Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der Wannsee ist ein See im Südwesten Berlins, doch er ist weit mehr als das. So wie Weimar mehr als eine Stadt in Thüringen ist. Wenn Weimar ein Symbol für die erste deutsche Demokratie war und ist, dann steht der Wannsee für die dunkelsten und auch die leichtesten Kapitel der deutschen Geschichte. Hier wurde auf der Wannseekonferenz die Ermordung der europäischen Juden organisiert. Und hier wurde wenige Jahre später versucht, das alles schnell zu vergessen, mit einem Schlager, der die deutsche Nachkriegszeit prägte: "Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein und dann nischt wie raus nach Wannsee ."
Folgen wir dieser Spur "raus nach Wannsee": An der Straße, die von der Autobahn, dem Ende der Berliner Avus, zum Wasser führt, stehen die Bootsanhänger wie stählerne Gerippe am Fahrbahnrand. Selbstverständlich sind die Anhänger leer an den drückenden Sommertagen, denn wer kann, ist mit seinem Boot auf dem See. Die Straße hin zum Wasser verjüngt sich ein wenig, bevor sie unter der S-Bahn-Brücke verschwindet, um ein paar Meter weiter wieder aufzutauchen und sofort in die Wannseebrücke zu münden, jenen vierspurigen Asphaltbogen, der sich von Ufer zu Ufer über eine schmale Stelle streckt und den See hier in den Großen und den Kleinen Wannsee teilt. Die Brücke ist von oben kaum als Brücke wahrnehmbar, eher als ein solides Stück Straße, das hineinführt in den Ort Wannsee. Im Auto und auch auf dem Fahrrad hat man die Brücke schnell hinter sich gelassen.
Luftaufnahme des Wannsees
Doch es lohnt sich, zu Fuß in ihre Mitte zu gehen, dorthin, wo das verwitterte und leicht beschmierte Metallschild hängt, das ein paar erhabene Buchstaben und Zahlen trägt: "Wannseebrücke 1953-54". Heute, viele Jahrzehnte später, kann man noch erahnen, was die Brückenbauer damals gefühlt haben müssen, die Wiederaufbauer Berlins, keine zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Denn wenn man von der Wannseebrücke nach Norden auf den Großen Wannsee blickt, dann sieht die Welt plötzlich sehr in Ordnung aus, in welchem Zustand sie sich auch immer befindet.
Der Blick schweift über die weite Landschaft des Sees, das Panorama öffnet sich über quer schaukelnde Wellen hin zu den Landzungen in der Ferne und auf der rechten Seite hin zum großen Strandbad Wannsee. Diesem Bad, das dem See immer etwas Gelassenes und Heiteres gegeben hat, auch wenn die Zeiten gar nicht danach waren. Ein paar Segelboote liegen schräg im Wind, Ausflugsschiffe kreuzen träge ihre Spur, und auf einem kleinen Stück Rasen unter der Brücke sitzt eine Familie, das Picknick in der Tasche dabei. Eine schöne Momentaufnahme, mehr nicht.
Die Brücke ist auch der Ort, an dem die Geschichte des Ortes Wannsee, wie wir sie heute wahrnehmen, begonnen hat. Am westlichen Ende ihrer Vorgängerin baute die alteingesessene Stolper Gastwirtsfamilie Stimming Mitte der 1790er Jahre ihren Neuen Krug. Zu der Zeit ließ König Wilhelm II. die erste befestigte sogenannte Kunststraße zwischen dem Zentrum der preußischen Hauptstadt und der Residenzstadt der Hohenzollern, Potsdam, anlegen - eine fast geradlinige gepflasterte Chaussee, die von der Berliner Mitte über Schöneberg, Steglitz und Zehlendorf durch die Waldheide am Wannsee nach Potsdam führte. Die heutige Bundesstraße 1.
Stimmings Gasthof war in jenen Jahren das einzige feste Gebäude weit und breit. Am 20. November 1811 mietete sich ein Paar bei Stimming ein, um hier seine letzte Nacht zu verbringen. Am folgenden Tag erschoss Heinrich von Kleist seine todkranke Gefährtin Henriette Vogel auf einer kleinen Anhöhe auf der anderen Seite der Brücke am Kleinen Wannsee - der damals noch Stolpsches Loch hieß - und nahm sich dann selbst das Leben. Es war der erste Akt der bis heute währenden Historie Wannsees als mythischer Ort der deutschen Geistesgeschichte. Wenige Jahrzehnte später folgt ein zweiter, prosaischerer. Der Bankier Wilhelm Conrad kaufte 1863 den Gasthof, ließ ihn 1870 abreißen und an seiner Stelle die Villa Alsen errichten, den Nukleus der Villenkolonie am Wannsee.
