Schweitzer Fachinformationen
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Ich finde die Pest zum Kotzen.
Man muss sich das mal vorstellen: Bloß wegen einer Ratte bekommt man plötzlich einen heißen Kopf, und dann bilden sich am ganzen Körper Beulen. Die Schmerzen sind unerträglich. Neun Dorfbewohner sind jetzt schon an der Pest gestorben, und ich weiß, dass es noch mehr werden. Da bevorzuge ich doch einen vereiterten Appendix. Das geht dann schneller mit dem Sterben. Der einzige Vorteil, den die Pest bringt, ist, dass man sich ab einem bestimmten Stadium keine Sorgen mehr über sein Aussehen und sein Gewicht machen muss. Das erledigt die Pest dann für einen.
Aber was rede ich da. Ich bin schließlich gesund und hoffe, das auch zu bleiben. Mein Name ist Lilian Knebel, ich bin siebzehn Jahre alt. Ich habe blonde Haare und bin darüber sehr froh, denn wenn meine Haare rot wären, hätte ich möglicherweise ein Problem. Ich habe auch keine unreine Haut oder gar Warzen im Gesicht, denn dann hätte ich ebenfalls ein Problem. Also, nicht mit mir selbst, sondern mit Richter Tiburtius oder Pater Quentin, der ziemlich dicke mit dem Erzbischof von Fulda ist. Die mögen alle keine Frauen mit roten Haaren und Warzen und machen gern mal kurzen Prozess. Dann müssen sich die Frauen mit den roten Haaren und den Warzen unangenehmen Verhören aussetzen. Hochnotpeinliche Verhöre, falls Sie verstehen, was ich meine. Die enden dann meistens damit, dass die Frauen gestehen, schon mal nachts auf einem Besen durchs Mittelhessische geflogen zu sein. Oder sie geben zu, schon mal ein Huhn für was auch immer geopfert zu haben. Oder so was Ähnliches.
Wir wohnen in Münzenberg. Das ist eine idyllische Ortschaft inmitten des hügeligen Hessenlands in der Gemarkung Mavelon. Wir, das sind ich, meine Eltern, meine sechs Geschwister und ungefähr siebenhundert andere Menschen. Alle von uns sind Untertanen. Derer von Pritzenheim. Die von Pritzenheimer wohnen auf der Burg Münzenberg, die hoch herrschaftlich über uns allen thront. Sie ist ungefähr dreihundert Jahre alt, und ständig bauen irgendwelche Handwerker daran herum. Ab und zu verliert einer der Handwerker durch das Aufeinandertreffen unglücklicher Zufälle eine Hand oder wird von einem recht großen Stein erschlagen, und ebenfalls ab und zu verliert einer das Gleichgewicht und stürzt in die Tiefe. Das ist allein schon deswegen nicht so schön, weil man leider ziemlich lange und auch tief fällt. Aber schon am nächsten Tag sind andere Handwerker da, die dann auch irgendwann von einem Stein getroffen werden oder herunterfallen. Nun ja. Mir tun die Leute leid, aber man gewöhnt sich eben an alles. Ich bin froh, dass mein Vater Bauer ist und nicht an der Burg herumbauen muss.
Ansonsten ist Münzenberg ein wirklich schönes Dorf mit breiten Gassen und eng beieinanderstehenden Häusern. Umgeben ist das Dorf von Laubwäldern und weitläufigen Feldern, die wir bewirtschaften. Jeder hier hat Vieh, und das Vieh weidet im Sommer auf grünen Weiden.
Wir schreiben das Jahr 1534. Es ist Frühling und schon ein wenig warm. So warm jedenfalls, dass wir in der Nacht die Tür ein Stück weit auflassen können. Das Vieh ist seit zwei Wochen wieder auf der Weide und muss nicht mehr bei uns in der Hütte hausen. Der Gestank ist ab und zu wirklich unerträglich.
