Schweitzer Fachinformationen
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Städte wie Träume sind aus Wünschen und Ängsten gebaut, auch wenn der Faden ihrer Rede geheim ist, ihre Regeln absurd, ihre Perspektiven trügerisch sind und ein jedes Ding ein anderes verbirgt.
Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte
Willkommen in Genf, der Hauptstadt des Niemandslandes. Genf ist eine Stadt der Ausnahmen, eine Stadt wie Schweizer Käse. Seit Jahrhunderten schützen ihre Gewölbe und Schlupflöcher Menschen vor Verfolgung und Revolution, vor Besteuerung und Rechtsstreitigkeiten. Seit der Renaissance war Genf ein sicherer Hafen für Geflüchtete und ihr Geld, ihre Lebensweise und ihre politischen Überzeugungen.
Kommunisten und Kapitalisten, Protestanten und Katholiken, Waffenhändler und Friedensstifter, exilierte Monarchen und mittellose Flüchtlinge, sie alle strömten nach Genf, wo sie dieselben Cafés und Confiserien frequentierten, Spaziergänge am selben malerischen Seeufer unternahmen und in allen Sprachen dieser Welt miteinander kommunizierten. Genf war schon immer neutrales Territorium: wenn nicht unpolitisch, so doch unparteiisch. Doch was uns hierherführt, ist auch eine Angelegenheit der Metaphysik.
Über, unter und in dieser Stadt gibt es Dutzende kleinerer Städte, eine jede in speziellen Ordnungssystemen eingeschlossen, und alle gehorchen sie ihren eigenen Regeln. Die einen haben die Größe eines Koffers, andere den Umfang einer kleinen Stadt. Ein Meer aus Stahlkammern, Lagerhäusern, Konsulaten, Botschaften, Missionen, internationalen Organisationen, atomaren Forschungseinrichtungen und Handelsplattformen - vor aller Augen unsichtbar - verleiht Genf die fraktale Anmutung eines 3-D-Illusionsbuches. Ein flüchtiger Blick, und du siehst nur eine Tapete. Schau genauer hin, und aus den abstrakten Mustern entstehen konkrete Gestalten.
Ich habe lange gebraucht, um Genf in all seinen Dimensionen zu erkennen. Das Gesicht, das es der Welt zeigt, ist so solide, so verwurzelt, so schwer, dass es ewig anmutet. Seine Altstadt, la vieille ville, erscheint mir als ein ebenso fester Bestandteil der natürlichen Landschaft ringsum, der regionalen Topographie wie die Rhône und der Lac Léman (besser bekannt als Genfersee). Liest man Mary Shelleys Roman Frankenstein, der vor über einem Jahrhundert in Genf spielt, bemerkt man, dass die Straßen, Stadtteile und Uferböschungen noch immer die alten Namen tragen.
Die engen Gassen der Altstadt könnten sich sogar genauso anhören wie damals. Mehrmals am Tag und auf die Minute pünktlich erklingen in schönster Harmonie die Glocken der Kathedrale St. Peter. Die dunkel tönende Clémence wurde 1407 installiert. Sie ist gut dreieinhalb Meter hoch, wiegt über sechs Tonnen und hält uns mit ihrem vorwurfsvollen Geläut im Zaum. Die Vibrationen der Glocke dringen bis tief in den Grund, wo unter der Kathedrale die exhumierten Gebeine eines Häuptlings der Allobroger aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert aufbewahrt werden.
Die Kathedrale selbst wurde im 12. Jahrhundert auf einem Hügel errichtet, wuchs mit den Jahren, bis sie schließlich mit ihrem spitzen Kirchturm und den leuchtenden Glasfenstern hoch über den Pflastersteinen thronte. Im Zuge der Reformationsbewegung im 16. Jahrhundert, in der viele Europäer sich gemeinsam gegen die Exzesse der katholischen Kirche erhoben, wurde die gotische Fassade der Kathedrale ihrer Schmuckelemente beraubt und in Anlehnung an die griechische Klassik umgestaltet. Die Reformatoren, allen voran Johannes Calvin, propagierten einen äußerst nüchternen Stil. Die Calvinisten stellten nicht nur strenge moralische Regeln auf, sie verbannten auch die Kunst - ungeachtet ihres religiösen Charakters - aus den Kirchen, da sie ihrer Ansicht nach zum Götzendienst ermunterte.
Die farbenfrohen Glasfenster der Kathedrale St. Peter überstanden den reformatorischen Bildersturm. Nicht so ein Altarstück, Der wundersame Fischzug. Doch eine seiner Tafeln konnte vor der Zerstörung gerettet werden und ist nun in einem nahegelegenen Museum zu besichtigen.
Das Gemälde des Baseler Künstlers Konrad Witz ist ein bemerkenswertes Artefakt: Angeblich ist es das erste in der europäischen Geschichte, das keine imaginierte biblische Szene darstellt, sondern eine wiedererkennbare reale Landschaft. Witz malte zu Beginn der 1440er Jahre, als Genf noch sehr ländlich war, dürfte aber beim Anblick des Genfersees von etwas Größerem inspiriert worden sein. Das Gemälde definiert den See explizit als einen Ort, an dem das Heilige dem Weltlichen begegnet. Es nimmt die Rolle der Stadt als Mittlerin zwischen dem Greifbaren und dem Nichtgreifbaren vorweg. Es ist auch ein Bild über den Glauben: an Gott natürlich, aber auch an das Geld und an die Wichtigkeit, nicht zu viele Fragen zu stellen.
