Schweitzer Fachinformationen
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PROLOG
Fahlweißer Winter. Stoßverkehr. Mistwetter. Und ich. Wie immer an zwei Orten gleichzeitig. Schnee auf den Schultern, aber in Gedanken das Overberg-Licht, nassglänzende Winterwelt, Luftspiegelungen des Sommers. Eine über rauschenden Kornfeldern hinabstürzende Lerche, zwitschernd wie ein mechanisches Spielzeug. Der Himmel Südafrikas, meine Kindheit. Schwer zu vermitteln in einer Stadt, die den Himmel kaum je zu Gesicht bekommt. Jenseits – ein seltsames Wort nach meinem Empfinden. Ebenfalls seltsam: meine Reaktion auf das Telegramm. Erst Taubheit, dann Beklemmung, dann Tränen. Eine Öffnung im Schädel. Schließlich die Erinnerungen, unaufhaltsam wie ein strömender Fluss.
For parting is no single act, it is like a trailing streamer.
Zum ersten Mal bin ich vor elf Jahren hier am Flughafen ausgestiegen. Mit stocksteifen Gelenken. Während des gesamten vierzehnstündigen Fluges hatte ich kein Auge zugetan. Angst, Sorge, Schuldgefühle. Was war ich? Wer war ich? Zehntagebart, Urlaubsvisum im Pass, ein Bewerber ohne Empfehlungsschreiben. Für die kanadischen Behörden ein Bure, der um Asyl bat. Ein desertierter Soldat, im Gepäck Ausbildungsnachweise, Flugscheine, Geheiminformationen. Was wollten sie mehr? Ein Geständnis?
Ich war ohne Abschied oder Erklärung gegangen. An jenem Morgen, noch vor Tagesanbruch, es roch nach nassem Ruß, hatte Gaat mir den Schlüssel zum Sideboard gegeben, damit ich meine Papiere herausholen konnte. Ihr Gesicht blass und traurig, die Haube schief auf dem Kopf. Vier Uhr morgens. Sie wusste als Einzige, wohin ich aufbrach und warum. Ob ich mir je verzeihen würde, ihr eine solche Verantwortung aufgebürdet zu haben?
Weiße Schneewälle rechts und links der Straße. Die Scheibenwischer auf höchster Stufe. Unaufhaltsam steigen Bilder in mir auf. Die gestreifte Wassermelone unter dem Herrnhutermesser, Burenkürbisse inmitten haariger Blätter, ein bräunliches Merinovlies, schwer vom Wollfett, das auf dem Klassifizierungstisch auseinanderfällt. Brusthohe blaublühende Lupinen, die gelbe Sahne der Jerseykühe, das Geräusch beim Aufbrechen eines Granatapfels, die weißen Häutchen, in denen dicht gedrängt die Kerne sitzen. Rot und weiß, wie das Blut auf der Haut frisch geschorener Schafe.
Gott, ich klinge schon wie meine Mutter! Meine melancholische, übersensible Mutter. Die jetzt im Sterben liegt. Ob sie mich wiedererkennen wird? Trotz des Bartes? Gaat wird mich erkennen. Egal wie sehr ich mich verändert habe.
In letzter Zeit hatte ich immer wieder denselben Traum. Gaat rief mich, wir riefen einander. Dann schreckte ich auf. Verstört. Anstelle von Schlaf ein Abgrund. Die Hände um den Mund gelegt riefen wir einander, sie unten auf dem Hof in ihrer weißen Schürze, ich in eine der Felsspalten oberhalb unseres Hauses gekauert, von wo aus ich sie sehen konnte. Später verständigten wir uns durch lange Pfiffe, die man bei günstigem Wind bis ins Droëland hörte. Noch später bliesen wir auf Limonadenflaschen.
Langsam zurück an die Oberfläche, getragen vom Pfeifen des Windes. In Toronto und hellwach. Nachtmusik. Bis ich wieder wegdrifte und träume, dass wir uns Signale auf Widderhörnern schicken. Sanfte, tiefe Töne. Wie vorsichtig wir sein mussten, als wir im Gebüsch den Kaiserfalter suchten. Mattschwarz, verborgen in den Schatten, bis er die Flügel spreizte, blau auf der Oberseite, silbrig glänzend, dass einem das Herz aufging.
Und überfloss.
Blaues Flackern in den Intervallen zwischen den Scheibenwischerschlägen. Salz auf der Straße, Schneematsch auf der Windschutzscheibe, auf der Heckscheibe. Lapislazuli, diese Farbe habe ich in meinem Traum gesehen, ein wechselhaft schillerndes Blau, anders bei jedem Ein- und Ausatmen, erst auf dem einen, dann auf dem anderen Flügel. Das Buch der Vespern. Apatura iris. Der Große Schillerfalter.
Wunder. Katastrophen. Ein Kontinent, der sein Grundwasser mit Blut auffüllt und seine Erde mit Blut düngt. Wer hat das geschrieben?
Hier war das Blutvergießen Geschichte. Erkaltet. Die Gemetzel erhielten ein angemessenes Gedenken, eine funktionale Verpackung, eine hygienische Aufarbeitung. Nur ich, der immer noch frisch Entwurzelte, durchforschte die kühlen Archive. Cut grass lies frail. Und der Geruch schien das Leid anderer hervorzulocken. Gestern die Sainte-Marie-Unterlagen abgeholt, Bleeding Heel, Broken Shoulder, Wounded Knee für das neue Instrumentalstudio in Toronto, ein Perkussionstheater, bei dem die Besucher mit Samenhülsen rasseln und mit einem Bündel Grashalme über Zinnzimbeln streichen sollen.
Als ich nach Hause kam, lag er dort. Auf der Fußmatte vor der Tür, im Schnee. Ein Umschlag.
