KAPITEL 1
»Wo ist Carla? In drei Minuten muss sie auf Sendung sein!«, schrie Björn Nilsson den Spätredakteur an. »Der Nachrichtensprecher ist gleich beim Wetter.«
»Ich weiß auch nicht, wo sie ist.« Hektisch stand Christian auf und lief den Gang entlang. Während er jede einzelne Tür öffnete, rief er: »Carla! Carla, hör auf, Witze zu machen! Du musst vors Mikro!«
»Verdammter Mist! Hallo! Hallo!« Verzweifelt bummerte Carla gegen die Toilettentür. Das verdammte Schloss ließ sich nicht drehen. Seit drei Jahren war es halb kaputt und seit drei Jahren versprach die Hausverwaltung, sich »darum zu kümmern«, und seit drei Jahren war selbstverständlich nichts passiert. Und heute ging gar nichts mehr.
Carla begann zu schwitzen. Verfluchter Mist. Niemand hatte mitbekommen, dass sie zur Toilette gegangen war, und Björn und Christian würden bestimmt nicht auf die Idee kommen, das Damenklo zu besuchen. Ansonsten war die Redaktion leer. Alle waren schon ins Wochenende abgeschwirrt. Es war Freitag und kurz nach zweiundzwanzig Uhr, in weniger als drei Minuten begann die zweistündige Sendung Blind Date, die Carla mit großem Erfolg moderierte. Bei Blind Date konnten sich Menschen bewerben, die Singles waren und nun endlich auf diesem Weg den Mann oder die Frau fürs Leben finden wollten. Jeder Anrufer musste eine Art Steckbrief von sich abgeben, und Carla stellte viele intime und auch sarkastische Fragen, um wirklich alles aus den Leuten herauszuholen. Jeden Abend aufs Neue gehörte die Zeit von zweiundzwanzig Uhr bis Mitternacht ihr und ihren Hörern, und schon einige hatten dank ihrer Hilfe mit ihrem Singledasein Schluss machen können. Sogar eine Hochzeit hatte es schon gegeben, auf der Carla natürlich Ehrengast gewesen war. Die Sendung machte ihr einen Heidenspaß - wenn sie nur endlich damit beginnen könnte.
Es war der Albtraum für jeden Moderator, zu spät zur Sendung zu kommen. Carla war es in ihrer langjährigen Moderatorentätigkeit exakt zwei Mal passiert. Das erste Mal hatte sie im Stau gestanden, und damals musste der Techniker eine halbe Stunde überbrücken. Es war die schlimmste halbe Stunde seines Lebens gewesen. Andreas, so hieß er, hasste es sowieso zu reden, er war ein absoluter Stockfisch, dem man jedes Wort wie einen Wurm aus der Nase ziehen musste, und dann so was. Andreas war so beleidigt gewesen, als Carla endlich nassgeschwitzt aufgetaucht war, dass er, der sowieso nur das Nötigste mit ihr sprach, sie von diesem Moment an komplett ignorierte. Das zweite Mal hatte sie schlicht und ergreifend vergessen, dass sie für eine erkrankte Kollegin einspringen sollte, und nachdem der Redakteur sie angerufen hatte, war sie mit Heißwickler in den Haaren, einer Feuchtigkeitsmaske im Gesicht und einem Jogginganzug in den Sender gefahren und hatte sich die ganze Zeit darüber gewundert, warum alle Leute sie so komisch anstarrten. Doch Carla hatte das Desaster erst bemerkt, nachdem der Hauptpförtner sie nicht ins Funkhaus lassen wollte, weil er sie nicht erkannt hatte.
Und heute würde es das dritte Mal sein, wenn Carla nicht schnell etwas einfiel. Wie gut, dass ich regelmäßig Sport treibe, dachte sie sarkastisch und band die langen rotbraunen Locken mit einem Haargummi zusammen, während sie gleichzeitig schon auf den Toilettendeckel kletterte. Sie war in der Tat durchtrainiert und kräftig und gratulierte sich dazu, keine High Heels und ein Kostüm zu tragen, sondern Jeans und flache Schuhe. Mit beiden Händen griff sie nach der Oberkante der Klotür und suchte mit dem rechten Fuß die Klinke. Nachdem die gefunden war, verschnaufte Carla einen kleinen Moment, dann probierte sie, mit dem linken Bein über die Tür zu kommen. Auch das funktionierte. Doch nun wurde es problematisch. Sie konnte sich zwar hochziehen und hing dann halb über dem Türrahmen, es war nur so, dass der Spalt zwischen Oberkante und Decke so eng war, dass sie sich unmöglich durchquetschen konnte.
»Das hätte ich auch vorher sehen können«, sagte sie zornig zu sich selbst. »Vielleicht komme ich unten durch den Türschlitz.« Sie wollte den Rückzug antreten, nur um eine Sekunde später entsetzt festzustellen, dass das nicht ging. Irgendwie hatte sie sich total verhakt. Sie steckte zwischen Tür und Decke fest und kam keinen Zentimeter vor noch zurück. Oh mein Gott, dachte sie verzweifelt. Ich werde hier oben sterben, ich werde verhungern und verdursten.
