Haben Frisuren versteckte Botschaften?
Stephanie Alvarez
In den Sechzigerjahren standen Hippiemähnen für neue Lebensformen, dann der Irokese für »No Future«. Manchmal sind Frisuren aber nicht so leicht zu lesen.
Als der Tyrann von Milet im Gefängnis des persischen Königs saß, plante er einen Aufstand, den sein Schwiegersohn Aristagoras anführen sollte. Um diesem das verdeckt mitzuteilen, schor er seinem treuesten Sklaven den Kopf und tätowierte darauf: »Es ist Zeit für eine Revolte gegen die Perser.« Nachdem die Haare nachgewachsen waren, schickte er den Sklaven nach Milet, wo Aristagoras ihm die Haare wieder schor und die Botschaft las. Das war ungefähr im Jahr 500 vor Christus. Der Ionische Aufstand, den Aristagoras daraufhin entfachte, ging in die Geschichte des antiken Griechenland ein. Haar ist von jeher und bis heute nicht nur ein gutes Versteck für Botschaften, es ist selbst auch Ausdrucksmittel und oft politisches Protestsymbol.
Als zum Beispiel die Sklavenschiffe im 18. Jahrhundert geraubte Menschen in die Neue Welt brachten, trugen viele Westafrikaner verdeckte Botschaften in ihren Haaren - etwa Hinweise darauf, woher sie stammten, oder in Amerika dann Fluchtwege für Neuankömmlinge. Hierzulande galt in den Siebzigern kurzes Haar bei Frauen als Zeichen gegen klassische Schönheitsvorstellungen und gegen das Patriarchat, ebenso lange Haare bei Männern. »Das Haar zu benutzen, um Widerstand auszudrücken, ist keine neue Idee«, sagt Kristin Riedelsberger. Die Ethnologin forscht an der Universität Kiel über Körper- und Schönheitsvorstellungen. Bereits das Bildungsbürgertum im 18. Jahrhundert rebellierte mit seinen Frisuren gegen die Aristokratie. Der ausufernden Mode und den gepuderten Perücken stellte das Bürgertum sein schlichtes Haar und eine »natürliche« und »tugendhafte« Schönheitspraxis entgegen. »Den künstlichen Tand des Adels erklärte es zum Zeichen für Unzurechnungsfähigkeit«, sagt Riedelsberger.
Vom jeweils vorherrschenden Schönheitsideal abzuweichen bedeutet allerdings nicht immer, dass man eine Botschaft hat. Manchmal bedeutet eine Frisur auch einfach gar nichts. »Welche Botschaften wir lesen, hängt stark von unserem kulturellen Kontext ab«, sagt die Historikerin und Anthropologin Hlonipha Mokoena von der Witwatersrand-Universität in Johannesburg. »Eine westliche Frau, die sich die Haare abrasiert, gilt als rebellisch. In vielen afrikanischen Kulturen ist es das Normalste auf der Welt, wenn Frauen sich die Haare abrasieren.« Ebenso wie dicht am Kopf geflochtene Zöpfe oder der sogenannte Afro: Für einen großen Teil der Weltbevölkerung sind dies ganz normale Frisuren ohne Aussage beziehungsweise ist es die traditionelle Form, die Haare zu tragen. Im Internet finden sich dennoch unzählige Berichte von Schwarzen, die etwa in den USA wegen ihrer Zöpfe diskriminiert werden. In Schulen, bei Vorstellungsgesprächen oder im Job werde ihnen immer wieder von Weißen mitgeteilt, ihre Frisuren wirkten nicht professionell genug, ungepflegt oder zu urban. Berufliche Konsequenzen inklusive. Der Gouverneur des US-Bundesstaats Kalifornien reagierte darauf und unterzeichnete im Juli 2019 ein Gesetz gegen Diskriminierung von Menschen mit natürlichem Haar, den CROWN Act (Create a Respectful and Open Workplace for Natural Hair), mehrere Bundesstaaten folgten. Vor diesem Hintergrund sind auch die zum Teil sehr empfindlichen Reaktionen der Black Community zu verstehen, wenn Prominente wie Kim Kardashian oder ihre Schwester Kylie Jenner öffentlich mit fein geflochtenen Zöpfchen auftreten und ihre Produkte vermarkten. Es erscheint wie blanker Hohn, wenn ausgerechnet weiße Frauen mit sehr viel Geld diese Frisuren als das tragen können, was sie sind: Frisuren. Ohne große Botschaft.
