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Das Beispiel Thüringen und seine Folgen
von Lennart Laude, Janos Richter, Juliana Talg
In den Abendstunden des 27. September 2024 erließ der Thüringer Verfassungsgerichtshof auf Antrag der Thüringer CDU-Fraktion eine einstweilige Anordnung, in der das Gericht festlegte, wie die konstituierende Sitzung des Landtags am folgenden Samstag fortgesetzt werden sollte. Am Tag zuvor war es bei der Sitzung zu einem in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus beispiellosen Vorgang gekommen. Im Vorfeld der konstituierenden Sitzung hatte die AfD das Amt des Landtagspräsidenten für sich reklamiert, da dieses nach parlamentarischer Tradition - allerdings nicht nach rechtlichen Vorgaben - von der stärksten Fraktion besetzt wird. Zuvor hatten die anderen Fraktionen jedoch bereits erklärt, dass sie Kandidatinnen oder Kandidaten der rechtsextremen Thüringer AfD für dieses Amt nicht wählen würden. Dies nutzte die AfD für ihr Opfernarrativ, wonach sie sich an die demokratischen Regeln halte, während die als »Altparteien« diffamierten demokratischen Parteien diese ständig verletzten, um der AfD ihre (vermeintlichen) Rechte streitig zu machen. Im Erfurter Landtag hatte die AfD mit dem 73-jährigen Jürgen Treutler, der als Alterspräsident die erste Sitzung des Landtags leiten sollte, die Gelegenheit, diesen Konflikt auf der parlamentarischen Bühne auszufechten. Der Alterspräsident nutzte seine sehr beschränkte und zur Neutralität verpflichtete Rolle zunächst für eine parteipolitisch aufgeladene Rede; sodann ignorierte er sämtliche Anträge der übrigen Fraktionen, um den vermeintlichen Anspruch der AfD-Fraktion auf das Amt des Landtagspräsidenten durchzusetzen.
Wie der Thüringer Verfassungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 27. September 2024 feststellte, verletzte Jürgen Treutler damit die Entscheidungsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Parlaments sowie die Antrags- und Mitwirkungsrechte der Abgeordneten. Auch wenn sich der Landtag nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts konstituieren konnte, war das Manöver geeignet, das Parlament als Institution zu beschädigen.
Die Ereignisse rings um die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags waren aber nicht nur ein Angriff auf das Parlament. Denn dass der Alterspräsident die Vorgaben des Thüringer Verfassungsgerichtshofs schlussendlich umsetzte, sollte nicht als ernst gemeinte Respektsbekundung vor dem Gericht und dessen Rechtsprechung missverstanden werden. Nicht nur im Nachgang, sondern bereits vor der Entscheidung hatten Vertreterinnen und Vertreter der AfD-Fraktion in Presse und sozialen Medien die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts unter Verweis auf die Parteibücher einzelner Mitglieder und die Auswahl einzelner Kandidatinnen und Kandidaten nach einem vermeintlichen »Altparteienproporz« in Frage gestellt. Kritik am Auswahlverfahren mag zwar grundsätzlich berechtigt sein. Ausgeblendet wurde aber, dass die AfD-Fraktion in den letzten Jahren selbst erfolgreich vor dem Verfassungsgericht Verfahren geführt hatte. Diese Richtersprüche wurden - wenig überraschend - stets begrüßt. Unter anderem dankte man dem Gericht öffentlich und betonte die Bedeutung einer unabhängigen Richterschaft. Dass die AfD im September 2024 bereits im Vorfeld der Entscheidung die angeblich fehlende Unabhängigkeit des Gerichts kritisierte, demonstriert, dass für die AfD-Fraktion die bewusste Delegitimierung des Verfassungsgerichts Vorrang vor der tatsächlichen Durchsetzung rechtsstaatlicher Vorgaben hat.
Dieser Eindruck verfestigte sich, als die AfD-Fraktion einen Monat nach der konstituierenden Sitzung Strafanzeige wegen Rechtsbeugung nach § 339 Strafgesetzbuch gegen zwei Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs erstattete. Zur Begründung gab sie an, Richter Jörg Geibert hätte wegen Befangenheit an der Entscheidung vom 27. September 2024 nicht mitwirken dürfen, da sein Sohn Abgeordneter der antragstellenden CDU-Fraktion sei. Juristisch naheliegender wäre in dieser Situation (wenn überhaupt) ein Befangenheitsantrag im vorangegangenen verfassungsrechtlichen Verfahren gewesen. Der strafrechtliche Vorwurf der Rechtsbeugung ist indes völlig absurd, die Staatsanwaltschaft Erfurt lehnte die Aufnahme von Ermittlungen folgerichtig ab. Die AfD hält jedoch an dem Vorwurf fest und kündigte weitere rechtliche Schritte an. Das Vorgehen soll die Richterinnen und Richter als potenzielle Kriminelle brandmarken und so das Vertrauen der Bevölkerung in den Thüringer Verfassungsgerichtshof erschüttern.
