Schweitzer Fachinformationen
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Einleitung
An meiner ehemaligen Arbeitsstelle, einem Labor am University College London (UCL), gab es an den Mittwochnachmittagen eine Veranstaltung namens Journal Club. Das Wort »Club« lässt die Angelegenheit unterhaltsamer klingen, als sie tatsächlich war. Es handelte sich um ein Ritual, das überall auf der Welt in derartigen Laboren praktiziert wird, und es lief wie folgt ab: Ein Mitglied der Belegschaft präsentierte eine aktuelle Veröffentlichung aus der einschlägigen Wissenschaftsliteratur mit Relevanz für die Arbeit des Labors, und der Rest der Gruppe sezierte, kritisierte und verriss sie. Genügte der vorgestellte Fachartikel nicht den Ansprüchen, wurde auch der Unglückselige zur Schnecke gemacht, der ihn angeschleppt hatte.
Das von Greg Towers geleitete Labor befindet sich immer noch am UCL und ist in einem umgebauten viktorianischen Krankenhaus untergebracht - ein wunderschönes altes Gemäuer voller Mäuse und Ritzen, entworfen vom Architekten des Natural History Museum. Als ich 2011 dort eine Promotionsstelle antrat, schien es ganz und gar nicht wie ein Ort, an dem internationale Spitzenforschung in Sachen Molekulare Virologie betrieben wird, aber es war so.
In diesem Journal Club lehrten mich Greg Towers und sein Stab, dass Wissenschaft keine Sammlung von Regeln und Fakten ist, sondern eine laufende Diskussion mit offenem Ausgang. Towers stürzte sich vehementer in die Diskussion beliebiger Daten aus beliebigen Fachartikeln als irgendjemand anders, den ich kannte oder kenne. Es gab nichts, was nicht untersucht wurde. Es war das beste Wissenschaftstraining, das ich mir hätte wünschen können.
Das Labor war spezialisiert auf den ständigen Wettlauf zwischen Viren wie HIV einerseits und den Zellen, die sie zum Zwecke ihrer Reproduktion infizieren müssen. Im Grunde gleicht dieser Wettlauf einem militärischen Wettrüsten. Alle Zellen besitzen Abwehrmechanismen gegen virale Angriffe, und alle Viren verfügen über Waffen, um diese Abwehr zu überwinden. Während die Zellen immer ausgefeiltere Abwehrmechanismen entwickeln, verbessern die Viren konstant ihr Waffenarsenal, was dann wieder zu einer Evolution der zellulären Abwehr führt und so weiter und so fort.
Der Großteil unserer Forschergruppe beschäftigte sich mit HIV sowie seinen viralen Verwandten und trug damit zu spannenden Zielen wie der Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe bei. Doch es gab eine Fraktion unter den Forschern in unserem Labor, die eine andere Art Virus studierte - eine Art Virus, die kaum wie ein Virus wirkte. Fast die Hälfte der DNA in den Zellen unseres Körpers besteht aus uralten toten Virusgenen. Lange Zeit als »Junk-DNA« bezeichnet, schien dieses Thema ein wissenschaftlicher Nebenschauplatz, bis ein Forscher aus besagter Fraktion im Oktober 2014 im Journal Club einen Beitrag aus der Fachzeitschrift Nature vorstellte. Der kryptische Titel lautete: »An evolutionary arms race between KRAB zinc-finger genes ZNF91/93 and SVA/L1 retrotransposons« (»Das evolutionäre Wettrüsten zwischen KRAB-Zinkfingergenen ZNF91/93 und den SVA/L1-Retrotransposons«).1
Ich überflog den Beitrag vor unserem Treffen, verstand allerdings nur Bahnhof. Von zehn im Journal Club vorgestellten Artikeln wurden für gewöhnlich sieben verrissen, während zwei der Prüfung standhielten und brauchbare neue Informationen lieferten und einer Anzeichen schamlosen Betrugs enthielt. In welche Kategorie dieser Artikel fiel, konnte ich nicht sagen.
Während wir das Datenmaterial durchsprachen, bemerkte ich eine Veränderung der allgemeinem Stimmung. Köpfe hoben sich, Blicke wurden ausgetauscht. Die Daten des Artikels legten nahe, dass diese alten, toten Viren im menschlichen Genom keineswegs tot waren, sondern funktionierende Gene besaßen, die mehr Viren produzieren konnten. Jede Zelle im menschlichen Körper ist eine potenzielle Virenfabrik, aber irgendetwas hält diese viralen Gene im Zaum. Wie sich herausstellte, werden sie von anderen Genen in der Zelle unterdrückt.
Die Autoren des Artikels behaupteten, ein Teil unseres Genoms führe ununterbrochen Krieg gegen einen anderen Teil unseres Genoms.
Die Bedeutung des Ganzen war allen sofort klar, da jeder in unserem Labor bestens mit dem Wesen eines Wettrüstens vertraut war. Ganz gleich, ob es um den Wettkampf zwischen Viren, globalen Supermächten oder Sportmannschaften, um Nachbarschaftsfehden oder Wahlkämpfe geht, jede Art Wettrüsten entwickelt irgendwann Komplexität. Wenn die aufständischen Kräfte sich weiterentwickeln, muss es die Aufstandsbekämpfung auch tun. Auf Spionage folgt Spionageabwehr mit Doppel- und Dreifachagenten. Die Entwicklung immer leistungsfähigerer Waffen treibt die Evolution immer komplexerer Abwehrsysteme an.
