Von Booten und Männern
Meine Güte, hatte der Mann Augen! Ich war so fasziniert, dass ich gar nicht sagen konnte, welche Farbe sie hatten. Hell waren sie, hell wie die Sonne und grün wie das Meer, um es mal pathetisch auszudrücken.
Mit zitternder Hand reichte ich ihm den Cappuccino-Becher. Er erfüllte wirklich jedes Klischee eines Mannes aus der Aftershave- oder Luxus-Unterwäschen-Werbung: die ideale Körpergröße, breite Schultern, volles grau durchwirktes Haar mit silbernen Schläfen. Er trug ein dunkelgrünes Hemd und gut sitzende Jeans. Ach, was rede ich: perfekt sitzende Jeans über einem perfekten Hintern. Ich entdeckte keinen Ehering. Ich versuchte, genauer hinzuschauen, wollte feststellen, ob sich eine Druckstelle oder ein weißer Streifen am Ringfinger befand, was darauf hindeutete, dass kurz vorher noch der sichtbare Beweis einer Bindung fürs Leben getragen wurde. Manche Männer machen das ja.
Da war aber nichts. Dafür fiel mir auf, dass er schöne Hände hatte. Und wahnsinnig erotische Unterarme. Braun. Muskulös. Behaart, nicht dicht, aber genau richtig.
»Hallo?«
Ich schreckte hoch. Schaute ihm krampfhaft wieder in die grünen Augen.
»Entschuldigung«, hörte ich mich sagen. »Äh, Sie wollten noch etwas?«
»Ja. Ich brauche noch ein paar Sachen fürs Boot.«
Fürs Boot. Prima. Genau meine Baustelle.
Ich hatte nicht lange nachgedacht, als Bettina mich anrief und fragte, ob ich in ihrem Hafenkiosk aushelfen kann. Ihr Mann war von einer Wespe gestochen worden, unglücklicherweise in die Zunge, und die war jetzt total angeschwollen. Die Kunden dachten, Hannes sei Inder oder besoffen, weil er nur lallen konnte und auf Fragen wie: »Kann ich für morgen Brötchen vorbestellen?« mit »Jallakallabsillä« antwortete und dabei verzweifelt herumgestikulierte. Ein unhaltbarer und auch nicht ganz ungefährlicher Zustand. Hannes musste sich in ärztliche Behandlung begeben und Bettina traute sich den Kioskbetrieb nicht alleine zu. Weil ich eine gute Freundin bin, habe ich spontan zugesagt.
Also stand ich hier am schönen Hafen in Laboe, in dem kleinen, pittoresken Ostseestädtchen auf der Sonnenseite der Kieler Förde, in dem Segel- und Motorjachten an den Stegen lagen, Möwen flogen und Touristen herumliefen, in Bettinas Hafenkiosk und nahm Bestellungen für belegte Brötchen entgegen, sortierte Zeitschriften, verkaufte Schokoriegel und Eis an die Eltern kreischender Kinder, schäumte Milch für Cappuccino in einer modernen, vollautomatischen Kaffeemaschine, die ich hasste, weil ständig irgendwas nicht funktionierte, und versuchte, eine gute Kioskmitarbeiterin zu sein.
Es war viel los an diesem Junitag. Nach anfänglichem Zögern war nun der Sommer mit voller Wucht angekommen und die Touristen verließen ihre Hotelzimmer und Ferienwohnungen, als würde es nur diesen einen schönen Tag im Jahr geben. Boote kamen an, die Crews waren hungrig und alle wollten Bockwürste, ständig musste ich irgendwelche Fragen beantworten (»Wo ist der Supermarkt?«, »Wo sind Klos?«, »Wo ist der Hafenmeister?«), aber ich murrte nicht, denn es war ja für einen guten Zweck.