MÊME STIRBT STOP BESTÄTIGE ANKUNFT STOP ALLES LIEBE AGAAT
Ich war seit elf, zwölf Jahren fort. Ob ich meine Mutter wiedererkennen würde? Auf dem letzten Foto, das Agaat mir geschickt hatte, sah sie zwischen den fedrigen Büschen im Garten winzig aus, die Augen tief in den Höhlen, fast vollständig ergraut. Sie hielt ein Buch in den Händen, den Zeigefinger als Lesezeichen zwischen die Seiten gelegt. Weltberühmte Klavierstücke. Ich erkannte es an seinem blassrosafarbenen Umschlag. Sie hatte oft allein für sich vom Blatt gesungen. Damit sie nicht einroste, hatte sie erklärt.
Mama und ihre Hirngespinste, Mama, die davon träumte, dass ihr Jakkie, Jak de Wet junior, einmal Sänger würde, berühmt von den Hottentots-Holland-Bergen bis Wien. Lieder eines fahrenden Gesellen. Natürlich.
Und Agaat mit ihrem Pokerface, ihren großen Augen, mit denen sie einen wortlos tadeln konnte, diesem Blick, den sie tagelang abwenden konnte, um einen zu strafen. Holzauge. Wie alt war sie, als ich von zu Hause fortging? Siebenunddreißig?
Gaat als Mamas Krankenschwester. Mein Gott, was für ein Spektakel. Schicksalschwestern oder – noch besser – Die Nacht der Krankenschwester.
Gaat mit ihrer steifen Haube wie ein ferner verschneiter Gipfel, die sich manchmal zu mir herunterneigte, damit ich sie aus der Nähe betrachten konnte. Dann durfte ich – nur ich – die feine Handarbeit berühren. Weiß auf Weiß. Ich konnte nie genug bekommen. Gaat, wie sie vor dem Aga-Ofen saß und nähte, Holzscheite nachlegte, das Feuer anfachte, bis der Ofen brummte, mit der starken, warmen Hand, an der ich die Welt erkundet hatte. Rechts die verkrümmte Hand, die sie vor allem dann sorgsam versteckte, wenn sie Mamas Freundinnen bedienen musste oder der Pfarrer auf Hausbesuch kam.
Und ich musste den Gästen vorsingen, Mama begleitete mich. Herr im Himmel. Afrikaanse Volkslieder, Heidenröslein, je nach Publikum.
Wie ist es dort, wo du aufgewachsen bist? In deiner Heimat? Diese Frage wurde mir nach meiner Ankunft ständig gestellt. Stets antwortete ich mit Philip Larkin: Having grown up in shade of Church and State … Es dauerte Jahre, ehe ich die Schönheit und die Grausamkeit in eigene Worte kleiden konnte. Irgendwann fragte niemand mehr, und da erst konnte ich über eine andere Antwort nachdenken.
Durch die Schranke, roter Ellbogen. Den Parkschein in der Hand, kalt, glatt, ein Obolus mit Magnetstreifen. Eins, zwei, drei, ich komme! International Departures.
Dachte ich dabei an Mama, war es eine heimliche Hommage an sie, dass ich mir ausmalte, meinen neugierigen Fragestellern in Versen zu antworten?
Stell dir vor, Mutter, ich habe nichts vergessen. Ich werde für dich singen. Von den hügeligen Bergausläufern vor dem Wohnhaus, einer über den anderen getürmt, von den verschiedenen Gelb- und Grüntönen des Fynbos, gesprenkelt mit rosafarbenen Vygies und violetten Heidesträuchern. Oder von den Bergen werde ich singen, jener zartblauen Saumkante, die dem Blick der Reisenden die ganze Küstenstraße entlang Halt bietet, doch werde ich ein anderes Register, ein breiteres Spektrum wählen.
Meine Fantasie. Immer wieder stimme ich eine Eloge auf die Flüsse an und auf die Feuchtgebiete, die im Frühling mit einem süß duftenden Blumenmeer bedeckt sind. Eine Kantate über den großen braunen Strom, den Breërivier, und sein Bett tief in der Grootwinterhoek. Gespeist wird er von Wasser, das von Farnwedeln und aus den Windgruben im Fels rinnt. Erst sammelt es sich zu einem handbreiten Lauf, einem plätschernden Bach zwischen Stachelschweinried, dann stürzt es als nebliger Wasserfall hinab, in dessen Luftzug sich die roten Disa-Orchideen wiegen. Schließlich strömt das Wasser all dieser Fälle zusammen und fließt über einen Grund aus schwarzem Fels. Der Fluss gräbt sich durch das trockene Land, findet von selbst seinen gewundenen Lauf und wird zu einer Wasserstraße, breit genug für Schiffe, tief genug für Brücken, für Fähren, für Anlegestellen und Handel.
Der Chronist Paravicini di Capelli schrieb im neunzehnten Jahrhundert, dieser Fluss habe als erster die niederländische Bezeichnung »Rivier« erhalten, danach kamen der Rio de Nazareth und Le Fleuve Large. Gewiss musste er früher schon in irgendeiner Eingeborenensprache einen Namen gehabt haben, einen Hottentottennamen, aber was war davon übrig, und wen kümmerte das noch? Der Sijnnarivier trug noch einen alten Namen, abgeleitet womöglich vom Nama-Wort »Sunnu-la«. Streitfluss.
Wer hatte mir erstmals davon erzählt? Es muss Mama gewesen sein.
Streitland.
Kakofonie.
Check-in-Schalter. Fenster oder Gang? Jacke wie Hose. Boardingpass. Charon hinter einem Computerbildschirm.
Wälder. Tiefe,...
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