Schweitzer Fachinformationen
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Die Holztür, im selben müden Blau lackiert wie die Elbe an dunstigen Tagen, stand einen Spalt offen. Verblüfft ließ Mieke die Hand sinken, mit der sie gerade den Schlüssel aus ihrer Jackentasche geholt hatte.
Einbrecher?
Sie war ohnehin schon gestresst. Der Zug von Den Haag nach Hamburg hatte ewig gebraucht, dreimal waren sie mit den schweren Koffern umgestiegen. Vom Bahnhof hatten Lenny und sie ein Taxi durchs Treppenviertel genommen, einem Gebirge aus reetgedeckten Kapitänshäuschen, Kaufmannsvillen und Bungalows.
Am Fähranleger unten am Fluss waren sie ausgestiegen. Von nun an ging es nur noch zu Fuß weiter. Mieke hatte zwei Koffer ergriffen und sich, den fluchenden Lenny im Schlepptau, auf den Weg gemacht. Ein paar Schritte den Strandweg entlang zweigte ein heckenbestandener Fußweg ab, und danach, verdeckt von einem Blauregenvorhang, ein noch schmalerer Pfad, so unauffällig, dass alle Touristen ihn übersahen. Er schlängelte sich leicht aufwärts zu einer Streuobstwiese. Erst von dort aus ließen sich die drei Fischerhäuser erkennen, auf halbem Weg zum Strand: alle über 300 Jahre alt und dank ihrer erhöhten Lage Überlebende von Sturmfluten, Hochwasser und Stürmen.
Mieke hörte das Geräusch von näher kommenden Schritten.
»Pauline«, schoss es ihr durch den Kopf.
Die Tür sprang auf, und ein braun gebrannter Mann trat auf die Schwelle, im Gürtel seiner Chinos steckte ein Küchenhandtuch. Wortlos breitete er die Arme aus und zog sie mit einem Ruck an sich.
Als ihr Kopf an seinem Brustkorb landete, roch sie sein süßliches After Shave. Sie schob ihn von sich und trat einen Schritt zurück. Natürlich hatte sie ihn sofort erkannt, trotz des Dreitagebarts, der auf seinem früher nackten, weichen Kinn wuchs. Sie hatte nur keine Ahnung, was er hier machte.
»Marc!«
»In alter Frische. Und du .«, er nickte ihrem Sohn zu, der ausdruckslos die Szene beobachtete, ». du musst Leonard sein.«
Er streckte seine Hand aus, die Lenny nach ein paar Sekunden zögernd drückte.
»Stimmt«, murmelte er. »Hallo.«
»Na, dann kommt mal rein«, rief Marc und schnappte sich zwei Koffer. »Immer hinter mir her!«
Mieke nahm Lenny einen der beiden übrigen Koffer ab und folgte ihrem Schulfreund durch den niedrigen, weiß verputzten Flur. Alle Türen waren geschlossen, an den Wänden hingen Ölgemälde, auf denen Dreimaster in rauer See ertranken. Nur die Küchentür am Ende des Ganges stand weit auf, gleich neben der steilen Stiege, die nach oben führte. Es duftete angenehm nach Kaffee und Lavendelreiniger.
»Setzt euch!« Marc deutete zum alten Eichentisch vor dem winzigen Fenster zum Hof, den er wohl gerade geschrubbt hatte, das Wischtuch lag noch an der Kante. Unter den Achseln seines weißen Polohemdes ließen sich deutlich dunkle Flecken sehen.
Hier hatte Mieke immer gesessen, wenn sie früher zur Nachhilfe kam, die anderen Räume waren schon damals stets verschlossen. Über der steinernen Spüle öffnete sich ein großes Sprossenfenster zum Fluss hinaus, ein kleineres zum Hof im hinteren Garten. Neben dem Buffetschrank und dem gewaltigen Gasherd an der Längswand brummte noch derselbe weiße Bosch-Kühlschrank. Der Raum wirkte wie eine Zeitkapsel aus den Dreißigern.
Marc stellte drei Becher und einen Teller mit Franzbrötchen auf den Tisch. »Kennst du die, mein Junge? Hamburger Spezialität«, sagte er und wies mit der Hand auf das Plundergebäck.
Kein Ehering, dachte Mieke. Aber vielleicht hat er ihn zum Putzen abgenommen.
»Ich habe keinen Hunger.« Ihr Sohn sprang abrupt vom Stuhl auf und stürmte nach draußen.
»Teenager«, sagte Marc gleichgültig.
In Mieke regte sich eine leichte Irritation darüber, dass er sich wie der Herr des Hauses aufspielte. Heddas Hauses. Ihres Hauses.
»Was machst du hier?« Die Frage klang ruppiger, als sie es beabsichtigt hatte.
Marc lachte, eine Spur zu laut. So wie früher, wenn er sich unsicher fühlte. »Keine Sorge. Das hat alles seine Ordnung. Heddas Anwältin hat mich engagiert, als Putzmann und Grüßaugust.«
Er legte seine Hand auf ihren Arm. Mieke tat so, als ob sie einen Schluck Kaffee nehmen wollte, und er zog seine Hand weg und strich sich betont lässig die sonnenbleichen Strähnen aus dem Gesicht, die bis an den Kragen seines Hemdes reichten. Die Geste offenbarte tiefe Geheimratsecken.
»Hat die Anwältin dir nichts gesagt?«
»Ich habe nur im Sekretariat den Schlüssel abgeholt.«
Marc erhob sich. »Kommt erst mal richtig an. Die Heizung läuft und die Betten sind frisch bezogen. Hier, meine Handynummer.« Er schob eine Visitenkarte über den Tisch.
