Schweitzer Fachinformationen
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Bevor ich losgehe, hole ich mir Rat bei einer erfahrenen Bergfrau und Expertin für seelische Gesundheit: Rita ist nicht nur Psychologin, sondern auch seit Jahren Mitglied im Deutschen Alpenverein. Sie ist selbst oft in den Bergen unterwegs - vor Kurzem ging es quer durch die Dolomiten. Daneben bietet sie Kurse für Gruppen an, in denen Interessierte Trittsicherheit üben können und Höhenangst überwinden lernen.
Ich treffe die 59-Jährige in Regensburg. Wir sitzen in zwei gemütlichen Sesseln in der Besprechungsecke meines Büros. Rita hat den Rücken durchgedrückt, die Hände locker auf die Armlehnen des Sessels gelegt. Sie strahlt gleichermaßen Ruhe und Lebensfreude aus. Vorab hatte ich sie gebeten, mir in unserem Gespräch etwas darüber zu erzählen, wie es gelingen kann, körperlich und seelisch gesund die Herausforderung einer Alpenüberquerung zu bewältigen - also resilient zu sein. Als sie zu erzählen beginnt, merke ich, dass ich mit meiner Frage bei ihr einiges in Gang gesetzt habe.
»Ich habe in der Vergangenheit einige Seminare zum Thema Psychische Widerstandskraft angeboten. Das war das eine. Und Bergsteigen war für mich das andere«, beginnt die Psychologin. »Jetzt habe ich mir überlegt, was beides miteinander zu tun hat. Ich habe mir dazu sogar ein paar alte Unterlagen herausgesucht. Und das, was ich da in meinen Fortbildungen erzählt habe, war ja alles kein Schmarrn«, sagt Rita schmunzelnd.
»Doch der Resilienzbegriff, so wie er etwa in Unternehmen verstanden wird, hat mit Berggehen sicherlich nichts zu tun. Hier wird der Fokus vor allem auf Aushalten und Stressresistenz gelegt. Oft bekommen Mitarbeitende zu hören: >Sie sollten mal an Ihrer Resilienz arbeiten.< Einige Klienten und Klientinnen wurden sogar von ihren Arbeitgebern für ein Coaching zu mir geschickt, damit sie noch belastbarer werden und noch mehr aushalten können. Davon habe ich mich irgendwann distanziert, weil das nicht zu meinem Menschenbild passt. Darum passten für mich die beiden Dinge - Bergsteigen und Widerstandskraft - erst gar nicht unter einen Hut. Ich habe also erst einmal den Resilienzbegriff wieder weggelegt.« Rita macht eine kleine Pause und trinkt einen Schluck Wasser.
»Doch dann habe ich mir überlegt, wie ich in den Bergen unterwegs bin: Ich suche mir einen Weg und gehe von A nach B. Ich setze einen Schritt vor den anderen. Und eigentlich mache ich an Bergtagen sonst gar nichts anderes. Als ich im Sommer den Höhenweg durch die Dolomiten gegangen bin, habe ich morgens nach dem Aufstehen meinen Rucksack gepackt. Ich habe überlegt, wie viele Höhenmeter ich an dem Tag machen werde und wo ich hinmuss. Ich habe mir auf der Karte angesehen, welche Abzweigung ich auf keinen Fall verpassen darf und wo gewisse Checkpoints sind. Dann bin ich losgegangen. Ich habe darauf geachtet, regelmäßig zu trinken und das Wetter im Blick zu behalten, auf meine Schritte geachtet, überlegt, welcher Tritt für den Boden, auf dem ich mich bewege, angemessen ist. Und ich musste einen sicheren Stand haben, damit ich nicht umfalle. Mehr gab es an diesen Tagen nicht zu tun. Und trotzdem ist viel passiert. Ich musste auf mich achten. Musste nachspüren, ob es noch geht oder ob ich eine Pause brauche. Wenn ich mir die Gegend anschauen wollte, musste ich stehen bleiben, weil ich sonst gestolpert ober sogar abgestürzt wäre. Alles ganz banale, aber dennoch wichtige Dinge. Wenn ich diese nicht beachtet hätte, dann hätte ich vielleicht den Aufstieg nicht geschafft.
Es geht beim Berggehen also sehr viel um Achtsamkeit und Bewusstsein. Multitasking funktioniert hier nicht. Ich kann nicht mehrere Dinge gleichzeitig tun, wenn ich sicher unterwegs sein will, sondern muss eins nach dem anderen angehen. So wird alles viel einfacher.
Außerdem ist mir aufgefallen, dass ich an Tagen, an denen ich nicht in meiner Mitte, nicht in der Balance bin, schon zu Beginn der Wanderung Schwierigkeiten habe. Dann fühle ich mich wie ein Kind, das herumtappt, als müsste ich erst das Gehen lernen. Meine Bewegungen sind schwer und eckig. Je länger ich an solchen Tagen unterwegs bin, umso leichter wird es dann häufig. Meine innere Balance hat also Auswirkungen auf mein Gehen, auf meine äußere Balance. Und wenn mir gutes Gehen gelingt, dann kann ich auch schwierige Passagen meistern.«
So bringt Rita Bergwandern und Resilienz schließlich doch zusammen: Die Balance als Voraussetzung und gleichzeitig als Ergebnis einer Wanderung.
