Mallorca, Hotel Carrossa
Gott muss tierisch gute Laune gehabt haben, als er Mallorca erschuf.
So ein alberner Gedanke.
Aber einer, der sich jeden Morgen in seinen Kopf schlich, wenn er aus dem Fenster sah - in einen mit Schäfchenwolken betupften, geradezu unverschämt blauen Himmel, in silberglänzende Olivenbäume, in den zögerlichen Rest der zartrosa Mandelblüte. Ins Paradies.
Jeden Morgen hatte Sebastian diesen Gedanken, und er lächelte dabei. Er stellte sich dann immer einen grummeligen Gott mit Vollbart vor, der an Sibirien, Grönland und Island herumknetete, bis ihm entweder Petrus oder der Erzengel Gabriel auf die göttliche Schulter klopfte und sagte: »Ein bisschen freudlos, was du da gerade erschaffst. Mach doch zur Abwechslung mal wieder was richtig Schönes. Etwas mit Sonne und Palmen und Meer.«
Und Gott erkannte, dass beide recht hatten. Er überlegte kurz, lächelte, machte sich an die Arbeit - und bastelte Mallorca. Und das Hotel Carrossa auf einem sanften Hügel der Llevanten im Nordosten der Insel. Sebastians Arbeitsplatz. Seine sechs Richtigen im Lotto. Mit Superzahl.
Klirrrrrrklirrrrrrklirrrrrr! Schepper! Ein spitzer Schrei.
Sebastian zuckte zusammen. Und er musste wieder lächeln, als ihm eine zweite Redensart durch den Kopf schoss: Was kostet mich dieses Geräusch? Das hatte seine Großmutter immer gerufen, wenn er als kleiner Junge durch Haus und Garten getobt war und dabei etwas Zerbrechliches umgerissen hatte. Er hatte diese Frage immer gefürchtet, denn wenn es etwas richtig Teures war oder ein geliebtes Erbstück, das in Scherben vor ihm lag, schreckte sie vor einem Klaps auf die Wange nicht zurück. Keiner allerdings, der ihm besonders wehtat, dafür liebte sie ihn viel zu sehr. Ein mild vorwurfsvolles »Die Scherben fegst du bitte wieder auf«, gefolgt von einem besorgten: »Aber pass auf, dass du dich nicht daran schneidest.« Dann war alles wieder gut.
Wie an diesem Frühlingsmorgen.
Sebastian legte die Mallorca-Zeitung, in der er gerade die Stellenanzeigen von Jobsuchenden studiert hatte, zur Seite, stellte seinen Caffè Macchiato mit Schaumherz auf dem Bar-Tresen ab und ging die wenigen Schritte in den neu angebauten, sonnigen Frühstücksraum hinüber. Die raumhohen Glasfenster, die man bei entsprechenden Temperaturen einfach zur Seite rollen konnte, gaben den Blick auf die Landschaft frei. Und auf einen Orangenbaum, den er schon als Kind geliebt hatte. Weil es da, wo er geboren war, so etwas nicht gab. In Ostwestfalen nämlich. Da lagen Orangen in den Supermarktregalen, und viel zu oft waren sie klein und sauer. Dass man sie einfach und immer süß vom Baum pflücken konnte, hatte ihn schon als kleinen Butsche fasziniert, wenn er mit seinen Eltern und seinem Bruder Moritz auf Mallorca war. Genau hier auf dem weitläufigen Carrossa-Gelände, auf dem damals noch ein sehr renovierungsbedürftiges Herrenhaus und ein paar halb verfallene Ställe standen, hatten sie die tollsten Ferien verbracht. Die Eltern hatten die Finca für einen Schnäppchenpreis ergattert, für den eigenen Urlaub und für Freunde. An ein 5-Sterne-Hotel hatte damals niemand im Traum gedacht. Oft schliefen die Jungen nachts in einem Zelt unter dem Orangenbaum, sich immer wieder gegenseitig versichernd, dass ihnen die Dunkelheit keine Angst machte. Bis sie - meist eng aneinandergekuschelt - sanft ins Land der Träume glitten.
Erinnerungen. Lang war's her. Viel hatte sich verändert seither. Aus der Insel, die sich damals noch gegen einen zweifelhaften Ruf als »Putzfraueninsel« auflehnte, war ein bei Familien, Freundesgruppen, Paaren, Ex-Hippies und Oligarchen beliebter Urlaubs-Hotspot geworden. Moritz und er waren nach dem Abi und dem Besuch einer Hotelfachschule in Innsbruck ganz nach Mallorca gezogen, um aus dem Carrossa das zu machen, was es jetzt war: ein angesagtes Luxushotel mit Wohlfühlambiente. Auch mehrere exklusive Ferienhäuser gehörten dazu, alle mit Kamin, Pool, großzügigen Küchen. Ideal für größere Familien oder Freundesgruppen. Zwar hatten sie, wie alle Hotels auf Mallorca, wegen der Corona-Einschränkungen zwei schwierige Jahre hinter sich, aber dann ging es wieder so rasant bergauf, dass sie kein Gästeproblem hatten, im Gegenteil. Seit Anfang 2022 war das Carrossa wieder restlos ausgebucht. Nur die Personalfrage war etwas schwierig für die beiden Brüder. Aber Probleme, das jedenfalls war seine Lebensregel, waren dazu da, gelöst und nicht bejammert zu werden.
Ohne Eile und bewusst Ruhe ausstrahlend, ging er - freundlich »Hola, Hola, guten Morgen« nach links und rechts nickend - in die Richtung, aus der das laute, vermutlich kostspielige Geräusch gekommen war.
Klirrrrrrklirrrrrrklirrrrrr!
