1. Das Märchen vom Hirten
Es war einmal ein Junge, der wollte gern etwas Geld verdienen. Deshalb ging er auf die Dörfer. Er ging zu einem Bauernhof. Der Bauer stand vor der Tür.
»Bauer, hast du auch Arbeit für mich?«
»Ja«, sagte der Bauer, »ich hätte schon Arbeit für dich. Ich brauche dringend einen Hirten.«
»Wieviel verdiene ich dann?«
Der Bauer nennt eine Summe. Die ist ziemlich hoch, so daß der Junge sich bereits die Hände reibt. Aber o weh, der Bauer sagt weiter:
»Du mußt wohl wissen, was du tust. Ich habe schon mehrere Jungen als Hirten gehabt, und sie sind alle umgekommen.«
»Wie, umgekommen?« Der Junge erschrak.
»Ja, umgekommen. Neben meinem Land liegt ein Stück Land, das drei Riesen gehört. Dort wächst viel besseres Gras als bei mir, und die Schafe ziehen immer dorthin. Bemerken die Riesen das, dann töten sie den Hirten.«
Das sah nicht gut aus, und der Junge dachte kurz nach. Sollte er die Stelle annehmen oder nicht? Er riskierte es. Er nahm sie an.
An diesem Tag brauchte er nicht mehr mit den Schafen hinauszuziehen, weil es dazu schon zu spät war. Was tat der Junge? Er machte sich rasch auf den Weg in die Stadt und kaufte dort beim Wirt eine Flasche Schnaps und beim Apotheker Schlafpulver. Das Pulver mischte er in den Schnaps.
Am nächsten Morgen zog er mit den Schafen los. Die Schnapsflasche hatte er eingesteckt.
Als er eine Weile gegangen war, verließen die Schafe plötzlich den Pfad und liefen auf ein Stück Land; es war ein Wunder, wie das aussah. Es war voll vom herrlichsten Klee. Die Tiere ließen es sich gut schmecken, aber der Junge dachte gleich:
>Das geht schief. Jetzt geraten wir ins falsche Fahrwasser. Das ist bestimmt das Land der Riesen.< Deshalb versuchte er mit aller Gewalt, die Schafe von dort wegzutreiben, aber was er auch versuchte, es half nichts. Für die Schäfchen war es das Schlaraffenland, und keine zehn Pferde würden sie wegziehen können.
Da kam ein Riese dazu. Er hatte an seinem Gurt ein großes Schwert hängen.
»Was machst du auf meinem Land?«
Der Junge bekam schreckliche Angst, als er die Stimme hörte. »Die Schafe liefen hierher«, sagte er kleinlaut.
»Nichts als Ausreden, du bist ungehorsam und so sollst du sterben.« Und der Riese hob das Schwert.
Der Junge flehte um sein Leben. Er sei noch so jung und würde es nie wieder tun, und so weiter. Aber es half alles nichts.
»Tot sollst du sein«, sagte der Riese, und schon schwang er das Schwert. Da sagte der Junge:
»Wenn ich denn schon sterben muß, so will ich nicht als dein Feind in den Tod gehen. Ich habe noch etwas in der Flasche. Wollen wir davon einen zu uns nehmen, einen Freundschaftstrunk?«
Das gefiel dem Riesen, und schon bald hatte er die Flasche an den Lippen und trank sie in einem Zug aus, denn er war ja ein Riese. Aber der Trunk kam ihn teuer zu stehen. Als der Schnaps die Kehle hinuntergelaufen war, wurde er plötzlich so schläfrig, daß er ohne weiteres hinsank und sofort zu schnarchen begann, daß die Bäume zitterten.
Jetzt war der Junge im Vorteil. Er schnallte das Schwert des Riesen ab, schwang es hoch und patsch, mit einem Schlag schlug er den Kopf des Riesen ab.
Das war nun ein Feind weniger. Er ließ die Schafe noch eine Weile weiden und die fraßen sich rund und dick. Dann begab er sich froh mit seinem Vieh auf den Weg zum Bauern.
Der Bauer sah erstaunt auf, als der Junge da gesund und munter vor ihm stand.
»Du bist ein Kerl«, sagte er, »die Schafe satt und du völlig unversehrt.«
Der Knecht verriet jedoch nicht, wie er es gemacht hatte. Am selben Abend aber begab er sich wieder in die Stadt, wo er sich nochmals mit Schnaps und Pulver bevorratete.
Der nächste Tag verlief ebenso wie der vorige. Wieder gingen die Schafe auf die üppige Kleeweide, und der Junge konnte sie, was er auch versuchte, nicht davon fernhalten.
Und jawohl, etwas später war schon wieder ein Riese da, noch gewaltiger als der erste.
»Ich werde dir das Handwerk schon legen«, sagte er, und es klang, als donnerte es.
Der Junge, der sich keineswegs wohl in seiner Haut fühlte, setzte wieder all seine Redekünste ein, um sein Leben zu retten und um den Riesen zu erweichen, aber es nützte nichts.
»Du wirst sterben« war alles, was der Riese dazu sagte.
Da holte der Junge die Flasche aus der Innentasche und bot dem Riesen einen Schluck an.
»Ich will doch nicht als dein Feind sterben«, sagte er.
Der Riese, der auf Schnaps versessen war, hatte die Flasche in einem Zug geleert, und sofort darauf war er benebelt und fiel ausgestreckt ins Gras. Der Junge nahm das Schwert, und wie den vorigen Riesen brachte er auch diesen um. >Das sind zwei Feinde weniger<, sagte er zu sich.