Unerträglich ist auch der Graf. Gernot von Pritzenheim. Er ist ein unangenehmer Zeitgenosse. Sobald er auf seinem Schimmel ins Dorf geritten kommt, müssen alle seine Untergebenen alles stehen und liegen lassen und sich verbeugen beziehungsweise auf die Knie fallen.
»Heda, ihr Leut!«, pflegt der Graf zu rufen, während der Schimmel schnaubt und manchmal auch wiehernde Geräusche von sich gibt. Der Schimmel ist fast noch eingebildeter als der Graf. Er ignoriert die Leute und schlägt manchmal aus, und ich habe oft das Gefühl, er möchte lieber ein Rappe sein und kein gemeiner Schimmel. Pritzenheim geht oft ins Schankhaus und lässt sich da volllaufen. Natürlich ohne zu bezahlen. Er ist schließlich der Graf.
Wenn im Dorf geheiratet wird, kommt er ebenfalls angeritten und nimmt die Braut für die Dauer der Hochzeitsnacht mit auf seine Burg. Ius primae noctis eben.
Allein schon aus diesem Grund werde ich nie heiraten. Die Vorstellung, das Geschlechtsteil des Grafen auch nur anzuschauen, lässt mich erschaudern. »Dein Stecken und Stab trösten mich« bekommt dann mit Sicherheit eine ganz andere Bedeutung.
Aber ich schweife ab. Schließlich geht es hier nicht nur um den Grafen.
Wir sind eine ziemlich nette Gemeinschaft hier in unserem Dorf. Überschaubar. Ich mag fast alle. Manche sind sogar richtig nett. Zum Beispiel Bertram. Bertram ist Scharfrichter. Und mit ihm beginnt auch die Geschichte, die ich erzählen möchte.
»Was soll ich nur tun, Lilian, sag es mir!« Bertram ist völlig verzweifelt. In einer Stunde müssen wir alle am Schafott stehen. Eine erneute Hinrichtung steht heute auf dem Terminplan, und alle aus der Gemarkung Mavelon müssen teilnehmen. Das hat Graf von Pritzenheim so angeordnet. Wer einer Hinrichtung beiwohnt, überlegt sich im Anschluss
daran nämlich zehn- bis zwanzigmal, ob er zum Dieb oder Mörder wird. Ich mag keine Hinrichtungen. Sie kosten unsere Zeit, die Kühe werden nicht rechtzeitig gemolken, die Ziegen und Hühner und Karnickel nicht gefüttert, und die dummen Sprüche, die der Graf vor der Hinrichtung von sich gibt, mag ich noch weniger. Hinrichtungen bringen den ganzen Tagesplan durcheinander. Am nervigsten ist das Hängen, bis der Tod eintritt. Das kann Stunden dauern, und im Herbst oder Winter bekommt man kalte Füße, während der Delinquent ununterbrochen versucht, den Strick von seinem Hals zu lösen, was natürlich gar nicht geht, weil ihm die Hände auf den Rücken gebunden sind. Manchmal sind die Hinrichtungen aber ganz erträglich, nämlich dann, wenn Pritzenheim sich überlegt hat, den zum Tode Verurteilten in einem Eisenkäfig, der an der Burgmauer befestigt ist, verhungern oder verdursten zu lassen. Da kann man ja nicht die ganze Zeit dabeibleiben, das sieht selbst er ein. Das dauert ja bislang Ewigkeiten. Man muss nur aufpassen, dass man einige Wochen später nicht von einem Oberschenkelknochen oder einem Schädel getroffen wird, wenn man direkt unter dem Käfig vorbeiläuft oder -reitet. Das ist schmerzhaft. Und das Pferd könnte scheuen.
Nun gut. Zurück zu Bertram.
