Schweitzer Fachinformationen
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Als er die roten Fingerabdrücke seiner Hand auf der leuchtenden Wange seines Sohnes sah, wusste er, diese Ohrfeige würde er sein Leben lang nicht mehr vergessen.
Claudia stürzte sich auf ihren Mann und umklammerte von hinten seine Arme.
»Das darf doch nicht wahr sein, Walter! Spinnst du?«, zischte sie ihm wütend ins Ohr. »Ich kann es nicht fassen, dass du unseren Sohn gerade geschlagen hast. Bist du verrückt geworden, oder was ist los, du Vollidiot!«, schimpfte sie, während sich Benni die Wange hielt und laut zu schreien anfing:
»Ich hab ihn gesehen. Es stimmt! Der Papa glaubt mir nicht, aber ich hab ihn gesehen.«
»Mein Gott, was ist hier eigentlich los? Was hast du gesehen, Benni?«, fragte Claudia genervt.
»Ich hab ihn gesehen, ich schwör es!«, rief der kleine Benni aus und hielt sich mit der linken Hand die pulsierende Wange. »Ich hab ihn dort gesehen. Einen Mann unter Wasser. Er ist tot. Ich hab's gesehen! Ich schwöre es«, rief er erneut und deutete mit dem Zeigefinger über das Heck des kleinen Beluga-Boots auf den See.
Der kühle Pelér wehte gleichmäßig aus nördlicher Richtung über den Gardasee und brachte Unruhe und starke Wellen mit sich, wodurch die unteren kälteren Wasserschichten an die Oberfläche gelangten. Claudia versuchte, auf dem Boot das Gleichgewicht zu halten, trat mit zwei unsicheren Schritten zu Benni und beobachtete nun an seiner Seite eine Gruppe größerer Wellen, denen kleinere mit gebrochenen Kämmen folgten. Die frühen Sonnenstrahlen erhellten bereits das Westufer des Sees.
»Benni, bist du dir sicher, dass du das gesehen hast?«, fragte sie erneut.
»Das ist doch nur wieder eine von seinen Fantasiegeschichten! Er soll endlich mit dem Lügen aufhören!«, warf Walter aufgebracht ein und wünschte sich, er könnte die letzte Minute ungeschehen machen. Für ihn war es unerträglich, dass bei seinem Sohn die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit manchmal nahezu nahtlos ineinander überging. Obwohl Benni schon in der Grundschule war, wurden seine Stofftiere regelmäßig lebendig, unsichtbare Freunde begleiteten ihn im Alltag und halfen ihm in schwierigen Situationen. Insgeheim warf Walter seiner Frau vor, dass sie die Fantasie ihres Sohnes zu lange gefördert und sich auf das Spiel mit den Märchenfiguren eingelassen hatte.
»Sei still, Walter!«, herrschte Claudia ihn an. »Ich will jetzt nichts mehr hören, du hast dich schon genug aufgeführt.«
»Es ist nicht gelogen, Mama, es ist wahr«, unterbrach Benni sie, den Tränen nahe. »Er war ungefähr zehn Zentimeter unter der Wasseroberfläche oder vielleicht auch ein bisschen tiefer - einen halben Meter oder so. Er hat einen grünen Pullover an, lange schwarze Haare und schaut nach unten.«
Marco, der Fahrer des Motorboots, war aufgrund seiner österreichischen Wurzeln für die deutschen Touristen zuständig. Er hatte das Gespräch verfolgt und zögerte nun. Fragend suchte er den Blick des Jungen. Dann prägte er sich mit einem schnellen Blick zwei Landmarken ein, kuppelte aus, legte das Steuerrad hart nach Backbord und führte eine langsame Kreisbewegung aus. Bereits in seiner Jugend hatte er mit seinem Vater in dessen kleinem Fischerboot viel Zeit auf dem See verbracht, und er erinnerte sich an die zahlreichen Fahrten, auf denen er an turbulenten Tagen Netze im See gesucht hatte, die die Strömung losgerissen hatte. Daher warf er sofort die kleine Boje ins Wasser, damit er in den Wellen des Sees eine Orientierungshilfe hatte. Marco, der erst seit diesem Sommer beim Bootsverleih der Ceccarellis arbeitete, versuchte zunächst, das Problem selbst zu lösen. Ohne die Stelle aus den Augen zu lassen, auf die der Junge gezeigt hatte, lenkte er das Boot dorthin, war sich aber beim Vorbeifahren nicht sicher, ob etwas im Wasser war. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, als er in die dunklen Wellen blickte. Verunsichert funkte er nun doch das Büro des Bootsverleihs an.
Der Mann im Büro nahm sofort ab. »Ja, was ist los?«, tönte es am anderen Ende.
»Ich bin es, Marco, wir haben ein Problem. Hier treibt vermutlich ein toter Mann im See.«
»Was, ein toter Mann? Vermutlich? Bist du dir sicher, Marco, oder ist das ein schlechter Scherz?«
»Nein, Paolo, ich denke, da war gerade ein Mann in den Wellen, der kleine Junge hat ihn gesehen.«
»Der kleine Junge?«
»Ja«, antwortete Marco und suchte im Verhalten des Jungen nach Anzeichen, die Zweifel an seiner Aussage aufkommen lassen könnten.
»Wie alt ist der Junge?«, fragte Paolo.