»Ich finde es übrigens wunderbar, wenn ich jemanden >schön gehen< sehe«, greift sie den Faden wieder auf. »Das hat etwas Elegantes. Wie bei einer Gams. Das ist leichtfüßig. Gehen ist etwas ganz Sinnliches. Ich klettere auch gerne. Aber Gehen ist für mich die Basis von allem. Gehen in Balance.«
Die Berge helfen Rita auch dabei, aufzutanken. »Ich habe mir überlegt, woran es liegt, dass Berggehen Kraft gibt«, meint sie und streicht gedankenverloren über den Stoff der Sessellehne. »Natürlich spielt dabei die schöne Umgebung eine Rolle. Und das Einlassen auf berührende Momente. Aber was für mich noch wichtig ist: Wenn ich in meinem Alltag bin, dann muss ich an so viele Dinge gleichzeitig denken. In den Bergen beschränkt sich einiges: Ich habe weniger dabei; es gibt weniger Reize. So kann sich mein inneres System erholen.«
Schließlich fügt Rita noch einen Gedanken dazu an, wie Berggehen zum einen Resilienz erfordert, zum anderen aber auch fördert: »Wenn ich in den Bergen unterwegs bin und in Schwierigkeiten gerate, kann ich nicht so einfach googeln, wie ich aus der Situation wieder herauskomme. Ich bin auf mich selbst zurückgeworfen und muss überlegen, was ich tun kann und was ich dafür mitbringe. Das hat viel mit Selbstvertrauen zu tun. Aber auch mit guter Vorbereitung, mit Beobachtung und Einschätzung der Umgebung.«
Rita hat ihre Kindheit zwar im Umfeld der Metropole München verbracht, ist aber dennoch in den Bergen aufgewachsen. Als Kind war sie viel bei ihrem Großvater, der einige Almen im Lecknertal in den Allgäuer Voralpen bewirtschaftet hat.
»Mein Großvater hatte ein großes Wissen, das mich sehr beeindruckt hat. Er hat immer geschaut, wie der Enzian steht und wie die Berge aussehen. Anhand dieser Informationen konnte er voraussagen, wie das Wetter wird. Und wenn er festgestellt hat, dass es mittags um elf Uhr regnen wird, dann hat es auch um elf Uhr geregnet«, erzählt Rita lachend.
»Mein Großvater war ein Mensch, der auf der einen Seite sehr bei sich und auf der anderen Seite fest in sein System eingebunden war. Er hatte Sicherheit und den Überblick, was jetzt gerade wichtig ist. Was ich von ihm gelernt habe, sind sicher nicht verbindliche Wettervorhersagen. Aber ich weiß seitdem, wie wichtig es ist, das Wetter in den Bergen im Blick zu behalten. Das ist beim Unterwegssein im Gebirge von enormer Bedeutung.
Für mich hat das zwei Ebenen: Ich habe gelernt, Fähigkeiten zu erwerben, die mir helfen, wenn ich in den Bergen bin. Und ich habe eine gewisse Demut entwickelt. Denn wenn das Wetter umschlägt, habe ich das nicht in der Hand. Ich muss mich dem fügen. Es gibt daher immer wieder Momente, in denen ich erkennen muss, dass es Zeit ist umzukehren - auch wenn ich mir noch so sehr vorgenommen hatte, diesen Berg zu besteigen. Da braucht es also wieder Balance. Zum einen das Gefühl von Selbstwirksamkeit: Ich kann etwas, ich weiß, was ich mir zutrauen kann und welche Fertigkeiten ich habe. Gleichzeitig habe ich Respekt vor den Gegebenheiten, die nicht in meiner Hand liegen. Das ist für mich eine Form von Resilienz: Seine Fähigkeiten zu kennen - und die eigenen Grenzen. Wichtig ist dann noch die Frage: Wie gehe ich mit Scheitern um?« Ritas Augen wandern kurz nach oben, als würde sie sich ihre letzten Bergerlebnisse vor ihrem geistigen Auge ansehen.
»All das kann man wunderbar in den Bergen lernen. Da bekommst du nämlich unmittelbar Rückmeldung. Wenn ich so darüber nachdenke, merke ich, dass ich sehr dankbar dafür bin, so viel dort unterwegs sein zu können.«
Rita atmet tief durch und erzählt dann noch ein wenig mehr über ihren Großvater und ihre Zeit als Kind in den Bergen: »Mein Opa war im Ersten Weltkrieg. Damals war er ein Bauernbub. Viele aus seinem Regiment sind ums Leben gekommen. Er selbst wäre auch beinahe gestorben. Man hatte ihn schon zu den Toten gelegt. Irgendjemand hat dann gesehen, dass der Junge noch zuckt. Das hat ihn gerettet. So führte er auch sein Leben: mit einem unglaublichen Willen. Er hat sich nicht kleinkriegen lassen. Er hatte etwas beinahe Militärisches an sich. Seine Kühe auf der Alm sind alle immer in Reih und Glied gegangen. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat.« Sie überlegt einen Moment.
»Ich hatte vor meinem Opa großen Respekt und auch ein bisschen Angst. Aber er hatte auch ganz weiche Seiten. Wenn ich mich an ihn erinnere, dann denke ich an seine Hosen aus grobem Wollstoff, die sicherlich fürchterlich gekratzt haben. Er hat immer warmes Bier mit Ei getrunken. Frühmorgens ist er losgezogen, hat Wege gebaut, Tiere versorgt, alles getan, was in den Bergen notwendig und sinnvoll war. Wir, seine Enkel - das waren an die 15 Kinder - bekamen Aufgaben: Wir mussten Blaubeeren pflücken, Käse raustragen oder Brot holen. Viel Zeit zum Spielen blieb da nicht, wenn ich in den Ferien bei meinem Opa war. Das fand ich manchmal blöd. Freunde von mir sind in dieser Zeit nach Italien ans Meer gefahren, und wir mussten auf der Alm Kühe hüten oder den Männern eine Brotzeit bringen. Was ich als Kind hingegen toll fand, war zum Beispiel, mit...
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