Bertram weint fast. Mit roten Augen schaut er mich an: »Ich konnte Köpfungen noch nie gut vertragen«, klagt er. »Weißt du, wie furchtbar das ist, wenn das Blut spritzt?« Ich nicke mitfühlend. Bertram stampft mit dem Fuß auf: »Warum musste ich Vater am Sterbebett versprechen, dass ich in seine Fußstapfen trete? Hätte ich doch nur abgelehnt. Ich wollte Müller werden. Aber nein, aber nein, ich soll ständig jemanden töten. Das sei Familienehre, hat Vater gesagt. Wie ich das hasse.«
Wir sitzen auf einer Holzbank vor Bertrams Hütte. Irgendwo verbrennt jemand Holz, und der beißende Geruch weht über uns hinweg. Bertram hat sich mir schon immer anvertraut, ich bin die Einzige, die weiß, dass er seinen Beruf aus ganzer Seele hasst. Aber alle Männer in Bertrams Familie waren Scharfrichter, und da blieb Bertram nichts anderes übrig, als auch Scharfrichter zu werden. Sein Vater hat ihm das Töten von der Pike auf beigebracht; schon mit sieben Jahren wusste Bertram, wie man einen Menschen so hängt, dass das Genick auch wirklich bricht. Er hat auch gelernt, mit Messern und Äxten umzugehen. Bei seiner ersten eigenständigen Hinrichtung war Bertram sechzehn und so nervös, dass er vorher mehrere Male in unseren kleinen Fluss gekotzt hat. Ich habe damals seinen Kopf gehalten und gebetet, dass niemand mitbekommt, dass Bertram vor lauter Angst kotzen muss. Sein Vater hätte ihn hingerichtet. Und mich dazu.
»Denk einfach an was Schönes«, versuche ich Bertram zu trösten.
Der sieht mich mit seinen tränenden Augen fassungslos an: »Wie soll ich denn an was Schönes denken, wenn ich diesem armen Opfer, das meiner Meinung nach sowieso wie fast alle unschuldig ist, den Kopf abtrenne?«, fragt er mich und schaut auf seine Hände. »Ich bin ein Mörder«, sagt er. »Ein Mörder, Mörder, Mörder!«
»Das stimmt«, gebe ich zu, sage dann aber schnell: »Aber du bist ein netter Mörder.«
Doch das hilft Bertram in diesem Moment auch nicht weiter. Schließlich muss er gleich einen Unschuldigen enthaupten.
»Ich könnte sagen, dass ich unpässlich bin«, meint er und sieht mich an, als ob er gerade die Idee seines Leben hätte. »Unpässlich sind nur Frauen«, erkläre ich ihm zum wiederholten Mal.
»Dann sage ich einfach, dass ich mich in letzter Zeit so fiebrig fühle und auch nässende Wunden habe. An den Beinen«, kommt es wieder von Bertram, der verzweifelt einen glaubwürdigen Grund sucht, um nicht die Messer zu wetzen. »Nein«, frohlockt er, »hier! Schau! Meine Hand! Sie eitert. Von innen. Man kann es von außen noch nicht sehen. Und mit der linken Hand kann ich nichts tun!«
Ich schüttele den Kopf: »Dann wirst du selbst hingerichtet«, sage ich und verdrehe die Augen. Es sind immer wieder dieselben Diskussionen und sie führen dazu, dass Bertram dann doch Köpfe abtrennt, Hälse stranguliert und Körper mit der Hilfe von Kaltblütern vierteilen lässt. Gar nicht selten muss er auch vorher foltern, was für ihn die größte Folter überhaupt ist. Zum Glück trägt er bei der Folter und auch bei den Hinrichtungen eine blickdichte Kutte, so dass die Zuschauer sein entsetztes Gesicht nicht sehen müssen. Aber ich weiß, wie er sich fühlt. Weil ich Bertram kenne, seit ich auf der Welt bin.
Die schlimmste Hinrichtung war die vorletzte. Bertram hatte sich am Abend zuvor in der Dorfschänke die Kutte volllaufen lassen und war jenseits von Gut und Böse. Barthel, der Handlanger, musste immer...
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