Werden wir ein Back-up vom Gehirn machen können?
Andrea Böhnke
Der Traum vom ewigen Leben hat Forscher schon immer zu großen Erfolgen getrieben. Eine Kopie des Geistes interessiert aber auch Unternehmer.
Der salzige Duft von Meer und Sand. Das blendend helle Licht. Der alte Mann am Kai. Erinnerungen wie diese sind in den Verbindungen zwischen den Gehirnzellen gespeichert. Dort schlummern sie, bereit zum Wachrufen. Bis wir sterben. Wenige Minuten nachdem das Herz aufhört zu schlagen, ist das Hirn tot. Das EEG zeigt keine gezackte Kurve mehr, sondern eine gerade Linie. Die Erinnerungen an den Tag am Meer: weg. Es gibt Forscher, die daran arbeiten, das zu ändern. Jede Erfahrung, jeden Gedanken, alles, was den Menschen ausmacht, wollen sie speichern - über den Tod hinaus.
Auch Stephen Hawking hat das Gehirn einmal mit einem Computerprogramm verglichen, das sich kopieren lasse. Allerdings glaubte er nicht, dass das dem Menschen gelingen wird. Ein Leben nach dem Tod? Für den Physiker ein Märchen.
Das US-Start-up Nectome will nun das Gegenteil beweisen. Die zwei Gründer, Absolventen des renommierten Massachusetts Institute of Technology, arbeiten an einem Verfahren, Gehirne zu konservieren - und zwar so, dass das sogenannte Konnektom erhalten bleibt. Der Begriff bezeichnet die Gesamtheit der Nervenverbindungen - und somit den Schlüssel zur Erinnerung. Die Konservierungsmethode der Forscher: Sie pumpen Chemikalien ins Gehirn, um Nervenzellen und Synapsen zu fixieren und diese vor Frost zu schützen. Dann frieren sie das Organ bei minus 135 Grad Celsius ein. Getestet haben sie das an einem Kaninchen unter Vollnarkose, das Ergebnis beschreiben sie als »festes Glas ohne Kristalle«. Das Unternehmen warb anschließend damit, ein Back-up des menschlichen Verstands erstellen zu können. Für 10 000 Dollar durften Interessierte sich auf eine Warteliste setzen lassen, etwa 20 sollen das getan haben. Doch abgesehen davon, dass dieses Verfahren als unethisch kritisiert wurde, weil das zu konservierende Gehirn zunächst noch leben muss, ermöglicht es auch noch lange kein Back-up. Das Original wird lediglich auf Eis gelegt - so als baute man die Festplatte eines Computers aus und fröre sie ein. Für ein Back-up aber bräuchten die Forscher ein zweites, identisches Gehirn: 86 Milliarden Nervenzellen, jede von ihnen verknüpft mit Tausenden anderen. Diese Mikroarchitektur des Gewebes nachzubauen ist unmöglich.
