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2021 veröffentlichte der israelisch-amerikanische Historiker Omer Bartov seine grundlegende Anatomie eines Genozids über die Zerstörung des jüdischen Lebens in der Vielvölkerstadt Buczacz 1942/43 mit über 10.000 vor aller Augen ermordeten Jüdinnen und Juden. Die Mutter des Autors konnte mit ihrer Familie noch rechtzeitig ins damalige britische Palästina fliehen. Kurz vor ihrem Tod berichtete sie dem Sohn über ihre Heimatstadt, »vom Leben und Sterben einer Stadt«, wie es im Untertitel heißt. Die Geschichte des Genozids ist zugleich Lebensgeschichte. Was der Historiker Omer Bartov erforscht, hat unmittelbar mit ihm, seiner Familie, mit seinem Heimatland Israel zu tun.
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Da die englische Originalausgabe dieses Buchs zwei Monate vor dem Angriff der Hamas auf Israel erschienen ist, möchte ich in diesem Vorwort auf die aktuelle Entwicklung und einige Ursachen und Auswirkungen des Geschehens eingehen.
Der Angriff am 7. Oktober 2023 war für die israelische Gesellschaft ein immenser Schock, von dem sie sich bis jetzt nicht erholt hat. Erstmals seit 1948 verlor Israel viele Stunden lang die Kontrolle über einen Teil seines Territoriums. Die israelischen Streitkräfte (IDF, Israeli Defense Forces) konnten nicht verhindern, dass fast tausend Zivilisten - oft auf denkbar grausamste Art - massakriert, mehrere hundert Soldaten getötet und gut 250 Menschen, darunter zahlreiche Kinder, als Geiseln genommen wurden. Das Gefühl, vom Staat im Stich gelassen worden zu sein, und der nachhaltige Verlust des Sicherheitsgefühls sitzen tief. Zehntausende israelische Bürger mussten ihr Zuhause in der Nähe des Gazastreifens oder der libanesischen Grenze verlassen.
Nicht weniger schockierend war Israels Antwort auf das Massaker. Bis heute sind über 40000 Menschen im Gazastreifen getötet worden, überwiegend Zivilisten, davon mehr als die Hälfte im Kindesalter. Zudem haben die IDF systematisch Wohnungen, Krankenhäuser, Universitäten, Schulen, Museen, Gebetsstätten und Infrastruktur des Gazastreifens zerstört und die mehr als zwei Millionen Menschen, die dort wohnen, wiederholt vertrieben. Dies hat zu einer großen humanitären Katastrophe geführt. Auch zwischen Israel und der im Libanon ansässigen schiitischen Hisbollah-Miliz haben diese Ereignisse eine Gewalteskalation in Gang gesetzt, deren Folgen im gegenwärtigen Augenblick nicht absehbar sind. Nachdem der israelische Premier Benjamin Netanjahu am Ziel eines »absoluten Sieges« im Gazastreifen festhält, 10deutet alles darauf hin, dass der Krieg auf absehbare Zukunft fortdauern und die ganze Region womöglich in ein noch größeres Chaos stürzen wird.
In Deutschland hat dieser Konflikt im Laufe des vergangenen Jahres intensive Diskussionen ausgelöst. Viele der dort verbreiteten impliziten Vorannahmen über Israel, den Zionismus und die Palästinenser sind dabei noch einmal kritisch beleuchtet worden. Zeitweise schien es in der deutschen Debatte mehr um deutsche Empfindlichkeiten und Wahrnehmungen zu gehen als um die Ereignisse im Nahen Osten. Oft war die Sorge zu spüren, Kritik am Vorgehen Israels könne die Geister der nationalsozialistischen Vergangenheit wachrufen. Dies erklärt zu einem großen Teil, warum Meinungen, die sich gegen Israel oder den Zionismus richteten, oder auch einfach nur scharfe Kritik an konkreten Methoden und Handlungsweisen übten, von so vielen Angehörigen der intellektuellen, wissenschaftlichen und politischen Elite immer wieder als antisemitisch dargestellt wurden - insbesondere, wenn solche Äußerungen von Angehörigen arabischer und muslimischer Zuwanderergruppen in Deutschland kamen.
Die deutsche Debatte zu Israel hat somit einige drängende Fragen aufgeworfen, die darauf zielen, genauer zu prüfen, ob und inwieweit die in den Jahrzehnten der Holocaust-»Bewältigung« entwickelte deutsche Innen- und Außenpolitik revidiert werden muss. Hat beispielsweise das Insistieren darauf, dass die neuen Migranten sich die deutsche Verantwortung für vergangenes Unrecht gegen die Juden zu eigen machen, die gesellschaftlichen Integrationsanstrengungen erschwert? Und hat die Position von Ex-Bundeskanzlerin Merkel, die die vorbehaltlose Unterstützung des Staates Israel zur deutschen Staatsräson erklärte, das Land womöglich davon abgehalten, seine Verpflichtung zur Durchsetzung des 11humanitären Völkerrechts zu erfüllen, das nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust eingeführt wurde?
