Schweitzer Fachinformationen
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In einer freiheitlichen, pluralistischen Demokratie ist die staatliche Exekutive - allem voran die Polizei als ihr sichtbarster Arm - Garant für die Bürger:innen- und Freiheitsrechte der Bevölkerung. Die Erkenntnis, dass Mitarbeitende der Polizeibehörden in erster Linie den Auftrag haben, die Menschen in unserer Gesellschaft und deren Rechte zu schützen, muss sich wieder im Dienstalltag widerspiegeln und Maxime polizeilichen Handelns sein.
Während ich dieses Kapitel schreibe, lese ich in meiner Morgenzeitung von folgendem Vorfall:
Ein Polizeibeamter einer Einsatzhundertschaft wurde vor wenigen Tagen dabei gefilmt, wie er bei einem Einsatz auf einer Demonstration von sogenannten Querdenker:innen einer bereits festgenommenen Person einen heftigen Kniestoß gegen den Kopf versetzte.
Es könnte sich um einen Fall illegitimer Polizeigewalt handeln. Warum illegitim? Polizeibedienstete üben im Einsatz unter Zuhilfenahme körperlicher Mittel oder der ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeuge rechtlich gesehen stets Gewalt aus. In der Mehrheit der Fälle ist dies nicht gesetzeswidrig, sondern nötiges Übel der ihnen zugewiesenen Aufgabe. In diesem Fall aber ist der auf dem Video erkennbare körperliche Einsatz überflüssig, da die Person bereits weitestgehend fixiert war und von ihr keine aktive Gegenwehr mehr ausging. Auch war die Heftigkeit übermäßig und somit nicht mehr vom obersten Gebot staatlichen Handelns, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, gedeckt. Erschreckend auch, dass der - dank der in Berlin seit über einem Jahrzehnt eingeführten Kennzeichnung von uniformierten Polizeibediensteten - übergriffige Kollege als Zugführer, also als Führungskraft identifiziert werden konnte. Journalist:innen haben für den Zeitungsbericht ebenfalls recherchiert, dass genau jener Kollege bereits mehrfach wegen übermäßiger Gewaltanwendung aufgefallen sein soll. Dies steigert den Unwert der vorgeworfenen Handlung immens, da von einem Vorgesetzten stets eine Vorbildwirkung ausgeht. Bleibt zu hoffen, dass eine erfolgende und transparent berichtete Strafermittlung und interne Disziplinierung auch eine gewisse Nachricht an die Mitarbeitenden transportiert. Nämlich eine abschreckende.
Zu diesem Beispiel mutmaßlich illegitimer Polizeigewalt schreibt eine von mir geschätzte Beobachterin der Polizei auf Twitter: »Genau da wird der #Einzelfall zum #Polizeiproblem.«
Die Bezeichnung »Einzelfall« ist für mich ohne Zweifel das Unwort der vergangenen Jahre, wenn es um die Berichterstattung über die Polizei geht und um die Wahrnehmung polizeilicher Einsätze. »Einzelfall« war und ist ein Kampfbegriff, der vor allem bei Polizeilobbyist:innen - aber ebenso von obersten Dienstherren und vom Bundesinnenminister - reflexhaft gebraucht wird, um Vorwürfe zu relativieren.
Gern wird argumentiert, dass bei einer Gesamtzahl von einer Viertelmillion Polizeimitarbeitenden in unserem Land (hier unterscheiden sich die Angaben, einige Menschen zitieren auch gern die Zahl 300000; die Unklarheiten ergeben sich aus dem Umstand einer Vielzahl von Polizeibehörden und unterschiedlicher Zählweisen, zum Beispiel ob Pensionär:innen mitberücksichtigt werden) die wenigen Fälle - Einzelfälle eben! - nicht ins Gewicht fallen würden.
Diese Sichtweise ist fatal falsch, denn sie wird der Wichtigkeit, der Tragweite polizeilichen Eingriffshandelns nicht gerecht. Wenn eine Blumenfachverkäuferin extremistische Inhalte über einen Messengerdienst verbreitet, dann ist das eine Straftat, der nachgegangen werden muss. Ähnlich verhält es sich mit einem Busfahrer, der eine Prügelei anzettelt. Oder mit einem Bademeister, der seine Gäste im Schwimmbad beleidigt. Aber diesen Beispielen ist gemein, dass über sie in aller Regel niemand öffentlich berichten wird. Der aus den Taten erwachsene Unwert ist für den oder die jeweils Geschädigte(n) tragisch. Meist fühlt sich darüber hinaus aber kein erheblich größerer Personenkreis in seinen Rechten oder seinem Kriminalitätsempfinden beeinträchtigt. Deshalb werden solche Vorfälle es grundsätzlich auch nicht in öffentliche Pressemeldungen der Polizei und infolgedessen auch nicht in Medienberichte schaffen.
Anders verhält es sich definitiv mit Verfehlungen von Polizist:innen. Wenn Angehörige dieser Berufsgruppe prügeln, Menschen beleidigen oder gar volksverhetzende oder nationalsozialistische Inhalte verbreiten, dann sollte dies die Öffentlichkeit selbstredend interessieren. Und zwar nicht, um dadurch primär den Leumund der Institution Polizei und all ihrer Bediensteten zu beschädigen (das geschieht freilich als Folge sowieso), sondern weil die Bevölkerung einen Anspruch darauf hat zu wissen, welcher Art das Denken sowie das Handeln ihrer Exekutive ist. Gleichzeitig entstehen ein höherer Aufklärungsdruck sowie die Erwartung adäquater Reaktionen der zuständigen Aufsichtsbehörden. Normalerweise.