Wahrscheinlicher ist da eine Lösung auf Ebene der Software, also die Daten auszulesen, die im Hirn gespeichert sind. Mit bewussten Gedanken gelingt das bereits zum Teil. Liegt jemand im Kernspintomografen und erinnert sich aktiv an den Tag am Meer, ist zumindest etwas von dieser Aktivität auf dem Bildschirm zu sehen. Doch all die unbewussten Gefühle, Gedanken, Erinnerungen: Sie sind weder fass- noch lesbar. Und selbst wenn das irgendwann gelänge, worauf sollte der Geist überspielt werden, um das Back-up später zu reaktivieren? Schließlich genügt es nicht, einen Schaltplan zu besitzen. Es muss auch Strom fließen. Erinnerungen sind unbrauchbar, solange sich niemand aktiv erinnert. Und wenn irgendwann ein Supercomputer all diese Prozesse simulieren könnte? Würde er sich an den Duft des Meeres und den alten Mann erinnern? Nein, sagen Forscher und nennen es »the hard problem of consciousness«. Mit wissenschaftlichen Methoden lasse sich das, was wir Bewusstsein nennen, niemals erfassen. Transhumanisten wie Ray Kurzweil glauben, dieses Problem umgehen zu können, und stellen sich Tausende Nanoroboter vor, die durch unsere Blutbahnen schwirren und regelmäßig Back-ups machen. Aber Nanoroboter sind derzeit vor allem ein Produkt der, nun ja, Fantasie. Nicht andersrum.
Woher weiß mein Gehirn, dass etwas fehlt?
Filipa Lessing
Eben war der Teddybär noch zu sehen, dann verdeckt ein Vorhang das Kuscheltier. Ist der Teddy weg? Kleinkinder unter vier Monaten scheitern an dieser Aufgabe. Sie haben noch keine »Objektpermanenz«: Nehmen sie ein Objekt nicht mehr wahr, denken sie, es existiert nicht mehr. Doch auch die Wissenschaft hat Schwierigkeiten mit der Beschreibung von Abwesenheit. Der Stand der Forschung lässt sich grob in drei Positionen einteilen: die sinnliche, die metakognitive und die kognitive Erklärung.
Die Philosophin Anna Farennikova vertritt den »sinnlichen Ansatz«. Sie geht davon aus, dass wir fehlende Dinge wirklich sehen können. Zum Beispiel den Schlüssel, den man morgens vermisst. Demnach erzeugt das Gehirn ein Bild des Schlüssels im Arbeitsgedächtnis, wenn wir danach suchen. Eine Art Schablone, die wir mit den Sinneseindrücken abgleichen. Dagegen spricht allerdings, dass es das Gehirn Energie kostet, Abwesenheit zweifelsfrei festzustellen, wie eine kürzlich erschienene Studie zeigt. Über einen fehlenden Gegenstand grübeln wir nach, einen vorhandenen Gegenstand hingegen nehmen wir einfach wahr. Abwesenheit braucht mehr Gehirnleistung als Anwesenheit.
Die Kognitionspsychologen Jean-Rémy Martin und Jérôme Dokic setzen dagegen auf den »metakognitiven Ansatz«. Dieser Theorie zufolge wissen wir, dass etwas fehlt, weil wir ein Gefühl der Überraschung erleben. Betreten wir etwa einen Raum, in dem wir einen Freund erwarten, wissen wir, dass er nicht dort ist, weil wir von seiner Nichtanwesenheit überrascht sind. Grundlage der Überraschung sind also Glaubensvorstellungen über die Welt. Für diesen Ansatz sprechen neuere Studien zur Objektpermanenz. Ihnen zufolge speichert das Gehirn von Kleinkindern zwar noch kein inneres Bild des Kuscheltiers, aber eine Erwartung daran. »Auch Erwachsenen liefern ihre Sinne nur ein ungenaues Bild von der Welt«, sagt der Neurowissenschaftler Chris Frith, »also versucht unser Gehirn ständig, Voraussagen darüber zu treffen, was der wahrscheinlichste Grund für das eintreffende Signal sein könnte.« Bleibt das Erwartete aus, signalisiert das Gehirn einen Vorhersagefehler und korrigiert die Vorhersage. Doch auch dieser Ansatz hat einen Haken. Wird uns etwa...