»>Frische Brise<«, las sie. »>Marc Andresen, Hausmeister- und Handwerkerdienste.<« Nicht Weltumsegler. Nicht Gitarrist. Mieke war wohl nicht die Einzige auf der Welt mit geplatzten Träumen. »Tut mir leid, Marc«, sagte sie eine Spur weicher. »Dass du dich gekümmert hast, das war nett.«
Der gehetzte Ausdruck in seinen Augen verschwand. »Die Anwältin hat dir wirklich nichts erzählt?«
»Sie war in einem Meeting. Was hätte sie mir denn sagen können?«
»Vielleicht ist es besser, wenn du es selbst herausfindest«, erwiderte er rasch. »Aber egal, was ist, ich helfe dir gerne mit dem Haus. Zum Freundschaftspreis.«
Immer noch der alte Geschäftemacher. Sie lachte, zum ersten Mal, seitdem sie wieder hier war. Marc wirkte auf der Stelle erleichtert und zog sie zum Abschied an sich. Jetzt fand sie seine Berührung in Ordnung.
»Mensch, Mieke«, sagte er, schon halb aus der Tür, »dass wir uns endlich wiedersehen, nach all den Jahren. Und ausgerechnet in Heddas Haus.«
»Ich kann es auch noch nicht richtig glauben.« Sie zögerte. »Wart ihr bei der Beerdigung?«
Marc reagierte nicht auf den Plural. »Nein«, erwiderte er. »Ich war den Winter über in Alicante. Ich habe eine Yacht überführt.«
Also doch noch Segler. Wer strohblonde Haare hatte, Andresen hieß und im Treppenviertel groß geworden war, wo Nebelhörner durch die bereits leicht salzige Nachtluft tuteten, hatte kaum eine andere Wahl.
»Marc«, sagte sie, »wollen wir uns einmal auf einen Drink treffen? Und du erzählst mir alles, was in den letzten 25 Jahren passiert ist?«
»Im Café auf dem Ponton? Ich hätte morgen gegen sechs Zeit.«
»Abgemacht.«
Mieke begleitete den Jugendfreund zur Haustür. Ihr Blick folgte ihm den gelb geklinkerten Pfad entlang und wanderte dann über den Strand, bis er Lenny erfasste. Er kickte Steine ins Wasser, umschwärmt von Möwen. Hinter einem Containerriesen, unterwegs zum nahen Meer, querte ein stämmiges weißes Fährboot die Elbe in Richtung Altes Land. Dort auf den Obstplantagen, dachte Mieke, explodierten gerade die Apfel- und Kirschblüten. Sie könnte mit ihrem Sohn eine Fahrradtour machen, den Estedeich entlang.
»Lenny!«, rief sie. »Los, komm rein!«
Der Junge bückte sich und warf mit Schwung einen Stein weit in den Fluss. Die Vögel kreischten auf. Ringe bildeten sich und verschwammen.
Sie lief über den weichen Sand auf ihn zu.
Ihr Sohn drehte sich um. »Ist er weg?«
Sie nickte.
»Alter Freund von dir?«
»Wir kennen uns noch von der Schule.«
Sie gingen zusammen auf die Katen zu. Die ersten Kletterrosen waren bereits die Wände hochgekrochen und glommen im Dämmerlicht wie bunte Sterne. Aber nur in Heddas Küche brannte Licht. Die beiden anderen Häuschen hüllten sich in Dunkelheit und Schweigen, die Fenster waren mit Holzläden verrammelt.
»Wie viele Zimmer hat die Hütte eigentlich?«
»Warte mal«, sagte Mieke und zählte an den Fingern ab. »Unten die Küche, ein Bad, das Wohnzimmer und noch eine kleine Stube, meine Mutter hatte in unserem Haus dort früher ihr Klavier stehen. Oben drei kleine Zimmer und der Speicher.«
»Kein Keller?«
»Nur eine alte Waschküche. Es gibt noch ein Nebengebäude im Hof. Dein Großvater hatte sein Boot darin liegen. Und es als Atelier benutzt. Wir hatten es von Hedda gemietet, sie brauchte nicht so viel Platz.«
Dein Großvater. Die Worte waren ihr wie selbstverständlich entglitten. Dabei hatte sie mit Lenny nie über Mathias Breckwoldt gesprochen. Ihr Sohn wusste lediglich, dass er Maler gewesen und früh verstorben war. Sie würde ihm bald die Wahrheit sagen müssen.
Sie betraten den Flur mit dem ochsenblutroten Fliesenboden. Calvinistische Niederländer hatten solche Fliesen vor 400 Jahren mit nach Deutschland gebracht, auf ihrer Flucht vor den katholischen Spaniern, das wusste Mieke von ihrem Vater. Er hatte ihr oft Dinge erklärt, wenn sie ihn im Atelier besuchte, wo sein Pinsel Wellen brechen ließ und Schiffe versenkte. Schade, dachte sie, dass Tessa kein einziges Bild mit nach Holland genommen hatte. Aber verständlich.
Mieke drehte den klobigen Lichtschalter. Helligkeit floss über den Boden, der plötzlich aussah, als sei er mit Blut bedeckt.
»Ich mach dir einen Vorschlag«, sagte sie spontan und fasste Lenny am Ärmel seiner Jeansjacke, die bereits feucht war von den Schwaden des Flusses. »Wegen der Schlafzimmer. Wir öffnen abwechselnd eine Tür nach der anderen. Wer eine aufmacht, kann das Zimmer dahinter haben, wenn er will.«
Ihr Sohn lächelte, sein erstes Lächeln seit Wochen. Seit sie ihm eröffnet hatte, dass sie nach Blankenese ziehen würden, weil sie das Haus ihrer früheren Lehrerin geerbt hatte. Er drückte die schwere Messingklinke nieder.
Und sprachlos...
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