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Ehrlich sein.
Die zwei Wörter klapperten mit dem Auto mit. Warum haben wir in der Familie so gern gelogen? Warum zugedeckt, was stank? Auf dem Weg nach Paris dachte ich über unseren Ausflug ins Rübenland, ihr Lügenland nach, wie konnte es nur sein, dass ich so oft auf dem Weg zur belgischen Grenze ganz nah an ihrer Heimatscholle vorbeigerast war, ohne ein einziges Mal abzubiegen. Jetzt sah ich die Straßenschilder mit anderen Augen - Orte, an denen ich vor einer Woche noch achtlos vorübergefahren war, hatten unverhofft eine Bedeutung bekommen. Das Städtchen, wo meine Mutter so jung ihren braunen Offizier geheiratet hatte, lag nur wenige Kilometer von der Autobahn entfernt. Komisch, wie sehr sich ihre Bauernvergangenheit von der Kolonie hatte verdrängen lassen. Ihr Zweitland, wie sie es nannte, spielte in meinen Romanen eine maßgebliche Rolle, nicht weil sie so viel darüber gesprochen hatte, nein, eigentlich nie, überlegte ich, mein auf Java geborener Vater diktierte zu Hause die Geschichten. Ich hatte mir seine Flunkereien angeeignet, neue dazu erfunden. Zu Hause war meine Mutter die große Schweigerin. Vielleicht wurde sie auch vom Leben im Repatriantenheim überwältigt, in dem sie mit ihrer lädierten Familie nach Kriegsende mehrere Jahre leben musste. Ich hatte viel über diese Zeit geschrieben, gerade weil ich nicht zu ihrer Vergangenheit gehörte, nicht zum Krieg, nicht zur Farbe meiner Halbschwestern und der anderen Kinder im Haus, nicht zum Sambal und zur Reistafel und zu den malaysischen Tischwitzen, deshalb sang ich als Friedenskind und rotblonder Sommersprossenkönig ihre Lagerlieder aus voller Brust mit und hasste genau wie sie die Japsen, die sie gedemütigt hatten. Ich sollte der Schatzmeister ihrer Traumata werden.
Aber die Bauern, bekamen die auch eine Geschichte? Wir hatten von ihnen geerbt, nach langem, geduldigem Zuwarten, ich hatte ihr Geld und ihren Glauben verspottet und mich über meine garstigen, ledigen Tanten lustig gemacht. Ihre Landgier war mir höchstens ein paar Seiten wert.
Und was wusste ich von der Großen Flut? Ich erinnere mich an den Sonntag, mit meinen Eltern am Radio klebend, die Deiche waren gebrochen, ein Teil der Familienhöfe war in Gefahr. Meine Mutter rief dort an, immer wieder, doch keiner nahm ab. Wir schickten den Flutopfern Kleider - ich musste meinen schwarz-gelb karierten Blouson hergeben. Ein Opfer, aber opfern tat gut.
Und jetzt stellte sich heraus, dass ihr heimatlicher Grund und Boden überflutet gewesen war, der Pächter davon betroffen, Leute, die sie kannte, und ein Großonkel war ertrunken und was weiß ich wie viele Verwandte noch.
Ich will es einmal anders erzählen. Ehrlich sein.
Wir waren völlig fassungslos. Die Sturmflut traf auch unser Dorf, hatte ein Loch in die Dünenkette geschlagen, und das Wasser stand bis an unser Haus. Mein Vater war überzeugt, dass die Russen dahintersteckten, sie rührten im Kosmos, beeinflussten das Wetter und setzten heimlich Atomwaffen ein, ja, die Russen waren weiter als die Amerikaner, nicht mehr lang, und die Bomben flogen um die Welt und stürzten in den Atlantik - New York und London würden überflutet. Meine Mutter beruhigte ihn, ihre Sterne standen anders, zum Glück, friedliche Konjunktionen dämmerten herauf, nach dem Sturm kam eine Flaute. Grund für meinen Vater, noch lauter zu toben: Die Russen wollten die freie Welt vernichten. Die Bombe, die Bombe, eine alte Geschichte, die uns schon längst nicht mehr den Schlaf raubte, aber im Winter war er auf andere Waffen gestoßen, er hatte Hunderte Zeitungen von vorn bis hinten gelesen, am Lesetisch des Badhotels, wo er für den Preis einer Tasse Kaffee so lange sitzen durfte, wie er wollte. (Er war nicht nur der bestgekleidete, sondern auch der bestinformierte Arbeitslose im Dorf.) Hatten wir gewusst, dass sie hinter dem Ural Menschen mit Affen kreuzten, um ein unschlagbares Heer zu erschaffen? Hinter dem Eisernen Vorhang hatten sie auch ein Elixier gebraut, damit Menschen länger leben konnten! Die Russen würden uns massenhaft überleben. Und dann die Labors, in denen sie tödliche Bakterien entwickelten . Auf dem aufgeschlagenen Weltatlas zog mein Vater Strichellinien, um den Ural herum, wo teuflische Gelehrte hoch in den Bergen die Wolken mit Chemikalien beschossen und Tiefdruckgebiete gegeneinander hetzten, die dann verheerende Orkane und Stürme verursachten.
Meine Mutter konnte noch so viel beschwichtigen, mein Vater beschwor auch ihre Bücher, eine bevorstehende Weltkatastrophe zu bezeugen: Nostradamus hatte alles vorhergesehen, und die Karten kündeten ebenfalls nur wenig Gutes. Die Welten waren kollidiert. Mein Vater wusste nicht mehr, was er gelesen, gehört oder erfunden hatte, korrigierte sich beim Reden und blätterte durch Hefte voller Aufzeichnungen. Wir glaubten ihm nicht? Nein? Dann würde er das zu Papier gebrachte Böse entzünden. Und zwar auf der Stelle, auf dem großen Tisch! Meine Mutter stand schon mit Eimer und Waschlappen bereit, nicht um einen Wohnungsbrand zu löschen, sondern um seinen glühenden Kopf zu kühlen - nach viel Betupfen führte sie ihn, im Fangeisen ihrer Hände, zur Badewanne ab. Der Sturm hielt noch Tage an, und ich lag schlotternd in meinem Bett.