Es war der Beginn einer Geschichte, die schon von vielen erzählt worden ist, und längst nicht von allen gleich. Denn die Geschichte und die Geschichten rund um den Wannsee tragen auch deshalb mythologische Züge, weil hier alles zusammenkam, immer wieder in den vergangenen Jahrhunderten. Hier wurde die Freiheit der Weimarer Republik gelebt, hier setzte der Nationalsozialismus seine mörderischen Marken. Hier wurde der Krieg in der Zeit danach in der einen Hälfte Deutschlands intellektuell bewältigt, hier trafen sich im Westen Berlins Intellektuelle, zum Beispiel die Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gruppe 47, die ausloten wollten, wie ein "Nie wieder" gelingen könnte. Hier wurde die Teilung des Landes spürbar, aber genau hier wurde auch die Wiedervereinigung gefeiert. Der Wannseestrand war immer zugleich ein Strand des proletarischen Berlins und ein Ufer der Eliten, die ihre Villen ans Wasser bauten. Auch das macht Mythen aus, es gibt keinen "richtigen" und keinen "falschen" Blick auf ihre Geschichte, es gibt die Erzählungen, die jeder schon einmal vernommen hat. Erzählungen, die Erinnerungen konstruieren, festigen und nicht vergehen.1
Man kann Gesellschaften über ihre Bräuche, ihre Sprache, ihre Architektur oder auch über ihre Musik, ihre Lieder erklären. Aber es gibt eben auch Orte wie den Wannsee, Topografien, an denen sich Geschichte besonders stark verdichtet hat, an denen gesellschaftliche Weggabelungen deutlich werden und wurden, die woanders nie so klar zutage getreten sind. Oft sind es Orte von besonderer Anziehungskraft, große Städte oder auch überwältigende Naturlandschaften. Am Wannsee kommt beides zusammen.
Und der Wannsee liegt nahe. Zumindest für die Berlinerinnen und Berliner. Die Station Wannsee ist die Endhaltestelle der S1, der Berliner Nord-Süd-Bahn. Verlässt man den Zug und betritt den kleinen Bahnhof, fühlt man sich unter der hohen Kuppel wie in einer Filmkulisse der 1920er und 1930er Jahre. Über den Eingangstüren ist das Relief eines Segelschiffs auf den Wellen des Wannsees eingelassen, ein durchaus erwartbarer Bildschmuck hier, einer aber, der nur die Oberfläche der mit dem Wannsee verbundenen Assoziationen abbildet.
Vor dem geistigen Auge erscheinen ja nicht nur Segelboote auf der blauen, von Villen und Wäldern umgebenen Wasserfläche. Sondern auch der Grabstein des Dichters Heinrich von Kleist. Viele sehen Männer, manche in Uniformen der SS, die sich um einen langgestreckten Sitzungstisch versammeln. Andere die Villa des Malers Max Liebermann und die Bilder seines prachtvoll blühenden Gartens am Seeufer. Wieder andere sehen die deftigen Zeichnungen Heinrich Zilles vom proletarischen Strandleben im größten Freibad Europas. Und dann vermischen sich diese Fantasien. Zurück bleibt der Eindruck eines besonderen Ortes, so eng mit der deutschen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte verwoben wie wenige andere. Ein Mythos, der all die Bilder hervorruft, die man sich von diesem Land macht. Und der immer wieder auch eine überraschende Berliner Realität ist. Oben auf dem Schild der Wannseebrücke hat jemand einen Kreis um das A in "Wannsee" gemalt, so dass hier auf der Brücke etwas improvisiert das Zeichen der Anarchie leuchtet, das in West-Berlin in den 1970er und 1980er Jahren eines der beliebtesten Graffiti auf den Häuserwänden war. Und wer weiß schon noch, dass die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz genau das über lange West-Berliner Jahrzehnte gar nicht war? Die Villa, in der die Organisation des Völkermordes geplant wurde, diente noch bis in die späten 1980er Jahre hinein dem Berliner Bezirk Neukölln als Schullandheim. So, als wäre nichts gewesen.
Geht man über eine weit geschwungene Treppe zum Ufer hinab und steht dann unter der Wannseebrücke, ist der Blick gleich ein anderer als in die Weite, die sich oben gezeigt hat. Die breiten Betonpfeiler der Brücke sind mit grellen Graffiti überzogen, einer nach dem anderen. Am gegenüberliegenden Ufer, direkt vor der Böschung, haben sich Berliner Obdachlose eine wettergeschützte kleine Zeltkolonie eingerichtet; sie leben tatsächlich unter der Brücke, kaum beachtet von den Tausenden, die diese jeden Tag ein paar Meter über ihnen passieren. Es ist dieses Berliner Nebeneinander, das auch den Wannsee prägt. Und nicht jeder schaut unter die Brücken.
Der umwaldete See liegt am Rand einer der dynamischsten Städte Europas, und er ist für viele ein besonders idyllischer Ort. Der Wannsee ist ein perfekter Platz für Menschen, welche einerseits die moderne Stadt prägen wollen, andererseits privilegiert genug sind, an ihren schönsten Rändern zu leben: Maler, Politiker, Künstler, die ohne die Stadt nicht können, es sich aber auch leisten können, den alltäglichen Zumutungen der Metropole zu entfliehen. Das gilt am Wannsee übrigens auch für die kleinen, die stundenweisen Fluchten der Arbeiter aus der Mietskasernenstadt im frühen 20. Jahrhundert.
Und es gilt noch heute. Berlin, die Stadt, die von den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre in einem Metropolenschlaf lag, wurde gleich nach dem Mauerfall wieder so unberechenbar und laut wie in den 1920er Jahren. Alles war im Umbruch, die einzige Kontinuität war der Wandel. Aber wer es als Künstler, Fernsehstar, Politiker oder Verleger geschafft hatte, am Wannsee zu wohnen, der konnte auch die letzten Jahrzehnte der Umbrüche Berlins vom sicheren, stillen Ufer aus beobachten - und sie trotzdem prägen. In dem Bewusstsein, an einem Ort zu leben, an dem immer schon Geschichte geschrieben wurde,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.