Mit diesen gezielten Angriffen zu Beginn der Legislaturperiode dürfte der Grundstein für eine weitreichende Strategie der Delegitimierung des Verfassungsgerichts gelegt worden sein. Auf diese kann die AfD dank ihrer Sperrminorität aufbauen, über die sie mit mehr als einem Drittel der Sitze im Landtag verfügt. Mit der Sperrminorität kann sie die Wahl neuer Mitglieder des Verfassungsgerichts verhindern. Ohne ihre Zustimmung kommt die hierfür in der Thüringer Verfassung vorgesehene Zweidrittelmehrheit im Landtag nicht zustande. Die AfD kann versuchen, diese Macht auszunutzen, um mit den anderen Fraktionen einen Deal auszuhandeln und selbst Mitglieder an das Gericht zu entsenden. Je nachdem, wen sie für das Amt vorschlägt, könnte sie damit auch Erfolg haben. Für die Wahl eines stellvertretenden Mitglieds hatte die AfD bei Redaktionsschluss des diesjährigen Reports bereits einen Kandidaten vorgeschlagen.
Sobald die AfD aber eigene Mitglieder am Gericht platziert hat, wird ihre Erzählung vom parteiischen Gericht weniger plausibel. Denkbar ist deshalb auch, dass sie bewusst radikale Kandidatinnen und Kandidaten aufstellt, die für die anderen Fraktionen unter keinen Umständen wählbar sind. In diese Richtung ging bereits die Nominierung der AfD-Abgeordneten Wiebke Muhsal als Kandidatin für das Amt der Landtagspräsidentin. Muhsal ist rechtskräftig wegen Betrugs verurteilt. Sie hatte in einer vorherigen Legislaturperiode den Arbeitsvertrag einer Mitarbeiterin vordatiert und deren Lohn zur Ausstattung ihres Büros verwandt. Würden in diesem Szenario die von der AfD nominierten Kandidatinnen und Kandidaten für den Thüringer Verfassungsgerichtshof nicht gewählt, hätte die AfD-Fraktion einen politischen Grund, die Kandidatinnen und Kandidaten der anderen Parteien nicht zu wählen. Da sie über eine Sperrminorität verfügt, hätte dies zur Folge, dass schlicht keine Richterinnen und Richter mehr an das Verfassungsgericht gewählt würden. Gleichzeitig könnte die AfD erneut ihr Opfernarrativ stärken und die anderen Fraktionen für die Blockade verantwortlich machen.
Bis zum Ende der regulären Legislaturperiode 2029 laufen die Amtszeiten sämtlicher neun Mitglieder - sowie von fünf der neun stellvertretenden Mitglieder - ab. Mitglieder, deren Amtszeit abläuft, könnten vorerst geschäftsführend im Amt bleiben; diese Übergangslösung ist verfassungsrechtlich zunächst unproblematisch. Wird sie zum Dauerzustand, ist dies mit hoher Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig - auch wenn nicht geklärt ist, ab wann genau dieser Zeitpunkt eintritt. Ein allein mit geschäftsführenden Mitgliedern besetztes Verfassungsgericht hätte jedenfalls ein erhebliches Legitimationsproblem. Das Narrativ vom nicht legitimierten Gericht kann die AfD also auf diesem Weg in den nächsten fünf Jahren aus eigener Kraft erheblich verstärken.
Diese Delegitimierungsstrategie wird besonders wirkungsvoll, sollte die AfD bei den nächsten Wahlen in Thüringen eine Regierungsmehrheit erhalten. Eine als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei könnte dann in einem Bundesland (durch-)regieren - während das Landesverfassungsgericht als wichtige Kontrollinstanz massiv geschwächt wäre. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass eine Reform zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts ausgiebig diskutiert und schließlich im Dezember 2024 beschlossen wurde, während Lösungen für dieses Problem auf Landesebene bisher kaum öffentlich thematisiert werden.
In Thüringen kann die AfD mit ihrer Sperrminorität darüber hinaus auch die Funktionsfähigkeit der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte schwächen. Zwar finden sich deren grundlegende Verfahrensbestimmungen nicht im Landesrecht, sondern in den Prozess- und Verfahrensgesetzen des Bundesrechts. Landesrechtlich kann aber insbesondere auf den Modus der Richterernennung Einfluss genommen werden.
Der üblichen Verbeamtung auf Lebenszeit muss nach der Thüringer Verfassung ein Richterwahlausschuss zustimmen. Zwei Drittel seiner Mitglieder sind Abgeordnete des Thüringer Landtags, die durch den Landtag mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. Aus jeder Fraktion muss mindestens eine Person im Richterwahlausschuss vertreten sein. Damit bieten sich der AfD zwei Angriffspunkte: Erstens kann sich die Fraktion schlicht weigern, eine Person aufzustellen und so die Konstituierung des Richterwahlausschusses verhindern; zweitens kann sie durch ihre Sperrminorität verhindern, dass Kandidatinnen und Kandidaten der anderen Parteien gewählt werden.
Die erste Variante erprobte die AfD bereits 2020....
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