Denn kurios ist, dass in Deutschland ebendiese Dienstaufsicht, häufig angefangen beim direkten Vorgesetzten, die Zuständigkeits- und Verantwortlichkeitsleiter hoch zur Leitung der Polizeibehörde und sogar bis hin zum Innenministerium, oft eine bemerkenswerte Sinneseintrübung aufweist, wenn es um die Bewertung solchen Fehlverhaltens geht. Und hierfür mag es verschiedene Gründe geben:
Wir haben uns zu sehr an die Erzählung gewöhnt, die Polizei arbeite fehlerfrei. Das passiert schnell, wenn führende Verantwortliche in Politik und Medien Dinge sagen wie »Polizeigewalt hat es nicht gegeben« oder »Die Polizei hat heldenhaft gearbeitet«. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist der mit Abstand größte Polizeieinsatz in der deutschen Nachkriegsgeschichte, der G20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg, auf den sich die Zitate beziehen.
Noch nie hatte ich ein Ereignis erlebt - sowohl medial als auch durch eigene Erfahrung vor Ort -, bei welchem Realität und Wunschbild so sehr auseinanderfielen. Szenen maßloser Gewalt, auf beiden Seiten unnütz und stupide, aufgezeichnet von unzähligen TV-Kameras und Smartphones. Eine junge Frau in glitzernden Leggings, die rabiat von einem Sonderwagen gepfeffert wird. Wasserwerfer, die ihre Ladung mit hohem Druck gezielt auf Pressemitarbeitende abschießen. Zivil gekleidete Beamt:innen, die als sogenannte Tatbeobachter:innen inmitten von Demonstrationszügen aufwiegeln, um einen unfriedlichen Verlauf herbeizuführen. Und Entscheidungen der Einsatzleitung, die taktisch Nonsens sind und sogar Menschenleben gefährden.
Doch: »Ein Wasserwerfer hat keinen Rückwärtsgang«[1], so der Gesamteinsatzführer der Hamburger Polizei, Hartmut Dudde, bereits im Vorfeld des Großereignisses.
Die Fehlerkultur und das Kritikverständnis sind in der deutschen Verwaltung im Allgemeinen und innerhalb der Polizei im Besonderen nach wie vor desaströs. Hinweise werden häufig nicht beachtet, Vorwürfe werden in der Regel reflexhaft zurückgewiesen. Die Lobbygruppen (Gewerkschaften, Fachpolitiker:innen der Mitte und rechts davon) sind hierbei lauter als die eigentlichen Behörden, doch auch diese äußern sich - wenn überhaupt - meist Ausflüchte machend und relativierend, kaum differenziert und besonnen.
Es verwundert daher nicht, wenn sich diese Überzeugung, unfehlbar zu sein, von der Spitze eines Präsidiums aus bis hinunter zum frischesten Polizeimeisteranwärter durchsetzt.
Ganz selbstverständlich ist ein Grund auch, dass die Polizeibehörden landauf, landab händeringend nach ausreichend qualifiziertem Personal suchen. Mangelhafte Ausstattung, teils ruinöse Liegenschaften und stark verbesserungswürdige Alimentation: Die vergangenen Jahre unüberlegten Verwaltungssparens haben in nahezu sämtlichen Landespolizeien Schäden verursacht, die niemand in diesem Ausmaß erwartet hätte. Gleichzeitig wurden viele Arbeitgeber:innen am Arbeitsmarkt deutlich attraktiver für junge Berufsanfänger:innen. Zustände wie die kaum ausgeprägte Fehlerkultur sind ein deutlicher Dämpfer für sämtliche Rekrutierungsbemühungen und trüben das Wunschbild einer modernen, toleranten und zeitgemäßen Arbeitgeberin. Die Polizei hat sich somit in einen Teufelskreis manövriert. Zumal dadurch Menschen eher abgeschreckt werden, denen Werte wichtig sind wie Offenheit, Ehrlichkeit und die Fähigkeit, durch adäquate Reaktion auf eigene Fehler zu wachsen. In der Regel werden aktuell Leute vom Polizeiberuf angesprochen, mit denen ein Beibehalten des Status quo besser möglich ist.
»Es kann nicht sein, was nicht sein darf« führt in diesem Fall zu der falschen Annahme, dass sich eine offene und progressive Ausrichtung der Institution nachteilig auf die eh schwierige Akquise von neuem Personal auswirkt.
Der »Einzelfall« als Kampfbegriff zur Abwehr von Kritik an polizeilichem Fehlverhalten - so ermüdend es ist, ihn medial und aus dem Munde verantwortlicher Menschen in Politik und Ministerien zu hören, so sehr hat er sich mittlerweile selbst überholt. Als im Jahr 2020 die Menschen irgendwann nicht mehr mit Verwunderung reagierten, als auf ihren Smartphones die nächsten Push-Mitteilungen über wieder neu aufgeflogene rechtsextremistische Chatgruppen bei der Polizei erschienen, hat sich dieser Begriff selbst abgeschafft. Zwar bedienen immer noch Unverbesserliche dieses Narrativ, jedoch hat sich eine...
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