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Wie ich die hohe Kunst des zustimmenden Brummens lernte, warum ich zweieinhalb Stunden wortlos neben zwei Pilgerinnen herlief, und was die Kröten von Kyoto und Osaka damit zu tun haben
Provinz Kochi, Tempel 24-39
I go forwards, you go backwards, and somewhere we will meet.
Radiohead, »Electioneering«
Auf winzigen, mit Glitzersternen bestäubten Sandalen trippelte die Braut durch den Garten des 31. Tempels. Die goldenen Fäden ihres kimonoähnlichen Kleides formten Blumen und Inschriften. Sie fingen das Sonnenlicht auf und warfen es in alle Ecken des parkähnlichen Areals. Der Ort war wie geschaffen für ein Hochzeitspaar: Hoch oberhalb der Provinzhauptstadt Kochi lehnt sich zwischen dem Botanischen Garten und dem Wasser der »Urado Bay« ein besonders vorzeigbarer Tempel an die Spitze eines Hügels. Eine steile Treppe führt hinauf zum höchsten Punkt, von wo aus sich der Blick hinunter auf die Bucht und die dahinter liegende Stadt weitet. Etwas weiter unten schließt sich ein Garten an, der den Besucher an lustwandelnde Geistesgrößen aus vergangenen Jahrhunderten denken lässt. An einem solchen Ort Mönch zu sein dürfte die Trübsal des damit verbundenen Zölibats etwas mildern.
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Das Gesicht der Frau war übertrieben weiß geschminkt, als hätte man es mit Chlor gebleicht. Der Mann neben ihr trug spitz zulaufende Schuhe, die ihm einige Nummern zu klein waren. Sein weites hellgelbes Gewand blähte sich bei jeder Drehung seines Körpers wie ein Segel im aufkommenden Wind. Sichtlich bemüht versuchte das Pärchen, dem Anlass gerecht zu werden und gemessen durch den Garten des Tempels zu schreiten. Ihr Schuhwerk gestattete ihnen indessen lediglich Trappelschritte. Dadurch wirkte die ganze Szene, als hätten sich zwei Pinguine verirrt und seien statt auf einer antarktischen Scholle auf Shikoku gelandet.
Bei aller bis kurz vor die Lächerlichkeit gesteigerter Exotik kam mir an dem Pärchen etwas bekannt vor. Ich hatte das Gefühl, diese beiden schon einmal gesehen zu haben. Wie konnte das sein?
Das Paar vollführte jetzt die mir inzwischen vertrauten Rituale. Der Bräutigam schlug die Glocke, dann rezitierten er und seine Anvertraute das Herz-Sutra. Beide verbeugten sich wieder und wieder, als hinge ihr Leben davon ab. Nach der Zeremonie blieb die Braut stehen und sah sich um. Ein Grüppchen hatte sich ihr gegenüber formiert und fotografierte die Vermählten unnachgiebig. Ein älterer Mann, vermutlich der Vater des Mädchens, nickte wohlwollend. Die Braut blickte indessen ernst umher. Unsicher fuhr sie sich mehrmals mit der rechten Hand durch die Haare, die sich an ihren Rücken schmiegten wie eine zweite Haut. Erst als sie mich sah, entspannte sich die junge Frau. Sie lächelte verschmitzt, wie nur jemand lächelt, der um ein Geheimnis weiß. Sofort darauf drehte sie sich wieder zu dem Grüppchen hin und fiel so gekonnt zurück in ihre Rolle der spirituell kurz vor der Erleuchtung stehenden Braut zurück, dass niemand, nicht einmal ihre Mutter oder ihr Vater - ihr Ehemann natürlich schon gar nicht - bemerkt hatte, dass sie mich tatsächlich gegrüßt hatte: mich, den herbeigeschneiten Alien, den Außenseiter, den Freak aus Europa!
Auch ich lächelte jetzt. Im selben Moment, in dem sich die Braut entspannt hatte, war mir eingefallen, wo ich sie und den Bräutigam schon einmal gesehen hatte. Es war kurz hinter Dainichiji gewesen, Tempel Nummer 28, auch dieser in privilegierter Lage oberhalb des Sträßchens von Konan nach Kami und direkt neben dem Tierpark von Kochi.
Bis dahin hatte der Weg lange Zeit am Meeres- rand entlanggeführt, ohne dass ein Tempel die Zeit portioniert hätte. Spätestens hier draußen, fernab von Tokushima und Kochi, musste man seinen Rhythmus gefunden haben. Tatsächlich war ich ganz bei mir; abseits städtischer Zerstreuungen horchte ich in mich hinein. Dann führte unvermittelt dieses steile Sträßchen rechts hinauf. Ich ging die Westflanke eines bewaldeten Hügels entlang, bis ich zu einer unscheinbaren Treppe gelangte. An deren Ende erhob sich der gesuchte Tempel: der erste seit knapp 80 Kilometern. Als ich, um einen Stempel reicher, weiterzog, wähnte ich mich am Gipfel meiner spirituellen Vollkommenheit, nur noch ein paar Schritte von der Erleuchtung entfernt. Aufmunternd lächelte die Morgensonne mir zu - so kam es mir zumindest vor.
