Der singende Gefangene und die Bibliothekarin mit nur einem Buch
In der vergangenen Nacht schlug Joma im Schlaf wild mit den Armen um sich. Das Bett unter ihm bebte. Soldaten waren hereingestürmt, um ihn zu verschleppen. Joma öffnete den Mund, konnte aber nur kaum hörbare, unverständliche Laute der Gegenwehr herausbringen. Ihm versagten die Worte. Er musste seine Ehefrau, seine Partnerin wissen lassen, was gerade geschah. Er musste sie zu einer Reaktion bewegen, auch wenn es am Ende zwecklos war. Er wollte Spuren von diesem Vorfall hinterlassen, bevor das vertraute Martyrium von Festnahme und Inhaftierung auf ein Neues begann.
Joma schlug Julie im Schlaf auf die Schulter. Sie wachte auf, verstimmt, aber auch besorgt. Joma hatte wieder einen Albtraum.
»Kinuha ako, kinikidnap ako, humilagpos ako (Sie haben mich verschleppt, entführt, ich habe mich gewehrt).« Wir befinden uns im Wohnzimmer, er erzählt mir von der letzten Nacht, er sitzt zusammengesunken in seinem Lieblingssessel, seine Augenbrauen zucken. Heute trägt er ein langärmeliges Poloshirt, seine Haare sind zerzauster als sonst. Vor einem Monat hat Eduardo Año, der Minister für für Inneres und Kommunalverwaltung, in Aussicht gestellt, mit der Unterstützung von Interpol endlich Joma Sison festnehmen zu lassen. Jomas Anwälte sagen, die Drohung sei nur Gehabe - leeres Gerede aus einem weiteren Sprachrohr, eine Tradition der philippinischen Bürokratie. Año ließ es so klingen, als würde Interpol im Namen der philippinischen Regierung handeln, aber die Organisation überwacht und koordiniert lediglich polizeiliche Informationen weltweit. Sie nimmt keine Verhaftungen für souveräne Staaten vor und zwingt Polizeikräfte nicht, den Wünschen der philippinischen Regierung Folge zu leisten.
Jomas Narben reichen weit zurück, lange bevor Duterte die staatliche Führung in den Philippinen übernahm und leere Drohungen einer bevorstehenden Festnahme aussprach. Jomas nächtliche Attacken wurzeln im traumatischen Geschehen von 1977. Im November des Jahres wurden er und Julie durch das Militär festgenommen. Sie sollten erst 1986 bzw. 1982 wieder freigelassen werden.
Heute, beinah fünfzig Jahre später, gelingt es dem Paar, über das Handgemenge der letzten Nacht zu scherzen und so den nach wie vor spürbaren Nachwirkungen der verhängnisvollen Erlebnisse von damals mit Humor zu begegnen. Julie stichelt: »Noong una naman, kapag nagna-nightmare ka, 'di ka nakakasakit (Früher hast du, wenn du Albträume hattest, niemanden verletzt).«
»Baka kunwari lang 'yong nightmare noon (Vielleicht habe ich ja nur so getan, als hätte ich einen Albtraum)«, stichelt Joma zurück.
»Suspetsa ko din, ang sakit no'ng hampas mo, e (Den Verdacht habe ich auch, dein Schlag hat richtig wehgetan)«, antwortet Julie lachend.
Sie beugt sich vor und durchsucht das Durcheinander aus Päckchen und Schachteln unter dem Sofatisch. Sie schenkt uns dreien Tee ein und setzt sich wieder. Letzte Nacht sei das erste Mal seit langem gewesen, dass Joma nochmals von einem Albtraum geplagt wurde, erzählt sie mir.
Ich frage sie, wie lange sie damals inhaftiert war, und ohne zu zögern antwortet sie: »Vier Jahre, vier Monate, einundzwanzig Tage.« Ihr Gedächtnis funktioniert mit ihren 81 Jahren immer noch tadellos. Nach ihrer Festnahme wurde Julie von Soldaten in einen gedrungen gebauten Wachturm in Fort Bonifacio gebracht, fernab von anderen Gebäuden des Armeehauptquartiers. Manchmal brachten Soldaten andere Personen, gegen die ermittelt wurde, in eine der wenigen Zellen im Inneren des Turms, aber deren Aufenthalt war immer nur vorübergehend. Die Festgenommenen wurden bedroht und verhört, dann aber wieder freigelassen. Julie war die einzige ständige Insassin des Wachturms. Bis heute weiß sie nicht, warum man sie besonders isoliert gefangen hielt.