»Beim Briefing vor der Abfahrt hat der Vater gesagt, er sei acht.«
Acht Jahre, dachte Paolo mit einem schelmischen Lächeln. Mit acht habe ich die größten Lügen in die Welt gesetzt, habe täglich neue Abenteuer erlebt, riesige Wellen gesurft, in zyklopischen Stürmen gesegelt und mit meinem Onkel grundsätzlich Fische gefangen, die mehr als einen oder zwei Meter groß waren. Er zögerte. »Okay«, sprach er dann ins Funkgerät, »ich hoffe, du bist dir sicher, Marco. Wir haben hier schon eine Top-10-Liste mit Fehlinformationen, auf der ein verblödeter Teenager den dritten Platz belegt, weil er geschworen hat, dass er im Wasser ein Ungeheuer gesehen hat, das wie Nessie vom Loch Ness aussah. Falls es nicht wahr ist, was der Junge sagt, gibt es gewaltigen Ärger.«
»Ich weiß, aber .«, unterbrach ihn Marco.
»Wir haben unsere Glaubwürdigkeit bei der Polizei noch nicht verspielt, aber Fehlinformationen können wir uns nicht mehr leisten.«
»Ich glaube dem Jungen, Paolo, er hat gerade eine Ohrfeige vom Vater bekommen, hält aber an seiner Story fest. Es muss ihm ernst sein, oder?«
»Okay, okay. Bleib ganz ruhig. Schick mir deine Koordinaten, ich informiere die Wasserpolizei. Und bitte, bleib, wo du bist, ja?«
»In Ordnung. Ich warte.«
Am Donnerstag hatte die Familie Schwarz in der Grundschule eine Entschuldigung für Benni abgegeben, dass er krankheitsbedingt zwei Tage fehlen würde, und sich dann von Holzkirchen in Richtung Gardasee aufgemacht, um ihre Rosenhochzeit zu feiern, das zehnjährige Bestehen ihrer Ehe. Sie wollten das verlängerte Wochenende in Garda verbringen. Inoffiziell sprachen die Schwarz' vom Lago di Monaco, dem Münchner See, wodurch sie ihn einfach eingemeindeten, denn der See mit seinem mediterranen Klima und der reizvollen Landschaft war für sie das schönste Ausflugsziel für ein verlängertes Wochenende. Die Reise führte die Familie über Innsbruck, und sie machten einen kurzen Halt am Brenner und einen längeren in Trento. Auf der Fahrt plauderten sie und hörten Bennis Hörspiele, hatten aber auch Gelegenheit, ihre Pläne für die folgenden drei Tage noch einmal durchzugehen.
Walter, der vor Jahren auf der Fahrt nach Venedig einmal einen Abstecher nach Verona gemacht hatte, war ein wenig missmutig, weil es ihnen nicht gelungen war, diesen Ausflug drei Wochen früher, genau am Hochzeitstag, zu machen, da sich Claudias berufliche Verpflichtungen nicht verschieben ließen. Denn dann wäre er in die Zeit des Opernfestivals gefallen, und sie hätten am Samstag Aida von Giuseppe Verdi in der Arena von Verona hören können. Claudia war eine talentierte Klavierspielerin und Liebhaberin klassischer Musik, doch besonders die Musik von Verdi hatte es ihr angetan.
Bei der Einfahrt in den Ort fuhr Walter langsamer. Die kleine Stadt stand in lieblichem Kontrast zu den schroffen Berggipfeln. Vor seinen Augen taten sich rechts der blaue See und links die unverwechselbare Silhouette Gardas auf. Die sanften Hügel mit den venezianischen Palästen und dem verwinkelten Altstadtkern fielen zu dem breiten Seeufer hin ab. Claudia ließ das Autofenster herunter. Sie atmete tief ein und spürte den Duft von süßer Myrte und Oleander. Eine sanfte, warme Brise brachte den betörenden Geruch des Südens ins Wageninnere.
Besonders auf die Sonnenuntergänge, für die Garda bekannt war, freute sich Walter. Als sie kurz vor dem Abendläuten der Santo Stefano Kirche im Zentrum Gardas in ihrer kleinen Ferienwohnung ankamen, tauchten die letzten Sonnenstrahlen die Stadt in ein sanftes Licht, und Walter wollte nach der langen Autofahrt einfach nur den Seeblick in einem der vielen Restaurants oder Cafés genießen und sich dem Nichtstun hingeben.
Hinter dem Haus plätscherte der Torrente Gusa, ein schmaler Bach, und sie beschlossen, die wenigen Meter zur Uferpromenade zu gehen. Dort angekommen, sahen sie, wie die letzten weißen Wolkenfetzen in warmes Rot getaucht wurden und unzählige Wellen des Sees das letzte Tageslicht reflektierten. Froh, endlich am See zu sein, schlenderten sie die Promenade entlang, während sich langsam die Nacht über Garda legte. Die kleinen Lichter auf der gegenüberliegenden Uferseite wurden mit jeder Minute deutlicher, und über ihnen erblühte der gewaltige Abendhimmel mit seinen funkelnden Sternen. Benni, der schon seit geraumer Zeit über Hunger klagte, drängte Claudia und Walter schließlich, nach einem Restaurant Ausschau zu halten.
Am Morgen des folgenden Tages besuchten sie gleich den Wochenmarkt von Garda. Walter spürte sofort das Flair italienischer Lebensfreude. In dem allgemeinen Durcheinander und der Vielfalt an Farben und Gerüchen versuchte er, das eine oder andere Schnäppchen zu erwischen.
Als Ausgleich zu dem Stress in seiner Steuerkanzlei, die ihn mit ihren zehn Mitarbeitern ordentlich auf Trab hielt, empfand Walter am Nachmittag den Besuch im Weingut Lenotti als sehr wohltuend. Der Familienbetrieb, der seit 1906 den bekannten Rotwein Bardolino Classico herstellte, wurde bereits in der...
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