Und so geschah es, daß er auch an diesem Abend unverletzt mit seinen Schafen zum Bauern zurückkehrte. Der rieb sich die Hände und sagte:
»Du bist geschickt.«
Der Junge aber ging an diesem Abend wieder in die Stadt und kaufte sich Schnaps und Schlafpulver.
Am folgenden Tag kam der dritte Riese zu ihm; er war der letzte. Der war noch gewaltiger und größer als der zweite. Auch er blieb auf der Strecke. Als er im Gras lag und schlief, versetzte der Junge ihm mit dem Schwert einen Hieb, so daß er sofort mausetot war.
Uff, jetzt war der Junge von einer großen Last befreit. Jetzt hatte er keinen Klotz mehr am Bein, jetzt konnte er frei aufatmen. Und nun zum Schloß der Riesen. Die Schafe, die wußten sich schon zu helfen, die hatten ja so viel zu fressen.
Der Junge folgte den Fußspuren der Riesen und kam so in einen Wald, und mitten in diesem Wald, da stand ein großes Schloß. Das war das Schloß der drei Riesen. Er ging einfach hinein und kam zuerst in ein Zimmer, in dem alles aus Silber war: Die Stühle waren aus Silber, auch die Tische, und der Fußboden war mit Silber ausgelegt. Oh, oh, welch große Augen machte der Junge, so etwas hatte er noch nie gesehen, aber er staunte noch mehr, als er in das zweite Zimmer trat. Dort war alles aus Gold. Aber am allerschönsten war dann doch das dritte Zimmer, das von Tausenden von Diamanten und anderen Edelsteinen funkelte. Seine Augen konnten es kaum ertragen, so sehr glitzerte dort alles!
Darauf kam er in den Pferdestall. Wunderschöne, schnelle Pferde standen dort, gut hundert, und alle waren sie mit Silber beschlagen. Der Junge konnte sich kaum satt sehen, aber er war doch auch neugierig darauf, was es sonst noch zu entdecken gab. Er kam in einen anderen Stall, in dem Pferde standen, die doppelt so zierlich waren, wahre Rennpferde, und die trugen alle ein Geschirr aus Gold. Aber als er in den dritten Stall trat, Junge, Junge, er konnte seinen eigenen Augen kaum trauen. Er wußte nicht, daß es solche wunderbaren Pferde gab, so geschmeidig und so graziös, und jedes Pferd war reich mit funkelnden Diamanten geschmückt. Er konnte sich nur mit Mühe von diesem letzten Stall trennen, tat es aber schließlich doch.
Und wohin kam er jetzt? An eine Tür mit drei großen Riegeln. Hastig schob der Junge diese zurück, öffnete die Tür und, du lieber Himmel!, da saß ein Mädchen am Tisch. Ein sehr hübsches Mädchen, und es weinte.
»Wer bist du?« fragte der Junge.
»Ich bin eine Prinzessin. Die Riesen haben mich hier eingesperrt.«
»Ich werde dich befreien«, sagte der Junge. »Weine nun nicht mehr und komme mit mir.« Er nahm die Prinzessin bei der Hand, und das Mädchen lachte schon wieder unter Tränen. Sie erzählte ihm, daß ihr Vater König sei, und sie nannte die Stadt, in der sie wohnte.
»Ich werde dich sofort dorthinbringen«, sagte der Junge, ging zum ersten Stall, nahm daraus ein schönes, schnelles Pferd und setzte die Prinzessin in den Sattel. Dann sprang er selbst hinauf und hui, weg waren sie im Galopp. Im Nu waren sie beim Palast des Königs. Dort setzte er sie mit einem geschmeidigen Schwung auf den Boden und machte sofort kehrt, ehe die Prinzessin ihm danken konnte.
Der Junge ritt schnell zurück in den Wald, und als er zum Schloß der Riesen kam, brachte er das Pferd wieder in den Stall und sorgte dann dafür, daß er selbst wieder zu seinen Schafen kam. Die befanden sich noch am selben Ort und hatten sich rund und dick gefressen. Der Junge führte sie wieder nach Hause zurück.
Der Bauer war beunruhigt. Es hatte dieses Mal so lange gedauert. Er dachte, daß die Riesen den Jungen umgebracht hätten, und nun war er sehr froh, daß ihm nicht passiert war. Der Junge lachte nur ein wenig, erzählte aber nichts von all dem, was er erlebt hatte.
Am nächsten Tag machte er sich wie üblich mit seinen Schäfchen auf den Weg. Er blieb den ganzen Tag bei ihnen auf der Weide, bis es Abend wurde, und kehrte dann nach Hause zurück. Der Bauer hatte eine große Nachricht. »Jetzt werde ich dir was erzählen: Die Königstochter ist wieder daheim. Morgen findet ein Pferderennen statt. Wer gewinnt, darf sie heiraten. Ich will morgen hin, um es anzusehen.«
»Darf ich auch mit, Bauer?«
»Wie, du mit? Du mußt doch die Schafe hüten. Nein, das kommt nicht in Frage. Ich komme keinen Tag ohne dich aus.«
Der Junge versuchte zwar noch eine Weile, seinen Willen zu bekommen, aber es nutzte nichts. Am nächsten Tag zog der Bauer seine guten Kleider an und ritt in die Stadt, während der Junge sich mit den Schafen auf den Weg machte.
Als er aber...