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DER LETZTE MUND
Zweimal war meine Mutter auf der Titelseite einer Zeitung abgebildet, und einmal beinahe. Das erste Mal im Jahr 1966, drei Jahre bevor sie in die Niederlande kam. Die Times of India druckte ein Foto ab, auf dem einige Pflegerinnen am Krankenbett eines großen Filmstars standen. Eine dieser Krankenpflegerinnen war meine Mutter. Besser gesagt: eine der grauen Wolken war meine Mutter. Die Überschriften hatten an Schwärze eingebüßt, das Foto an Schärfe. Geblieben war ein großer, dunkler Fleck (der Filmstar) und zahllose graue Pünktchen (sechs oder sieben bildschöne indische Krankenschwestern). Diese Ausgabe der Times of India wurde im Bankschließfach meiner Mutter aufbewahrt.
Ganz selten holte meine Mutter die Zeitung aus dem Schließfach, um sie Besuchern zu zeigen. Man konnte die Leute, die uns besuchten, in zwei Gruppen einteilen: diejenigen, die das Titelblatt der Times of India nicht zu sehen bekamen, und diejenigen, die es andächtig wie ein Kultbild betrachten mussten. Oft zeigte ein Besucher auf die falschen Pünktchen, doch meine Mutter korrigierte den Fehler nie. Dafür war sie zu stolz.
Ich wusste, welche Ansammlung von Pünktchen meine Mutter war. Im Raum mit den Schließfächern hatte sie mir einmal ins Ohr geflüstert: »Siehst du diese grauen Tüpfelchen, die immer heller werden? Das bin ich. Ich halte die Hand von Prithviraj Kapoor.« Meine Mutter war die Ansammlung von Pünktchen unmittelbar am Bett des Filmstars.
Die andere Titelseite, auf der meine Mutter abgebildet war, durfte niemand zu Gesicht bekommen. Ich selbst habe die Zeitung nur an dem Tag gesehen, als sie bei uns abends durch den Briefschlitz fiel, Donnerstag, den 12. Dezember 1996. In meiner Erinnerung war es ein kalter, weißer Tag, der Wind scharf wie eine Sense. Auf dem Kralingse Plas waren viele Eisläufer unterwegs. Ich hatte mir die Holzschlittschuhe eines Nachbarn ausgeliehen und stellte mir vor, ich wäre Bart Veldkamp, der Olympiasieger. Vom Ufer aus schaute mir meine Mutter zusammen mit meinem ältesten Bruder zu. Mein ältester Bruder kann nicht eislaufen, weil er auch nicht lesen, schreiben, rechnen oder die Uhrzeit ablesen kann. Er kann aber gut niesen, jedenfalls, wenn er einen Niesanfall hat.
Am 12. Dezember 1996 hatte mein ältester Bruder einen Niesanfall. Alle paar Sekunden schien seine Nase zu explodieren, und einmal pro Minute schallte das Signal eines Schiffshorns über den Kralingse Plas: Mein Bruder schnäuzte sich in seinen Jackenärmel.
Einmal bekam er in einem Restaurant einen Niesanfall, als das Hauptgericht serviert wurde. Tacos mit braunen Bohnen und saurer Sahne. Wenn unsere Familie einmal auswärts aß, gingen wir immer zum Mexikaner Popocatépetl im Alten Hafen. Bevor wir aufbrachen, musste jeder von uns einen halben Liter Leitungswasser trinken, denn im Popocatépetl durften wir nichts zu trinken bestellen. Meine Mutter fand die Getränkepreise in Restaurants exorbitant hoch. Für den Preis von einem Gläschen Cola im Restaurant bekam man im Supermarkt zwei Anderthalb-Liter-Flaschen Cola, im Sonderangebot manchmal sogar drei. Wenn der Kellner an unseren Tisch kam und fragte, ob er uns schon etwas zu trinken bringen dürfe, mussten wir im Chor »Nein, danke« sagen. Auch mein Vater. Das Essen fand meine Mutter ebenfalls teuer, aber ums Essen kam man in einem Restaurant nun mal nicht herum.
Im Popocatépetl, dem Restaurant meiner Jugend, wurde mein ältester Bruder von einem furchtbaren Niesanfall heimgesucht. Kaum hatte uns der Kellner guten Appetit gewünscht, flog der Rotz durch die Gegend und landete auf den Tacos.
»Das schmeckt man nicht durch«, sagte meine Mutter und aß seelenruhig weiter.
Mein ältester Bruder biss auch etwas von einem Taco ab, nieste es aber gleich wieder aus.
Mein Vater verlor die Geduld. »Hör auf!«, rief er wütend. »Hör auf!«
»Das mache nicht ich«, sagte mein Bruder, der nicht lesen, schreiben, rechnen oder die Uhr ablesen kann, »das macht das selbst.« Und er zeigte auf seinen Körper.
Meine Mutter hatte den Fotografen kommen sehen. Er hatte die beiden umkreist wie ein Raubtier die Beute. »Eine braune Frau«, sagte meine Mutter, wobei sie mit der Abendzeitung wedelte. »Er wollte eine braune Frau im Schnee fotografieren!«
»Vincent Mentzel«, bemerkte mein Vater stolz. »Kein Geringerer als Vincent Mentzel hat dich fotografiert!«
»Wer?«
»Vincent Mentzel. Er hat sogar die Königin fotografiert.«
»Wenn ich diesen Vincent Mentzel erwische«, rief meine Mutter, »verpasse ich ihm eins mit dem Nudelholz.«
Das Problem bestand darin, dass meine Mutter nicht für ein Foto gekleidet war; die Sachen, die sie trug, waren mehr als fadenscheinig. Meine Mutter ist eine kleine Inderin von großer Sparsamkeit. Der israelische Schriftsteller Meir Shalev schreibt in seinen Erinnerungen: »Mit dem Duschwasser wurde die Wäsche gewaschen, mit dem Waschwasser der Boden gewischt und mit dem Wischwasser der Garten gewässert.« Die Sachen, die meine Mutter am 12. Dezember 1996 anhatte, waren zuerst von meinem ältesten, danach von meinem mittleren Bruder getragen worden und zu guter Letzt von mir auf Spielplätzen und in Baugruben verschlissen. Auf der Titelseite des NRC Handelsblad prangte meine Mutter in Lumpen, die man eher an einer Pennerin erwartet hätte. Und neben ihr auf dem Foto mein ältester Bruder: Rotz am Kinn, Rotz an der Jacke und Rotz an den Fäustlingen.