Auf diese komplexen Fragen kann ich hier natürlich keine Antwort geben. Ich spreche sie nur an, um deutlich zu machen, dass das vorliegende Buch für das deutsche Publikum seit dem Erscheinen der Originalausgabe vor über einem Jahr womöglich noch an Relevanz gewonnen hat. Es stellt den polemischen Auseinandersetzungen über die gegenwärtige Krise, die oft genug von mangelnder Kenntnis zeugen, vertieftes historisches Hintergrundwissen zur Seite. In diesem Zusammenhang sollte ich allerdings erwähnen, dass auch ich mich veranlasst gesehen habe, den Fortgang der Katastrophe in Israel und Gaza genau zu verfolgen und zu kommentieren. Als ich mein Geburtsland im Juni 2024 besuchte, war ich ebenso bestürzt über die anhaltende Traumatisierung unter den jüdischen Israelis wie über ihre außergewöhnliche Gleichgültigkeit angesichts der Zehntausenden palästinensischen Zivilisten, die von den IDF getötet worden waren. Beide Haltungen lassen sich, wie dieses Buch zeigt, bis zum Krieg von 1948 und der Nakba - der Vertreibung von 750000 Palästinensern aus dem Gebiet des heutigen Staates Israel - zurückverfolgen. Trotzdem übertrafen die Tiefe und das Ausmaß des kollektiven jüdischen Schmerzes und der bewussten und offenkundigen Leugnung palästinensischen Leids alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Diese Erfahrung war zutiefst verstörend.
Damit soll jedoch keineswegs die Verantwortung der Hamas-Führung für das Leid der Menschen in Gaza und das Massaker vom 7. Oktober kleingeredet werden. Die Hamas ist eine gewalttätige Terrororganisation, deren Ziel - jedenfalls so, wie es in der Charta von 1988 formuliert ist - darin besteht, den Staat Israel durch einen fundamentalistischen 12islamischen Staat zu ersetzen. In dieser Idee lassen sich gewisse Entsprechungen zwischen der Hamas-Ideologie und den Zielen der nationalreligiösen Führung in Israel erkennen, die einen halachischen (theokratischen) Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer etablieren möchte. Hinzu kommt, dass die Hamas als Organisation und die breite Unterstützung, die sie erlangt hat, unleugbar das Ergebnis der jahrzehntelangen Besetzung durch Israel sind. Wenn man Millionen Menschen in einen schmalen, verarmten Landstreifen sperrt, wie in Gaza, oder weitere Millionen unter einer brutalen und ausbeuterischen Okkupation leben lässt wie im Westjordanland, ist zwangsläufig damit zu rechnen, dass sie Widerstand leisten werden. Die Erfahrung vergangener Kolonialregime hat uns gelehrt, dass Unterdrückung und dehumanisierende Herrschaft gewalttätige und erbarmungslose Gegenwehr hervorbringt und legitimiert. Beim gegenwärtigen Konflikt gibt es keine symmetrischen Machtverhältnisse und wenig Grund, Frieden zu erwarten. Solange Besatzung und Unterdrückung fortdauern, muss Widerstand legitim sein, und völkerrechtlich gesehen ist er es auch, selbst wenn einige seiner Formen unrechtmäßig oder kriminell sind.1
Gerade in der Zeit vor dem 7. Oktober hatten sich die Anzeichen dafür gemehrt, dass Israels arabische Nachbarn die Beziehungen zu dem jüdischen Staat dringend normalisieren wollten. Saudi-Arabien und die Golfstaaten schienen nur allzu bereit, dem Beispiel Jordaniens und Ägyptens zu folgen und Friedensverträge mit Israel abzuschließen - sowohl wegen der Bedrohung durch den Iran als auch, weil sie sich von den USA (und Israel) Unterstützung bei der internen Entwicklung ihrer Länder erhofften, denn sie waren sich der potenziellen Gefährdung ihrer autoritären Herrschaft durch Unzufriedenheit im Inneren nur allzu bewusst. Eine solche Neuordnung der Region lag auch sehr im Interesse Israels. 13Um sie zu erreichen, hätte jedoch zunächst das Palästinenserproblem durch politische und territoriale Kompromisse gelöst werden müssen. Angesichts der aktuellen Zusammensetzung der Regierung Israels und der politischen Konstellation im Land war an eine solche Regelung jedoch nicht zu denken. Und nach dem Angriff vom 7. Oktober sieht es ganz danach aus, dass die israelische Staatsführung nach Kräften darauf hinwirken wird, das Territorium des Westjordanlands zu annektieren, und dass sie zugleich versucht, den überwiegenden Teil der Bevölkerung des Gazastreifens von dort zu verdrängen, um ihn sukzessive zu besiedeln und schließlich gleichfalls zu annektieren. Unter diesen Umständen ist ein Frieden mit den arabischen Nachbarn nicht möglich.
Hinzu kommt, dass sich die Beziehungen...
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