Die Flut?
Nicht bei uns. Wir dachten nicht an die Bauern, uns stand das Wasser selbst bis zum Hals.
Ehrlich sein. Vielleicht wird es Zeit, eine Erinnerung aufzuschreiben - ein Ereignis, das ich nie einer Notiz wert erachtet hatte.
Es muss in meinem zweiten Pariser Jahr gewesen sein. Mein Verleger hatte mir einen Brief vom Landfrauenbund des Städtchens S. weitergeschickt mit der Bitte, dort zu lesen. Landfrauen, welch eine Ehre. Auf dem Land wurde mehr gelesen als in der Stadt. In der Stadt wurden Meinungen en gros gehandelt, man zählte die Punkte einer Besprechung und stürzte sich auf die neueste Mode, doch wo es keine Unterhaltung gab und die Dunkelheit nach dem Abendessen über die Marschen zog und das Glasfaserkabel noch nicht so weit verlegt war, weshalb das Fernsehen nichts zu bieten hatte - in dieser Stille von tickenden Uhren und bellenden Hofhunden blieb oft nichts weiter übrig, als zu einem Buch zu greifen. Zu einem altmodischen Buch aus Papier. So stellte ich mir das vor, obwohl diese Meinung durch nichts begründet war, wie so viele Meinungen. Ich hasste die Amsterdamer Selbstgefälligkeit. Den literarischen Krabbenkorb. Unsinn. Ehrlich sein. Meine Freundin wohnte in Amsterdam, sie hatte eine gutgehende Anwaltskanzlei und wollte mit mir zusammenziehen. Ich traute mich nicht. Seit dreißig Jahren nicht. Ich traute mich nicht, sie mit mir zu teilen. Nicht Tag und Nacht. Sie hörte nicht auf zu drängen: »Wir werden alt, bald schaffen wir das nicht mehr.« Deshalb war ich nach Paris geflohen, um jung zu bleiben, egal wie allein - sterbensallein und abgeschnitten, aber es schrieb sich besser. Jeden Monat stieg sie in den Zug und blieb eine Woche. Unerreichbarkeit tat unserer Liebe gut.
Ein Autor muss sich die Hände schmutzig machen - in Gedanken. Er hat an seinem Tisch Reisen unternommen, Morde begangen, hat vergewaltigt und geliebt, er ist Täter und Opfer, Schwanz und Möse, Schwert und Nacken. Erfahrung nährt seine Phantasie, und wenn sich eine Gelegenheit bietet, darf er sich das Rohmaterial nicht entgehen lassen, sonst werden seine Geschichten steril. Rohmaterial - Familie, Verrückte (falls das nicht synonym ist), Klatsch, Freunde, anderer Leute Eheprobleme, die Straße, die Provinz -, Menschen, noch nicht von der Feder geglättet. Ich sagte den Landfrauen also zu und meldete mich am vereinbarten Ort, im »Wappen« von S., einer Gastwirtschaft mit einem kleinen Saal hinterm Tresen, braun vom Rauch und mit Holzdielen, blankgeschliffen von Hochzeiten und Feiern.
Alle Stühle waren besetzt - die Hälfte Frauen, die Hälfte Männer. Die örtliche Buchhandlung hatte mein Buch auf einem Tisch ausgelegt. »He Arjaan, was sind die Bücher von dir aber teuer!«, rief mir ein Mann mit einem Bierglas in der Hand zu. »Wenn mir so viel verlangen täten, tät keiner mehr Zucker in'n Kaffe.« Ein Rübenbauer. Damals sagte mir das nichts. Ich schüttelte zahllose Hände und gab mir große Mühe, mich ganz normal zu geben.
Ich sprach über das Schreiben in Paris. Wie wichtig es ist, aus seinem Käfig herauszukommen und außerhalb des eigenen, wohlbekannten Zirkels Leute kennenzulernen. An der Hand meiner illegalen Putzfrau wanderten wir durch die Banlieue. Ich prophezeite den Aufstand. Der Saal gähnte.
»Und was sagt die Mudder zu das Ganze? Die is' doch auch so weit weg damals?« Der Rübenbauer stand extra auf: »Ihr kommt doch von hier?«
Ich war verblüfft. Er stellte sich als van Dis vor, der halbe Saal saß voller van Disse. Und dann erzählte ich eben von meiner Mutter, dem Wundertier aus dem Polder, von der Wilden Marie, die über die Farbgrenze heiratete und jung in die Kolonie ging, ohne sich umzuschauen. Nach dem Krieg kam sie wieder nach Holland zurück, betäubt von dreieinhalb Jahren Lager und dem brutalen Tod ihres Ehemanns. Zum ersten Mal konnte sie der Bauernfamilie ihre drei wunderschönen braunen Töchter vorführen und, um nicht den Mut zu verlieren, einen neuen, hellhäutigen Liebhaber, den sie in einem Evakuierungslager auf Sumatra kennengelernt hatte - er sollte für die Mädchen die Rolle des neuen Vaters übernehmen. Womit keiner gerechnet hatte - und was der Verwandtschaft auch zunächst vorenthalten wurde -, war das Baby, das als Schmuggelgut unter ihrem Hungerödem mit an Bord geschlichen war. Ein Mitbringsel aus dem Ärmel des kleinen Tropenmanns, der nie ihr...
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