Und dann stand er plötzlich vor mir, dieser Mann ohne Ehering, dieser Mann in den perfekt sitzenden Jeans, und brauchte noch was für sein Boot. In einem kleinen Extraraum unseres kleinen Kiosks konnte man nämlich auch Kleinkram für Boote erstehen. Also Klebeband, Segelmachergarn, Segelmachernadeln, Leinen, Gaskartuschen, Batterien, Motoröl und auch so Dinge, deren Namen ich vorher noch nie gehört hatte, zum Beispiel Schäkel, Schmelzsicherung, Splinte und Winschkurbeln. Bettina hatte mir Gott sei Dank die wichtigsten Begriffe mitsamt ihren Erklärungen auf einen Block geschrieben. Ein Schäkel zum Beispiel ist eine metallische Schraubverbindung für das Rigg eines Bootes, das Rigg nennt man Mast, Wanten und Stage, und die wiederum sind Stützdrähte, die den Mast halten, und so weiter und so fort. Auf dem Block stand sehr viel und vor mir stand der Mann, der was für das Boot brauchte. Ich seufzte. Irgendwie war das hier alles nicht meine Welt.
»Gern.« Ich lächelte den Mann nun verbindlich an. »Kommen Sie doch mit nach hinten.«
Ich ging an ihm vorbei und er roch nach Seeluft und einem Mann mit silbernen Schläfen und erotischen Unterarmen. Möglicherweise hatte ich einmal im Leben Glück und er würde mich, sobald wir im hinteren Raum angekommen waren, einfach schnappen, meinen Oberkörper nach hinten in seinen Arm biegen, wie damals Rhett Butler Scarlett O'Hara, und flüstern, dass ich die Frau seines Lebens sei, und würde mich auf seinen starken Armen aus dem Kiosk tragen. Oder er würde mich gleich hier, zwischen bruchfesten Tellern und Klebeband, verführen und dabei würde ein Farbeimer umkippen. Er, der Mann im grünen Hemd, würde einen Pinsel aus dem Regal nehmen und mit der Farbe ein Herz auf den Boden malen, dann vor mir knien und mich fragen, ob ich den Rest meines ...
»Ich brauche einen Impeller für einen Yanmar 9 GM 20.«
Ich stand wieder auf dem Boden der Tatsachen.
»Einen Impeller?«
»Ja. Und haben Sie Dyneema-Kern? Wenn nicht, nehme ich eben bemanteltes Dyneema und melke die Seele raus.«
Ich musste gar nicht erst auf meinen Block schauen, um zu wissen, dass diese Begriffe nicht draufstanden. Trotzdem - dem Himmel sei Dank, vielleicht war es Fügung! - wusste ich, was der im grünen Hemd meinte. Der im grünen Hemd ... das hörte sich wahnsinnig romantisch an. Irgendwie indianisch.
Also: Er brauchte ein Schaufelrad aus Gummi für die Kühlwasserpumpe eines bestimmten Bootsmotors der Marke Yanmar. Eine gute Marke, sozusagen unkaputtbar, wie man in Fachkreisen behauptete. Und Dyneema-Kern war der innere tragende Teil einer wenig dehnbaren Leine. Wenn es das nicht gibt, melkt man es sich quasi raus aus einer Leine, wo es halt drinsteckt. Ist so ein geläufiger Begriff unter Leuten, die mit Booten zu tun haben.
Warum ich das wusste? An einem meiner einsamen Abende, an denen Horst mal wieder in seinem blöden Hobbyraum saß, hatte ich vor dem Fernseher gehockt, mir eine Flasche Weißwein reingezwirbelt und schwachsinnige Dokus angeschaut. In diesem Fall eine Doku über Segler. Und aus irgendeinem Grund hatte ich mir diese idiotischen Begriffe gemerkt. Und noch mehr.
Mit traumwandlerischer Sicherheit ging ich zu den entsprechenden Regalen und holte die gewünschten Artikel. Ich legte sie vor den im grünen Hemd und strahlte ihn an.
Mir fiel noch etwas ein.