Da sich das menschliche Genom in einem internen Wettrüsten befindet, bei dem ein Teil der DNA gegen einen anderen kämpft, wird es unaufhaltsam zu einer immer größeren Komplexität gezwungen. Über Tausende Generationen hinweg haben sich diese alten, »toten« Viren weiterentwickelt, daher musste sich in der Folge auch der Rest unseres Genoms weiterentwickeln, um sie im Zaum zu halten.
Dieses Wettrüsten innerhalb unserer Gene tobt seit der Entstehung des Lebens, möglicherweise ist es sogar die Triebkraft für die Evolution der Komplexität selbst. Der Hauptunterschied zwischen dem menschlichen Genom und dem eines Schimpansen liegt nicht in den Anteilen, die für das Codieren der Proteine verantwortlich sind (von denen rund 96 Prozent ähnlich sind), sondern in den Bereichen, die anscheinend von den alten, toten Viren stammen.2
Zugegeben, ich brauchte eine Weile, um mich mit der Vorstellung anzufreunden, dass ich zumindest teilweise eine Ansammlung von alten Viren bin, die mit meinen anderen Genen Krieg führen. Insofern könnte man also sagen, dass der Artikel mein Selbstverständnis verändert hat. Möglich, dass er auch Ihre Sicht auf sich selbst verändert. Niemand schaut bei diesem Wettrüsten verschiedener Gene einfach nur zu - ein jeder von uns ist das Produkt dieses Prozesses, das Produkt eines schwierigen Bündnisses miteinander wetteifernden Genmaterials.
Diese Bündnisse und Wettkämpfe betreffen jedoch nicht nur unsere Gene. Wo »ich« aufhöre und »die Außenwelt« beginnt, ist keinesfalls klar. Wir alle tragen Mikroorganismen in und an uns, die uns am Leben erhalten und genauso Teil von uns sind wie unsere Leber oder andere Organe. Doch diese Mikroorganismen können uns ohne Weiteres töten, wenn sie an oder in den falschen Bereich unseres Körpers gelangen. Der menschliche Körper ist eher als eine komplexe Gesellschaft denn als eine Ansammlung mechanischer Einheiten zu verstehen: Er besteht aus Milliarden von Bakterien, Viren und anderen Mikroorganismen, aber nur aus einem Primaten, und wird von einer Unzahl zäh ausgehandelter und seltsamer Kompromisse und Unzulänglichkeiten im Gleichgewicht gehalten. Das dabei ablaufende Wettrüsten lässt die Grenzen verschwimmen.
Nach sechs Jahren im Labor von Greg Towers begann ich wieder als Arzt zu arbeiten. Doch der Gedanke an das Wettrüsten in unseren Körpern, an die dadurch bedingten komplexen Systeme und die verwischten Grenzen, wurde zu einem zentralen Bestandteil meiner Sicht auf die Welt. Ich blieb in der Forschung tätig, beschäftigte mich fortan aber nicht mehr mit Viren, sondern untersuchte wissenschaftliche Arbeiten, die tendenziös oder glattweg betrügerisch waren. Mein neuer Schwerpunkt: die Lebensmittelindustrie und ihr Einfluss auf die menschliche Gesundheit. Meine Laborerfahrungen erwiesen sich als grundlegend für die Arbeit in diesem Feld - das Thema des Wettrüstens und seine Konsequenzen werden in diesem Buch oft auftauchen.
Es ist wichtig zu begreifen, dass die Nahrungsaufnahme selbst ein seit Jahrmilliarden laufendes Wettrüsten ist. Unsere Welt bietet nur eine mehr oder weniger fixe Menge verfügbarer Energie; gleichzeitig befindet sich alles Leben mit anderen Lebensformen in einem kontinuierlichen Wettkampf um diese Energie. Unterm Strich geht es allen Organismen nur um zwei Dinge: Reproduktion und Energie für diese Reproduktion.
Raubtiere zum Beispiel konkurrieren nicht nur untereinander um Beute, sondern befinden sich auch in einem Wettstreit mit der Beute selbst, da diese im Allgemeinen die in seinem Fleisch enthaltene Energie nicht bereitwillig hergeben mag. Beutetiere wiederum konkurrieren einerseits miteinander um pflanzliche Nahrung, befinden sich andererseits aber auch mit den Pflanzen selbst im Wettstreit, die sich mit Giften, Dornen und anderen Mechanismen dagegen wehren, gefressen zu werden. Pflanzen konkurrieren um Sonne, Wasser und Boden. Bakterien, Viren und Pilze greifen permanent alle anderen Organismen des Ökosystems an, um ihnen so viel Energie wie irgend möglich abzuringen. In diesem Wettrüsten hält ein Vorsprung meist nicht sehr lange an. Wölfe zum Beispiel mögen gut angepasst für die Jagd auf Hirsche sein, aber Hirsche sind bestens gerüstet, um nicht als Futter von Wölfen zu enden, und können sie manchmal sogar töten.
In der wissenschaftlichen Literatur ist in signifikantem Umfang dokumentiert, dass Wölfe von ihrer Beute getötet werden. Einer Analyse zufolge wiesen 40 Prozent der untersuchten Wolfsschädel von Beutetieren verursachte Verletzungen auf. Es gibt vielfache Beweise, dass Wölfe von Elchen, Moschusochsen und Hirschen getötet...
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