»Lo siento mucho!« Schuldbewusst fegte die junge Adora einen Scherbenhaufen zusammen, der vor wenigen Augenblicken noch ein hübsches Frühstücksgeschirr gewesen war. Das Tablett war ihr ganz offensichtlich aus der Hand gerutscht.
»Soy un camello bactriano.«
Sebastian konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Wie ein Trampeltier sah diese bildhübsche Brünette nun wirklich nicht aus. Völlig zu Recht hatten ihre Eltern sie Adora genannt, die Bewunderte. Sie machte ihrem Namen alle Ehre.
»Hay cosas peores!« Er reichte ihr eine Papierserviette, mit der sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln tupfte. »Es gibt wirklich Schlimmeres als ein paar kaputte Teller und Tassen. Achte nur darauf, dass du alle Scherben erwischst. Einige Gäste gehen nämlich auch barfuß zum Frühstück.«
Dankbar sah sie hoch.
»Muchas gracias.« Angestrengt fegte sie weiter. »In Zukunft passe ich besser auf. Ganz bestimmt.«
Sie lächelten sich an. Und auch die Gäste an den Tischen rundum lächelten. Sehr angenehm, wie der Chef mit dem Personal umging. Die freundlich-wohlige Atmosphäre, die den Aufenthalt in dieser Hotelanlage so besonders machte, endete also nicht vor den Zimmern der Angestellten.
Sebastian trat ins Freie und atmete tief durch. Der Blick über das weitläufige, hügelige, dicht bewachsene Carrossa-Gelände und der Duft der wild wachsenden Kräuter waren Balsam für jedes Gemüt. Die Natur, besonders im Frühling und ganz besonders hier rund um das Hotel, war einfach der allerbeste Seelenstreichler. Das hatte der liebe Gott wirklich gut hingekriegt.
Es vibrierte in seiner Jeans.
»Hola?« Er lauschte, und seine Miene verdüsterte sich. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
Am anderen Ende des großen Anwesens hatte sein Bruder Moritz eine ähnliche Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen.
»Tja, sie hat es wohl selbst gerade erst erfahren. War ganz unglücklich, aber .«
Moritz wusste, dass sich Sebastian nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ, aber momentan fühlten sie sich beide wie in einer endlosen personellen Pleiten-, Pech- und Pannen-Serie. Vor 14 Tagen musste ein Zimmermädchen Hals über Kopf zum Festland fliegen, um dort den kranken Vater zu pflegen. Der Chefkoch, den sie einem Kollegen aus La Gomera abgeluchst hatten, zog im letzten Moment ein Sabbatical auf den Malediven vor, und heute Morgen hatte ihm ein erst vor einer Woche eingestelltes Zimmermädchen ihre überraschende Schwangerschaft gebeichtet. Eine Risiko-Schwangerschaft. Arbeiten verboten. Der Personalschwund hörte einfach nicht auf. Und last, aber leider not least stotterte das W-LAN. Gerade war der IT-Elektroniker da gewesen und hatte sich mit einem nicht gerade ermutigend gemurmelten »Jetzt müsste es eigentlich laufen« verabschiedet. In einen dreiwöchigen Urlaub, Ziel unbekannt.
Während Moritz kurz darüber nachdachte, auf welches Drama er sich wohl als Nächstes würde einstellen müssen, blinzelte Sebastian kurz in den Strahlehimmel, und seine Laune passte sich langsam an.
»Uns fällt schon eine Lösung ein, Bruderherz. Ich ruf jetzt erst mal Luis an. Vielleicht hat der eine Idee. Bis später!«
Er ließ es lange klingeln, bis sich eine verschlafene Männerstimme meldete. Sein Gesprächsteilnehmer war offensichtlich noch nicht gesprächsbereit.
»Wer stört?«
»Es ist 8.30 Uhr, mein lieber Luis, oder liegst du noch in sauer, weil es gestern wieder mal spät geworden ist? Hat dir jemand den Schlaf geraubt? Ist deine lange Durststrecke vorbei?«
Luis seufzte am anderen Ende. »Schön wär's. Doch leider bin ich noch immer ein Frust-Single. Aber wir hatten heute Nacht einen Wasserschaden. Hab mich gerade erst hingelegt. Weshalb rufst du an? Spuck's aus, dann kann ich weiterschlafen.«
»Kurz und knapp: Wir brauchen dringend eine Aushilfe. Am liebsten ein kompetentes Mädchen für alles. Du kennst doch Gott und die Welt auf Mallorca. Weißt du zufällig jemanden?«
»Zufällig nein, aber wenn ich was höre .«, Luis gähnte herzhaft, ». melde ich mich.«
»Danke, mein Lieber. Schlaf weiter«, sagte Sebastian und stellte sein Handy auf sanfte Zimmerlautstärke, für lautlos war er zu gewissenhaft. Jetzt lockte erst mal das Frühstücksbüfett. Schlechte Nachrichten hatten ihm zum Glück noch nie den Appetit verdorben. Wie hatte John F. Kennedy noch so richtig gesagt? Frage nicht, was dein Hotel für dich tun kann, frag lieber, was du für dein Hotel tun kannst.
So ungefähr jedenfalls.
Sein Blick streifte die Leckereien, die Käse- und Aufschnittplatten, die frischen Salate. Sogar ein paar Schüsselchen mit Birchermüesli waren noch da. Ein kurzer Blick aufs Handydisplay: ausnahmsweise keine Nachrichten.
Kurz checkte er das Wetter in seiner Heimatstadt Paderborn. Eine Angewohnheit, seit er sich nur noch selten dorthin verirrte.
Null Grad, Schneeregen. Er steckte das Handy wieder weg. Die Sonne stand inzwischen fast senkrecht,...