»Wie dick soll der Dyneema-Kern denn sein?«, fragte ich hoffentlich sehr professionell, und plötzlich spulte sich die ganze Doku vor meinem inneren Auge noch einmal ab. »Genügen acht Millimeter?«, fragte ich meinen Traummann.
Er blickte mich fast etwas bewundernd an.
»Acht Millimeter - das ist genau die Stärke, die ich brauche. Ich habe eine Sunbeam 26.«
Zack, da hatten mich meine Kenntnisse dann auch schon wieder verlassen. Ich wusste nicht im Geringsten, was eine Sunbeam 26 war. Ein Kreuzfahrtschiff? Ein Papierboot? Eine Motorjacht, auf der sich botoxgeformte Blondinen mit Bekleidungsphobien herumwälzten, Cocktails tranken und kreischend in die Wellen sprangen, während der im grünen Hemd seine Dichtung in den Yanmar-Motor einbaute und dann mit Öl im Gesicht bei den Weibern auftauchte und »Wer von euch will denn eingeölt werden?« fragte?
Aber ich bewahrte die Ruhe. »Wow! Ein tolles Boot!«
»Ja.« Er holte sein Portemonnaie raus. »Sie kennen sich ja echt gut aus. Hut ab.«
»Ach«, sagte ich. »Ich bin hier nur die Aushilfe. Immer vormittags. Der Mann meiner Freundin ist momentan wegen eines Insekts außer Gefecht gesetzt.« Was redete ich denn da?
Nun schaute der im grünen Hemd auch etwas verwirrt. »Aha. Was bekommen Sie denn?«
Nein. Er durfte noch nicht gehen. Rede weiter, du dumme Kuh.
»Nachmittags habe ich Zeit«, beeilte ich mich zu sagen. »Ab 14 Uhr.« O mein Gott, war ich wahnsinnig? Wie konnte ich mich nur so anbiedern? Seit der Sache mit Horst war ich irgendwie nicht mehr ganz zurechnungsfähig.
Der im grünen Hemd mochte mit Sicherheit genau solche Frauen überhaupt nicht. Allerdings sah er mich sehr freundlich an, während ich den Betrag zusammenrechnete.
»Das heißt, Sie hätten heute ab zwei Zeit?«
»Ja.« Meine Stimme war keine Stimme mehr, sondern nur noch ein dünnes Band aneinandergereihter Worte, die sich mühsam den Weg aus meinem Mund bahnten.
»Und hätten Sie Lust zu segeln?«
»Ja«, krächzte ich, obwohl ich das gar nicht wusste, denn ich hatte Boote, egal welche, bislang nur von Stegen oder vom Fernsehsessel aus gesehen. Mühsam formulierte ich dann: »25 Euro und 80 Cent.«
»Ich zahle mit Karte.« Er reichte sie mir und ich sah mit verhangenem Blick, dass er Fridolin Freiherr von Friedewald hieß.
Himmel. Himmel. Himmel.
»Wie lange segeln Sie denn schon?« Und ab jetzt begann ich, mich ins Verderben zu reden.
»Oh, schon seit Ewigkeiten. Mein Vater hatte immer Segelboote, und so musste ich ständig mit. Deswegen kann ich es richtig gut.«
Mein Vater war Lehrer und konnte nicht schwimmen.
»Prima.« Er schaute mich bewundernd an. »Das ist großartig. Segeln ist doch total klasse, oder? Dieses Gefühl von Weite und Freiheit, die Geschwindigkeit ...« Er kam sofort ins Schwärmen. »Wenn es nach mir ginge, würde ich auf einem Boot wohnen!«
»Das kann ich gut verstehen. Ich auch«, sagte ich dünn.
Er strahlte.
Ich ging zur Kasse und merkte, wie ich schwitzte. Der Freiherr im grünen Hemd folgte mir erneut. Nachdem der Bezahlvorgang abgeschlossen war, sagte er: »Dann kommen Sie doch heute Nachmittag einfach mit. Ich fahre raus bei dem Wetter! Und für Sie ist es...