Das Kunstwerk zeigt eine Gruppe von fünf Aposteln in einem Boot in Ufernähe; zwei von ihnen halten Ruder in den Händen, die übrigen drei ziehen an einem Netz, berstend voll mit zappelnden Fischen. Man erkennt auf den ersten Blick, dass die Szene nicht auf dem See Genezareth spielt, wo sie sich laut biblischer Geschichte zugetragen hat, sondern unweit der Heimat des Künstlers: Er malt Berge, Hecken, Lagerhäuser, einen Anlegesteg. Die Landschaft ist üppig grün, also arbeitete Witz wohl im Frühling oder Sommer, und über dem Wasser hängen schwer große weiße Wolken. Ein niedriger Bergrücken, der Mont Salève, und der prägnante Gipfel im Hintergrund - die weiße Spitze des Mont Blanc - verraten den präzisen Standpunkt des Künstlers. Witz malte den See vom heutigen Genfer Stadtviertel Eaux-Vives aus.
Die Männer tragen knielange Tuniken in Rot, Weiß und Schwarz. Sie blicken in den Himmel, scheinen ihr Glück kaum zu fassen: Nach einem enttäuschenden Tag auf dem Wasser, so die Geschichte, warfen sie, Jesu Weisung folgend, ein letztes Mal ihre Netze aus und wurden reich belohnt. Auch der heilige Petrus ist zu sehen, wie er mit ausgestreckten Armen auf Jesus zu watet. Der auferstandene Christus empfängt ihn in einem flammend roten Gewand, glückselig strahlend im seichten Wasser.
Witz tat etwas bis dahin Undenkbares, indem er die physische Welt malte, wie sie war. Dennoch ist seine Malerei irgendwie jenseitig, und das liegt nicht an den Fischern oder den Bergen, nicht einmal an dem Wunder. Obschon er große Sorgfalt auf die Darstellung von Licht und Schatten verwendet, spiegelt sich einzig die Gestalt Christi nicht im Wasser.
Durch dieses Weglassen bietet Konrad Witz einen frühen flüchtigen Blick auf das andere, metaphysische Genf, in dem die Gesetze des Menschen und der Natur nicht immer gelten.
In den vergangenen fünfzig Jahren ist just am Standort von Witz' Wunder an die Stelle Gottes der Reichtum getreten. Nachts erhellen Luxuslogos - Rolex, Breitling, Zenith - den Himmel. Auf der Wasseroberfläche des Sees spiegelt sich eine Stadt, die der realen gleicht und doch ihr Gegenteil ist: so wenig greifbar, so fließend und ortlos wie das echte Genf greifbar und verortet.
Im Genfersee schwimmen noch immer viele Fische: Barsche, um genau zu sein, die in den Restaurants mit Sauce Tartar und Zitrone serviert werden. Doch das eigentliche Geld kommt von dieser Geisterwirtschaft, die Genf beherbergt, in einem sicheren Kokon aus Neutralität, Verschwiegenheit und Steuerfreiheit.
Genf hat gerade einmal zweihunderttausend Einwohner, doch über ein Drittel des Weltgetreides wird von hier aus gehandelt. Auf dieselbe Weise wandern mehr als die Hälfte aller Kaffeesäcke der Welt »durch« die Schweiz, die meisten über Firmen in und um Genf. Die erste Filiale von Starbucks im Land eröffnete gerade einmal 2001; wenige Monate später bezog das Unternehmen seinen Kaffee bereits über eine eigene Schweizer Tochtergesellschaft. Es gibt andere Rechtsräume, darunter Singapur, die vergleichbar niedrige oder noch niedrigere Steuern anbieten. Doch mit einer Bank an jeder Ecke und einer Versicherung an jeder Biegung ist der Standort Genf zu vorteilhaft für das Unternehmen, um ihn aufzugeben.
Genf ist seit langem ein Drehkreuz für Öl - wenn man es als »Drehkreuz« bezeichnen kann, zumal die Barrel nie wirklich dort aufschlagen. Bis vor wenigen Jahren wurden zwischen 50 und 60 Prozent des russischen Rohöls von der Schweiz aus gehandelt, laut Recherche der nicht staatlichen Organisation Public Eye zumeist über Genf. Als das Schweizer Parlament sich nach Wladimir Putins Invasion in die Ukraine widerstrebend dafür aussprach, sich den Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland anzuschließen, verlagerte sich ein Teil dieses Handels nach Dubai - ein Rechtsraum, der Genfs Patchworkmodell aus Steueranreizen, Verschwiegenheit und professionellem Knowhow nachempfunden ist und diesem so sehr gleicht, dass Ölhändler die Stadt mittlerweile schon als das »neue Genf« bezeichnen. (Die Vereinigten Arabischen Emirate sind zwar reich an Öl, doch wurden auch hier 90 Prozent der Geschäfte getätigt, ohne dass der Rohstoff tatsächlich vor Ort war.)
Die Schweiz ist ein Binnenstaat. Was sie nicht daran hindert, einige der größten Schifffahrtsunternehmen der Welt zu beherbergen: Diese chartern und managen Schiffe von Genf aus und packen diejenigen, die die Gewinne einfahren, hinter dichte Schleier der Verschwiegenheit. Auf die Frage, warum die Schifffahrtsbranche sich so fern der Küste zusammengerottet habe, antwortet der Schweizer Rechtswissenschaftler Mark Pieth, dass seine Regierung schlichtweg nicht reguliere, was die Schiffe tun, es sei denn, es handle sich um eines der nur...
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