Schweitzer Fachinformationen
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Unsere Zeit
Umhüllt vom ungewohnten Geruch nach Gauloises-Tabak und starkem schwarzen Kaffee sitze ich mit meiner französischen Gastfamilie in einem kleinen Wohnzimmer und starre auf einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher. Ich bin 14 Jahre alt, Austauschschüler und helfe beim Übersetzen.
Armstrong il dit: un petit pas pour moi, un grand pas pour l'humanité!
Bald hüpft eine schattenhafte Gestalt in einem Raumanzug schwerelos über die Mondoberfläche, eine Szene, die mir aus dem Tim-und-Struppi-Comic Schritte auf dem Mond bestens bekannt ist.
Es ist schwer, noch einmal das Gefühl zu vergegenwärtigen, wie entlegen Kontinentaleuropa 1969 für einen englischen Schuljungen war. Ich würde nicht sagen, dass Frankreich so weit weg war wie der Mond, aber es war so ziemlich alles, was die Engländer traditionell in das Wort »foreign« packen. Dort drüben essen sie Frösche, fahren Motorroller und haben jede Menge Sex. Was auch immer du tust, trink bloß nicht das Wasser. Um in die Stadt La Rochelle an der Atlantikküste zu gelangen, musste ich eine scheinbar endlose Reise mit Bus, U-Bahn, Zug, Fähre (ich war schlimm seekrank), Zug und wieder Bus zurücklegen. Mein nagelneuer dunkelblauer britischer Reisepass mit steifem Einband war am Grenzübergang genau geprüft und abgestempelt worden. In meiner Tasche fummelte ich nervös an ein paar knisternden, riesigen Francs-Scheinen herum. Nach Hause zu telefonieren war eine komplizierte Prozedur, bei der ich mich in schlechtem Französisch durch ein rauschendes und knackendes Festnetztelefon mit einer Telefonistin herumschlagen musste (»Peut on reverser les charges?«).
Zwanzig Jahre später war ich auf einer Dissidentenversammlung in Budapest und signierte Exemplare der ungarischen Ausgabe meiner Essays über Mitteleuropa. Es war das Jahr der Wunder, 1989. Freiheit und Europa - die beiden politischen Anliegen, die mir am meisten am Herzen liegen - marschierten Arm in Arm zu den Klängen von Beethovens 9. Symphonie voran und kündigten eine friedliche Revolution an, die ein neues Kapitel der europäischen und der Weltgeschichte aufschlagen würde. Kein Teil des Kontinents war mir mehr fremd. Ich lebte das Paradoxon, das den Wesenskern eines zeitgenössischen Europäers ausmacht: Ich war im Ausland zu Hause.
So sehr zu Hause sogar, dass sich einer meiner ungarischen Freunde zu mir umdrehte, als wir auf dem Heimweg durch die warmen, sinnlichen Straßen von Budapest spazierten, und ausrief: »Du musst von Schalom Asch abstammen!«
»Nein«, erwiderte ich leicht verblüfft.
»Wie kommt es dann, dass du sich so sehr für Mitteleuropa interessierst?«
Als ob es einer genetischen Erklärung bedürfte, dass man sich emotional für einen anderen Teil Europas interessierte.
Unsere Identitäten sind gegeben, aber auch gemacht. Wir können uns unsere Eltern nicht aussuchen, aber wir können entscheiden, wer wir werden. »Im Grunde bin ich ja Chinese«, schrieb Franz Kafka in einer Postkarte an seine Verlobte. Wenn ich sage, dass ich im Grunde ja ein Mitteleuropäer bin, dann meine ich damit nicht, dass ich im Wortsinne von dem mitteleuropäischen jiddischen Schriftsteller Schalom Asch abstamme, sondern postuliere eine Wahlverwandtschaft.
Da mein Geburtsort Wimbledon in England ist, bin ich zweifellos in Europa geboren und daher in diesem rudimentären Sinne ein geborener Europäer. Bis zurück zu Eratosthenes vor etwa 2200 Jahren haben Kartenzeichner Großbritannien immer in Europa verortet, einer Region, die in der wahrscheinlich ältesten dauerhaften mentalen Unterteilung der Welt Asien und Afrika gegenübersteht. Seit es eine geografische Vorstellung von Europa gibt, waren unsere in etwa dreieckigen Inseln ein Teil davon. Aber ich wurde keinesfalls als Europäer in dem Sinne geboren, dass ich dazu erzogen wurde, mich als solchen zu betrachten.
