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Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Kritik an Klimaaktivist*innen in Deutschland Anfang November 2022. Eine Radfahrerin starb nach einem Verkehrsunfall im Krankenhaus, nachdem der Rettungswagen in einem durch Klimaaktivist*innen verursachten Stau stecken geblieben war. Auch wenn ihr Tod letztendlich nicht auf die staubedingt verzögerte Ankunft im Krankenhaus zurückgeführt werden konnte, veranlasste der Fall Bundesinnenministerin Nancy Faeser zu folgenden Aussagen:
Wenn Straftaten begangen werden und andere Menschen gefährdet werden, ist jede Grenze legitimen Protests überschritten.
All das hat mit einer demokratischen Auseinandersetzung überhaupt nichts zu tun. Die Straftäter müssen schnell und konsequent verfolgt werden.[1]
Mit ähnlicher Vehemenz kritisiert immer wieder prominent der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt die Aktivist*innen insbesondere der Letzten Generation: Er spricht von ihnen als «Extremisten», «Chaoten» und «Kriminellen».[2]
Diese Einschätzungen von ungehorsamen Protesten sind nicht neu. Im Jahr 1969 entschied der Bundesgerichtshof über einen Fall, bei dem Studierende sich auf Schienen setzten, um einer Straßenbahn den Weg zu blockieren und so gegen eine Preiserhöhung zu protestieren. Dieses Verhalten als legal zu betrachten, liefe, so der Bundesgerichtshof im berühmten «Laepple-Fall», auf die
Legalisierung eines von militanten Minderheiten geübten Terrors hinaus, welcher mit der auf dem Mehrheitsprinzip fußenden demokratischen Verfassung, letztlich aber auch als Verstoß gegen das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz mit den Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung schlechthin unverträglich ist.[3]
Der Ungehorsam ist diesen Äußerungen zufolge undemokratisch, rechtsstaatsfeindlich, kriminell und wird sogar mit Terrorakten verglichen. Diese Aussagen laufen auf ein Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat hinaus, das mit Protestformen wie dem zivilen Ungehorsam unvereinbar ist. Ich behaupte hingegen, dass ziviler Ungehorsam als Teil eines aktiven und lebendigen demokratischen Rechtsstaats begriffen werden sollte. Mit meiner These möchte ich sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass ziviler Ungehorsam eine Form der Verfassungsinterpretation darstellt.
Die These hat zwei Seiten. Die eine Seite weist einen Grundgedanken der Demokratie aus, und zwar, dass alles auch anders sein kann. Gesellschaft, Politik, Institutionen und Gesetze sind von Menschen gemacht und lassen sich von Menschen auch ändern. Daran zu glauben, dass sich Dinge, mit denen man unzufrieden ist, verändern lassen, dass man sie selbst verändern kann, ist ein Grund, warum Demokratien funktionieren. Dass nichts für immer gesichert sein und absolut gesetzt werden darf, ist aber auch eine Gefahr der Demokratie; sie ist, wie wir gleich genauer sehen werden, radikal fundamentlos.
Die andere Seite meiner These zieht diesem Demokratieverständnis daher rechtsstaatlich begründete Grenzen: Kann Demokratie wirklich bedeuten, dass alles reversibel und veränderbar ist? Damit das demokratische Potenzial des Ungehorsams erhalten bleibt, muss er eine zentrale Voraussetzung erfüllen: die Anerkennung aller als Freie und Gleiche. Diesen Gedanken, den ich als Kern jeder demokratischen Verfassung ansehe, will ich als Kriterium zur Bewertung von zivilem Ungehorsam herausarbeiten.
Bevor ich dazu komme, gilt es jedoch zunächst zu verstehen, mit welchen Argumenten die Kritik am zivilen Ungehorsam seine Unvereinbarkeit mit dem demokratischen Rechtsstaat begründet. Und dafür müssen wir uns der Frage stellen, warum wir überhaupt den Gesetzen gehorchen sollen.