Und dann das: Rechterhand des Sträßchens drehte plötzlich jemand Musik auf. Und was für welche! Mausgleich piepsten Sängerinnen gegen wuchtige Bässe an, unterstützt von Synthesizern, die gefällige Melodien ausspuckten und alles um sie herum in Watte verpackten. Das zugehörige Schlagzeug wollte offensichtlich die Vögel im Umkreis von mehreren Kilometern vom Himmel holen. All das passte kein bisschen zusammen. Die Lautsprecher knirschten, die Gäste johlten, Gläser wurden emporgestreckt - und mittendrin in diesem ganzen Chaos drehte sich eine Braut ausgelassen auf ihren Absätzen um die eigene Achse. Sie war es, die ganz bei sich war, nicht ich! Ihre Hände schrieben Achten in die Luft, ihr Lächeln umarmte die Welt, und ihre Augen, zu Schlitzen verengt, sandten Einladungen aus. Auch der Bräutigam tanzte elegant - zumindest verglichen mit meiner Kunstfertigkeit auf diesem Gebiet. Neben den fließenden und doch taktgenauen Bewegungen seiner Zukünftigen sah er dennoch aus, aus stapfte er mit schweren Stiefeln durch ein Moor.
Braut und Bräutigam waren abendländisch gekleidet. Die Frau hatte ein cremeweißes Kleid mit Schleppe an, ihr Mann eine Art Frack, wie ihn Pianisten im vorigen Jahrhundert getragen haben mögen. Das war vermutlich ironisch gemeint. Vielleicht war auch die gesamte Zeremonie ironisch gemeint, so schrill übertrieben die beiden die christliche Symbolik. Als folgten sie Bildern, die sie im Fernsehen gesehen hatten, hoben sie in der Pause zwischen zwei Liedern die Augen zum Himmel. Dann warfen alle Anwesenden Blumen auf das Paar, fünf Fotografen sprangen herbei und drückten auf die Auslöser, dass man Angst um die Kameras bekam. Ein Pfarrer war wohl auch dabei; zumindest sprang von Zeit zu Zeit ein Mann herbei und schwenkte ein silbernes Kreuz. So ging es eine Weile, bis eine kleine unscheinbare Frau zum Mikrofon griff und mit einer Stimme, die zwei Oktaven über dem Erträglichen lag, Anfeuerungen auf die Menge regnen ließ. Gekreische, Gejohle und wildes Klatschen waren die Folge, ehe das nächste »Lied« loswummerte und alle erneut zu tanzen begannen.
Ich weiß nicht, wie lange ich dieser ungewohnten Mischung aus Gottesdienst und Rockkonzert zusah. Es muss eine ganze Weile gewesen sein. Vielleicht stand mir das Staunen ins Gesicht geschrieben, vielleicht hatte ich für eine gewisse Zeit vergessen, den Mund zu schließen. Irgendwann drehte sich die Braut jedenfalls um und lächelte mir zu. »So läuft das hier eben«, schien sie sagen zu wollen. Ich merkte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Meine Erstarrung löste sich; automatisch verbeugte ich mich, was in diesem Land bei den meisten Gelegenheiten angebracht ist, dann zog ich los, durch das Städtchen Kami hindurch und weiter, den Kokubu River entlang westwärts, bis ich nahe bei Kochi den Botanischen Garten Makino erreichte. Kurz darauf betrat ich Chikurinji, den 31. Tempel.
Vieles hatte ich dort erwartet. Dass ich auf skurrile Typen treffen könnte, war mir klar. Dass jedoch das Brautpaar von heute Morgen samt der Gästeschar, neu eingekleidet und scheinbar innerlich verwandelt, mit übertrieben anmutender Ernsthaftigkeit buddhistische Heilsrituale vollführen würde, das versetzte mich zum zweiten Mal am heutigen Tag in heftiges Erstaunen. Das erste Mal hatte mich die Ausgelassenheit des Brautpaars angesichts eines christlichen Sakraments überrascht, jetzt war es die Selbstverständlichkeit, mit der die beiden anscheinend zum Buddhismus konvertiert waren.
War es das Spiel mit den Rollen, das sie antrieb? Verkleideten sie sich einfach gern und eiferten sie möglichst detailgetreu den Bildern nach, die sie von Comics und Internetvideos her kannten? Was war echt an ihrem Gebaren, was nur nachgemacht? Waren sie am Ende Schauspieler, suchten sie nach dem geeigneten Ort für einen Film über Religionen? Nein, dazu waren sie zu ernsthaft bei der Sache, sahen sich zu lange gegenseitig in die Augen, und auch die Geschenke, die ich heute Vormittag auf einem Gartentisch hatte liegen sehen, waren echt gewesen.
Benutzte das Brautpaar christliche Symbole und buddhistische Tempel als Kulisse? Waren vielleicht die Eltern der Braut Buddhisten und die des Bräutigams Christen und wollte man es allen recht machen? Ging es also nur um die Show, war es so einfach?
Immer schon hatte ich mich gefragt, ob Schauspieler, von denen man erwartete, dass sie voll und ganz in ihren Rollen aufgehen, über einen besonders starken Kern verfügen, der unwandelbar ihnen gehört, oder im Gegenteil einen besonders biegsamen Charakter aufweisen. Sollte ich mal einen von ihnen treffen, werde ich ihn fragen. Vermutlich wird...
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