»Wie soll ich mich noch aus dem Haus wagen?«, fragte sie. Wir wohnten schließlich in der Tiberiaslaan in Kralingen, jeder dort las NRC Handelsblad. Jeder hatte das Foto meiner Mutter gesehen. Die braune Frau in Lumpen. Die Frau, die sie nicht sein wollte und doch hin und wieder war, weil die Macht der Vergangenheit nun einmal überwältigend ist. Armut, Krieg und neun ältere Geschwister haben mehr als nur einen Kratzer im Charakter meiner Mutter hinterlassen.
»Ich war der letzte Mund«, erzählte sie mir irgendwann und fügte flüsternd hinzu, Moslems hätten die Heimat ihrer Familie erobert. Meine Mutter wurde in einer schweren Zeit als zehntes Kind geboren. Als sie drei Wochen alt war, musste die ganze Familie flüchten. Die Mutter meiner Mutter war so verängstigt, dass ihre Brüste keine Milch mehr produzierten. Der letzte Mund suchte Nahrung, fand aber nichts. Keinen Tropfen. Das Leben meiner neugeborenen Mutter wurde von einer Ziege gerettet. Ihre älteste Schwester sorgte dafür, dass sie mehrmals am Tag gierig am Euter dieser Ziege saugen konnte. Pucha, so lautete der Kosename meiner Mutter, so wurde sie von ihren neun älteren Geschwistern genannt. Pucha, nach dem Geräusch ihres saugenden Mundes an den Zitzen der Ziege. Puchapuchapucha. Eine Geschichte, die mich verfolgt, die auch mir sagt, wo ich herkomme.
Jahre später wurde ich selbst von Vincent Mentzel für die Zeitschrift des Theaterfestivals De Parade fotografiert. Den ganzen Sommer sollte ich im Rahmen des literarischen Programms aus eigenen Werken vorlesen: Rotterdam, Den Haag, Utrecht, Amsterdam. Während die Kamera immer wieder blitzte und klickte, erschien allmählich ein Lächeln um meine Lippen.
»Wunderbar«, sagte Mentzel. »Schön, sehr natürlich.«
Ich dachte an meine Mutter, die mit dem Nudelholz ausholt.
Zu erwähnen ist noch die Titelseite, auf der meine Mutter beinahe abgebildet worden wäre. Es war eine etwas kleinere Zeitung, nicht das Handelsblad, nicht die Times of India, sondern De Ster van Kralingen, ein wöchentlich erscheinendes Anzeigenblatt in unserem Stadtteil. Außer Berichten über Hundertjährige oder vermisste rote Kater enthielt es vor allem zahlreiche Inserate örtlicher Lebensmittelhändler mit Hinweisen auf Schnäppchen und Sonderangebote. Es war das Lieblingsblättchen meiner Mutter, sie verschlang es Woche für Woche.
Auf jener berüchtigten Titelseite des Ster van Kralingen ist das Foto einer hellhäutigen Frau auf einem Omarad zu sehen. Am Lenker baumeln volle Einkaufsbeutel. Die Frau ist Ans de Ruiter, die letzte Kundin von Den Toom, einem lokalen Supermarkt, der nach drei Jahrzehnten von der Handelskette Albert Heijn geschluckt worden war, dem großen Allesfresser. Die Schließung wurde mit Sonderaktionen und Dumpingpreisen gefeiert.
Das Foto ergänzte De Ster um ein kurzes Interview mit der hellhäutigen Frau, hauptsächlich Fragen zum Inhalt der Beutel am Lenker.
De Ster: »Was haben Sie gekauft?«
Ans de Ruiter: »So viel wie möglich.«
Es gab auf der Welt also noch eine Frau wie meine Mutter.
»Armer Herr de Ruiter«, murmelte mein Vater.
Am Ende des Berichts wurde auch meine Mutter erwähnt. Dass sie seit über zwanzig Jahren bei Den Toom eingekauft hat, war da zu lesen, dass alle Supermarkt-Mitarbeiter von den Regalnachfüllern bis zu den Kassiererinnen sie kannten. Und dass sie gern die allerletzte Kundin gewesen wäre, eine Ehre, die nun jedoch jemand anderem zuteilgeworden war.
Ans de Ruiter.
Als diese Zeitung bei uns durch den Briefschlitz gefallen war, begann meine Mutter, auf Hindi zu schimpfen. Ich spreche nicht fließend Hindi, kann aber fließend auf Hindi schimpfen. Meine Mutter wünschte sich für uns eine glänzende Zukunft und sprach deshalb immer Niederländisch. Manchmal sogar mit dem Zungenspitzen-R, das unsere Nachbarinnen rollen ließen. Doch in gewissen Augenblicken, wenn die sozialen Hemmungen plötzlich wegfielen, brach aus meiner Mutter eine Sturzflut indischer Schimpfwörter hervor. Vielleicht waren meine Brüder und...
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