Das einzige Mal, dass sich meine Mutter als Europäerin bezeichnete, war, als sie sich an ihre Jugend im britisch regierten Indien erinnerte, wo sie als Tochter des Raj geboren wurde. »Als Europäerin«, erzählte sie mir, »ging man frühmorgens ausreiten«, und sie erinnerte sich mit Freuden an einige romantische Monate, die sie als junge Frau am Ende des Zweiten Weltkriegs in Neu-Delhi verbrachte . In Indien nannten sich die Engländer Europäer. Nur daheim leugnen sie immer noch gerne eine Wahrheit, die für jeden, der sie von Washington, Peking, Sibirien oder Tasmanien aus betrachtet, selbstverständlich erscheint.
Ich habe meinen Vater nie von sich selbst als Europäer sprechen hören, obwohl seine prägende Erfahrung darin bestand, am D-Day mit der ersten Welle am Strand der Normandie zu landen und sich mit den Befreiungsarmeen quer durch Nordeuropa zu kämpfen, bis er den VE-Tag (Victory in Europe) in einem Panzer irgendwo in der norddeutschen Tiefebene still und erschöpft begrüßte. Einer seiner verehrten konservativen Premierminister, Harold Macmillan, soll einmal über den legendären französischen Präsidenten Charles de Gaulle bemerkt haben, dass »er Europa sagt und Frankreich meint«. Aber das galt auch für die Engländer von der Sorte meines Vaters. Wenn sie Europa sagten, meinten sie in erster Linie Frankreich, so wie es die Engländer seit mindestens sechs Jahrhunderten taten, seit der Hundertjährige Krieg die nationalen Identitäten Frankreichs und Englands geprägt hatte, und zwar im Gegensatz zueinander.
Für meinen Vater war Europa definitiv fremd, und die Europäische Union war einer jener »schurkischen Pläne«, die zu durchkreuzen unsere Nationalhymne den patriotischen Briten aufruft. Einmal schenkte ich ihm zu Weihnachten einen großen Schokoladen-Euro, den er prompt mit theatralischem Zähneknirschen verschlang. Er, der lebenslange, aktive Konservative, ist im Alter zu meinem Entsetzen kurzzeitig zur UKIP, der UK Independence Party, übergelaufen. Wäre er 2016 noch am Leben gewesen, hätte er zweifelsohne für den Brexit gestimmt.
Ich fühle mich durch das historische Glück gesegnet, in England aufgewachsen zu sein, einem Land, das ich liebe; aber diese geografische Tatsache allein hat mich nicht zu einem Europäer gemacht. Ein bewusster Europäer wurde ich irgendwann zwischen dem ersten Inhalieren von Gauloises-Tabakrauch als Schuljunge im Jahr 1969 und dem Signieren meiner Bücher im revolutionären Budapest im Jahr 1989. In meinem Tagebuch ist für Freitag, den 12. August 1977, ein Abend in einer Westberliner Pizzeria mit Karl vermerkt, einem österreichischen »Elektriker, Filmkenner und Taxifahrer«, den ich als 22-jähriger Oxford-Absolvent als »einen erkennbar zivilisierten Mit-Europäer« beschreibe. Immerhin ein Mit-Europäer.
Dieses Buch ist eine persönliche Geschichte Europas. Es ist keine Autobiografie. Vielmehr ist es eine Geschichte, die durch persönliche Erinnerungen veranschaulicht wird. Ich stütze mich dabei auf meine eigenen Tagebücher, Notizhefte, Fotos, Erinnerungen, Lektüren, Beobachtungen und Gespräche während des letzten halben Jahrhunderts, aber auch auf die Erinnerungen anderer. Wenn ich also von »persönlicher« Geschichte spreche, meine ich nicht nur »meine eigene«, sondern die Geschichte, wie sie von einzelnen Menschen erlebt und durch ihre Geschichten exemplifiziert wurde. Ich zitiere aus meinen Gesprächen mit führenden europäischen Politikern, wenn dies zur Erhellung der Geschichte beiträgt, aber auch aus vielen Begegnungen mit sogenannten einfachen Leuten, die oft viel bemerkenswertere Menschen sind als ihre Politiker.
Ich habe einige Orte besucht oder wieder besucht, um die Dinge persönlich in Augenschein zu nehmen, wie Journalisten es tun, aber ich habe mich auch auf die besten Primärquellen und die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse gestützt, wie Historiker es tun. Im Gegensatz zu den Reportagen und Kommentaren, die ich damals geschrieben habe, während die Geschehnisse noch im Gange waren, nutze ich hier den Vorteil der Rückschau voll aus. Hinterher ist man, wie es so schön heißt, immer klüger, und obwohl der Blick aus den frühen 2020er Jahren bei weitem...
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