In ihrer Gefängniszelle, größer als ihre jetzige siebzig Quadratmeter große Wohnung in Utrecht, hatte sie zwar viel Platz, aber nichts darin zu tun. »Wände ringsum«, sagt sie nachdenklich - es ist die naheliegendste Beschreibung einer Zelle, aber auch eine belastende Feststellung. Neben der Toilette und der Schlafmatte gab es nur einen einzigen anderen Gegenstand in Reichweite: ein Besen. Dass die Gefängniswärter dem weiblichen Häftling einen Besen gaben, war vielleicht eine zufällige Entscheidung gewesen, lässt sich aber auch als ein patriarchalischer Scherz auffassen. Welch grausame Ironie, »ein Zimmer für sich allein« zu haben, wie es bei Virginia Woolf heißt, aber das Zimmer ist ein Käfig und die einzig mögliche Beschäftigung besteht darin, den Boden mit »einem Besen für sich allein« sauber zu fegen. Jeden Morgen nach dem Aufstehen machte sich Julie mit ihrem Besen daran, dem Staub in ihrer Zelle zu Leibe zu rücken.
Julies Wärterin wohnte mehrere Stunden von Fort Bonifacio entfernt. Um kein Geld für die Fahrt zu verschwenden, insbesondere angesichts ihrer schlecht bezahlten Arbeit als Wärterin, schlief sie manchmal im Quartier des Gefängnisses. Die beiden Frauen unterhielten sich des Öfteren miteinander. »Das unterbrach die Monotonie«, sagt Julie. Sie brannte darauf, Geschichten aus der Welt da draußen und eine andere Stimme als ihre eigene zu hören. »Binigyan ako ng papel no'ng roommate ko na gwardya, isang pad pati panulat (Meine Mitbewohnerin, die Wärterin, gab mir etwas Papier, einen Schreibblock und einen Stift).«
Ausgestattet mit diesen zwei wesentlichen Dingen machte sich Julie an die Arbeit. Eine Welt voller Möglichkeiten tat sich ihr nun auf. »Araw-araw nagpapadala ako ng request sa officer-in-charge sa detention, si Melchor Acosta. Humihingi ako ng dagdag-papel, ballpen, libro. Araw-araw iyan (Jeden Tag schickte ich eine Anfrage an Melchor Acosta, den für unsere Inhaftierung verantwortlichen Beamten. Ich bat um mehr Papier, Stifte und Bücher. Und zwar täglich)!«, erinnert sich Julie und reckt ihre Arme in die Luft. »Tinatanong ko rin si Acosta kung kamusta si Jo (Ich fragte Acosta auch, wie es Jo gehe).« Jedes Mal versicherte Acosta ihr, dass Joma wohlauf gewesen sei.
Er log. Joma war den ganzen Tag über mit Handschellen an das Gestell der Pritsche in seiner drei mal fünf Meter großen Zelle gefesselt und konnte in diesem Raum, der mehr einem Hühnerstall glich, kaum aufrecht stehen. Er hatte zwar eine Toilette, aber wenn er sie benutzen wollte, musste er jedes Mal die Wärter bitten, ihm die Handschellen abzunehmen. Er vergleicht die psychische Folter in Isolationshaft mit großen Bleiblöcken, die auf seinen Verstand einhämmerten. Im Vergleich dazu waren die Schläge und das Waterboarding, denen er zuvor ausgesetzt gewesen war, nur wie die Schikanen in einer Studentenverbindung.
Bis heute ist die erzwungene Einsamkeit von damals der Ursprung seiner schlimmsten Albträume. Der Tremor, ausgelöst durch diesen mit nichts anderem zu vergleichenden Schmerz - die Angst, den Rest seines Lebens allein in einer Zelle zu verbringen, ohne jemanden, dem er gegenübertreten oder mit dem er sprechen kann - verfolgt Joma noch immer. Physische Folter fügt dem Körper Wunden zu, Isolationshaft aber hinterlässt bleibende Wunden in der Psyche [...]