»Hiiilfeee!«, brüllte sie dann los, so laut sie konnte. »Björn, Christian, Hilfe!!!«
»Was soll ich denn jetzt bloß machen?«, fragte Björn panisch. »Ich kann nicht in ein Mikrofon sprechen. Ich bin gebürtiger Schwede.«
»Die weiteren Aussichten«, sagte der Nachrichtensprecher. »Teils sonnig, teils wolkig, morgen in den Abendstunden gewittrige Schauer. Höchstwerte um sechsundzwanzig Grad. Das waren die Nachrichten.«
Björn stand mit Christian im Studio, und die beiden starrten sich verzweifelt an. »Tu was«, flüsterte Christian flehend. »Du bist Techniker. Du musst jetzt was sagen. Wir haben sonst ein Funkloch. Wie soll ich das vor Klopfer rechtfertigen?« Klopfer, der Programmchef, hieß eigentlich Hanno Sievers und wurde deswegen Klopfer genannt, weil seine Vorderzähne beinahe waagerecht aus dem Mund gewachsen waren. Selbstverständlich wusste er nicht, dass er Klopfer genannt wurde. Er würde erst einen Tobsuchtsanfall bekommen und danach tagelang deprimiert durch den Sender laufen.
»Ich werde Carla töten«, sagte Björn leise. »Ich werde sie teeren und federn und danach von Pferden einteilen lassen.«
»Das heißt vierteilen und nicht einteilen«, korrigierte ihn Christian. Björn sprach zwar dialektfrei Deutsch, manchmal jedoch - zum Beispiel wenn er sich aufregte - setzte er Begriffe falsch ein. »Das kannst du ja machen, aber später. Jetzt muss hier was passieren.« Christian faltete die Hände. »Zieh den Regler hoch. Wir sind schon dreißig Sekunden drüber. Jetzt haben wir doch das Funkloch!«
»Ich weiß, dass wir dreißig Sekunden drüber sind. Ich hasse Carla. Sie macht das bestimmt extra . noch nie war ich in einer solchen Situation. Ich bin hilflos, wirklich hilflos. Wenn meine Freundin mich jetzt hören würde, totlachen würde sie sich. Weil ich ihr immer erzähle, dass ich alles im Griff habe.«
»Bitte .«, wimmerte Christian.
»Sie macht mich nieder, immer aufs Neue«, beklagte sich Björn. »Aber ich räche mich, glaub mir. Ich habe schon seit Monaten ein Behältnis nebenher. Das darf Tina natürlich nicht wissen. Aber ich sage dir, ein echter Schwede hat niemals nur eine Frau. Ein echter Schwede hat immer ein Behältnis . oh Gott!«
»Was ist?«, wollte Christian wissen.
Björn wurde knallrot und deutete schweigend aufs Sendepult. Die >on-air<-Lampe brannte. Er hatte versehentlich den Regler schon hochgezogen, und jeder, der »Hier in Hessen« gerade eingeschaltet hatte, war Zeuge dieses verheerenden Dialogs geworden. Und Zeuge davon, dass ein Schwede niemals nur ein Behältnis hatte.
»Blind Date hier mit Carla Wildenburg, hallo. Entschuldigt die Verspätung, Leute, aber so ist das, wenn man vor der Sendung noch mal wohin muss und dann die Tür nicht aufbekommt.«
Souverän erklärte Carla ihren Hörerinnen und Hörern, was ihr passiert war. Glücklicherweise war eine Raumpflegerin vorbeigekommen und hatte Carla mit dem Stiel eines Wischmopps aus ihrer prekären Lage befreit. Nun würde sie zwar überall blaue Flecken haben, aber wenigstens lebte sie. Nachdem sie die Begrüßung und die Ankündigung zweier Musiktitel hinter sich gebracht hatte, zog sie den Regler hinunter und ließ sich erschöpft auf den Hocker fallen. Grundgütiger, was für ein Abend. Und warum klingelte eigentlich ununterbrochen die Hörerhotline? Sie hatte doch noch kein einziges Verkupplungsgespräch geführt? Durch die Glasscheibe sah sie Christian, der sich im anderen Studio befand, in dem er die Anrufe für Carla entgegennehmen sollte. Er fuchtelte während des Telefonierens hektisch mit dem freien Arm hin und her.
»Was ist denn bloß los?«, wollte sie von Björn wissen, der neben ihr stand und an der Schneidemaschine Beiträge für die Frühsendung zusammenstellte. Normalerweise würde er als ihr Techniker die ihr verhasste Arbeit des sogenannten »Selbstfahrens« abnehmen, sodass sie sich nur auf die Moderation konzentrieren musste. Nur war Björn irgendwie fahrig und unkonzentriert, deswegen hatte Carla beschlossen, die Sendung komplett selbst in die Hand zu nehmen.
»Was soll los sein?«, kam es von Björn, der gerade den Kopfhörer abgesetzt hatte. »Nichts ist los.«
In diesem Moment tappte Christian herein. »Tina hat angerufen«, sagte er, und seine Stimme kippte fast. Mit großen Augen sah er Björn an.
Der tat so, als hätte er gar nicht zugehört, und widmete sich weiter seinem Beitrag. Christian kam näher und tippte ihm auf die Schulter. »Ich sagte, Tina hat angerufen. Deine Freundin.«
»Ja und? Ich arbeite. Ich möchte jetzt nicht mit ihr sprechen«, meinte Björn unwirsch. »Ich führe während meiner Arbeitszeit keine Privatgespräche.«
Christian war die Situation sichtlich unangenehm. »Sie will auch gar nicht mit dir sprechen«, sagte er, und Björn und auch Carla sahen ihn fragend an. »Sie hat gesagt, dass deine Sachen . Moment .«, er schaute auf einen Zettel, ». dass deine Sachen sich in den grauen Mülltüten befinden, die vorm Haus stehen. Links neben der Garage. Das . das Schloss der Wohnung ist ebenfalls schon ausgewechselt worden. Das soll ich dir ausrichten. Und du sollst es nicht wagen, dich noch mal bei ihr zu melden. Ja, das hat sie gesagt.«
Carla verstand überhaupt nichts mehr. »Wieso das denn?«, wollte sie von Björn...