive Gauche gelegen, zieht es sich von der Seine bis zum geschäftigen Boulevard de Montparnasse. Seit vielen Jahrzehnten gilt es als Viertel der Kunst, Politik und Wissenschaft; im Palais du Luxembourg tagt der französische Senat, der Jardin du Luxembourg ist beliebter Treffpunkt für Touristen, aber auch für Studenten, nicht zuletzt aufgrund der Nähe zur Sorbonne.
Durch die Rue de Condé, die Rue Racine, kurz auf den Boulevard Saint-Michel, dann ab in die Rue de l'Ecole de Médecine bis zur Pâtisserie Viennoise, depuis 1928 steht auf der Auslage, ich erblicke in der Vitrine Sachertorten, Apfelstrudel und Wiener Kipferl.
Straßenbezeichnungen lassen sich auswendig lernen, ganze Stadtviertel kann man in sich abspeichern, aber wird man deshalb in ihnen heimisch? Reicht es, vom Bäcker wiedererkannt zu werden, stellt sich ein Heimatgefühl ein, wenn einem die Kellnerin unaufgefordert das obligate Getränk serviert?
Zweifelsohne ist es möglich, einen Ort zu lieben, solange einem die Rückkehr an jenen, mit dem man ihn vergleicht, nicht verwehrt wird. Und so konnte Joseph Roth für mich durchaus nachvollziehbar in einem Brief 1925 aus Paris formulieren: "Wer noch nicht hier war, ist nur ein halber Mensch" und "ich könnte weinen, wenn ich über die Seine-Brücke gehe, zum ersten Mal bin ich erschüttert von Häusern und Straßen, mit allem bin ich heimisch."
Auch ich liebe Paris, London ist mir nicht nur eine Reise wert und an Tel Aviv schätze ich mehr als nur das Nachtleben. Blicke ich aufs Meer, werde ich geradezu euphorisch, egal, ob in Plymouth, Netanja oder Haifa, ich...
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