Warum müssen wir den Gesetzen gehorchen, selbst wenn sie ungerecht sind? Diese Frage diskutiert Sokrates mit seinem Freund Kriton am Vorabend seines Todes. Denn Sokrates wurde von den Bürgern Athens zum Tode verurteilt. Die stechenden Fragen an seine Mitbürger und sein Mut, kompromisslos die Wahrheit zu suchen, wurden ihm als Ungehorsam gegen die Gesetze, als Verführung der Jugend und als Gottlosigkeit ausgelegt.[4]
Wie in Athen zu dieser Zeit üblich, soll Sokrates das Urteil gegen sich selbst vollstrecken und den Schierlingsbecher leeren. Dem Drängen seines Freundes Kriton, ihm zur Flucht zu verhelfen, setzt er ein Plädoyer für den Gesetzesgehorsam entgegen: Als Philosoph ist Sokrates zwar der Wahrheit verpflichtet; in dieser Rolle überwiegt die Liebe zur Wahrheit seine Gehorsamspflicht gegenüber den Gesetzen Athens. Als Bürger gilt seine Treue jedoch der Stadt Athen und ihren Gesetzen; konsequenterweise muss er sich daher dem Urteil des attischen Gerichts beugen. Denn breche er dieses eine Mal das Gesetz, dann greife er die Geltung der Gesetze als Ganzes an. Sokrates zufolge sind es aber gerade die Gesetze Athens, die ihm erst ein gutes Leben ermöglicht haben. Voraussetzung dafür ist nicht eine negative Freiheit vor staatlichen Eingriffen, sondern eine positive, politische Freiheit, die sich nur im Rahmen einer politischen Gemeinschaft von Freien und Gleichen verwirklichen kann. Diese Freiheit und Gleichheit aber schaffen erst die Gesetze, die wie Stadtmauern die Polis als einen politischen Raum etablieren.[5] Das Gesetz zu brechen, bedeutet in dieser Vorstellung, aus der demokratischen Gleichheit herauszutreten und die Mauern der Polis einzureißen.
Sokrates verteidigt seinen Gesetzesgehorsam damit, dass er die Möglichkeit hatte, seine Mitbürger von seiner Unschuld zu überzeugen und nunmehr die Mehrheitsentscheidung gegen ihn akzeptieren muss. Die Bürger, die diese Entscheidung treffen, haben ihm ein gutes Leben ermöglicht, das ihn zur Treue der Polis gegenüber verpflichtet. Und auch Kriton sieht am Ende des Dialogs ein, dass Sokrates der Demokratie einen letzten Dienst erweist, indem er den Schierlingsbecher leert.
Sokrates' Argumentation baut somit auf drei Kerngedanken auf: der Zustimmung zu den Gesetzen, der Loyalität zur politischen Gemeinschaft und dem Erhalt der politischen Ordnung.
Das Zustimmungsargument. Erstens argumentiert Sokrates, dass er durch seinen Verbleib in der Polis implizit der politischen Ordnung und ihren Gesetzen zustimmt. Er konnte am Gerichtsverfahren gegen sich teilnehmen, über die Gesetze mitbestimmen und hatte Gelegenheit, die anderen von seiner Ansicht zu überzeugen. Wenn ihm das nicht gelingt, muss er das Votum akzeptieren, da er auch den Gesetzen zugestimmt hat, auf deren Grundlage die Entscheidung getroffen wurde.
Dieses Zustimmungsargument findet sich in der aktuellen Diskussion um den zivilen Ungehorsam immer wieder: Die Demokratie stellt Verfahren zur Verfügung, die Teilhabe und Zustimmung ermöglichen sollen. Das Funktionieren dieser Verfahren ist davon abhängig, dass die Bürger*innen die Ergebnisse der in diesen Verfahren getroffenen Mehrheitsentscheidungen akzeptieren. Im Unterschied zur Polis stehen die Bürger*innen aber nicht mehr im direkten Austausch miteinander. Im Rahmen von periodisch stattfindenden Wahlen bestimmen sie Vertreter*innen, die für sie entscheiden. Daraus ergeben sich zwei wesentliche Probleme, die das Zustimmungsargument schwächen, wenn nicht sogar entkräften: Zum einen findet die Zustimmung zu den Gesetzen im Rahmen einer Mehrheitsentscheidung statt. Die Zustimmung eines Teils des Wahlvolks wird für das ganze, die Zustimmung im Moment der Wahl für die Dauer der ganzen Wahlperiode fingiert.[6] Zudem ist auch die Vorstellung einer stillschweigenden Zustimmung zu der politischen Ordnung durch Verbleib in dieser Ordnung eine Fiktion: De facto können sich die meisten Menschen nicht einfach aussuchen, wo sie leben wollen, sodass sich von dem Wohnsitz nicht auf eine Zustimmung schließen lässt.
Zum anderen ist das Zustimmungsargument im zeitgenössischen demokratischen Rechtsstaat eigentlich ein Repräsentationsargument. Daraus ergibt sich das Problem,...
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