Schweitzer Fachinformationen
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Der Fischer
>Casonieri< nannte man die Menschen, die dauerhaft auf den Inseln der Lagune rund um Grado lebten. Einst waren es Hunderte, jetzt nur noch wenige. Die Inselbewohner besuchten die Hauptinsel selten und führten ein einfaches, bescheidenes Leben. Ohne Strom und fließendes Wasser war der Winter hart und entbehrungsreich. Die Casonieri lebten hauptsächlich von der Fischerei und gelegentlich auch von der Jagd. Die Lagune beherbergte viele Wildschweine, die ausgezeichnete und ausdauernde Schwimmer waren und manchmal erlegten sie auch Rehwild. Sie bauten ihr eigenes Obst und Gemüse an. Täglich fuhr ein sogenannter >Batelante< mit seinem flachen Boot, der Batela, von Insel zu Insel, sammelte die Waren ein und verkaufte sie auf dem Markt in Grado.
Kurz nach Sonnenaufgang ankerte der Fischer mit seinem kleinen Motorsegler an der Westseite des Porto Mandracchio, dem kleinen Stadthafen mitten in der Altstadt Grados. Luca, über siebzig, besserte seine Rente auf, indem er Bootstouren in die Lagune anbot. Seine Lizenz sicherte ihm einen Liegeplatz im Mandracchio, einem Y-förmigen Hafen, der einst Teil des Hafensystems von Aquileia war. Heute lagen dort hauptsächlich Sport- und Segelboote, oft mit ausländischer Flagge. Luca machte seine frühmorgendlichen Ausfahrten aus Tradition. Er fischte mit der Angel, nicht mit Netzen, da sein Ausflugsboot dafür ungeeignet war. Etwa vier Seemeilen entfernt besaß er auf einer der Inseln eine Hütte, eine >Casone<, die sein Großvater um die Jahrhundertwende errichtet und Luca aufwendig restauriert hatte. Luca war ein typischer Casonieri und Fischer, wie auch alle seine Vorfahren seit den Zeiten Julius Cäsars.
Zwei Barsche, eine Goldbrasse und ein Hummer waren die heutige Ausbeute. Gegen sechs Uhr lieferte er seinen Fang bei der Fischereikooperation in Grado ab. Anschließend machte er es sich auf der achtern gelegenen Sitzecke bequem, rauchte seine Pfeife und genoss die warmen Sonnenstrahlen an diesem wunderschönen Septembermorgen.
Luca konnte von seinem Platz im Boot aus beobachten, wie sein Freund aus der Villa Giuliani an der Piazza S.Marco trat. So wie jeden Tag führte Emilio seinen Dackel >Biscotti< Gassi. Signor Bombolone stammte ursprünglich aus Wien, wo seine Familie eine traditionsreiche Buchhandlung in der Innenstadt besessen hatte. Soweit Luca wusste, hatte sein Freund diese vor fünfzehn Jahren verkauft, Wien verlassen, war nach Grado gezogen - und geblieben. Den Dackel hatte er vor drei Jahren, nach einem Kurzbesuch in Wien, mitgebracht. Seitdem waren die zwei unzertrennlich. Sie galten bei den Einheimischen inzwischen als Gradeser Originale.
Der Anruf
Als die Baronesse aus Wien anrief, saß Rick Bornbeh an einem Freitagmorgen im Caffè Nero im Innenhof des BBC-Headquarters in London. Er genoss die geschäftige Atmosphäre und den hervorragenden Kaffee.
Bornbeh, Mitte fünfzig, durchschnittlich groß und eher hager, hatte ein Gesicht voller feiner Fältchen, die von einem abwechslungsreichen Leben zeugten. Seine warmen braunen Augen strahlten Intelligenz und Gelassenheit aus. Er sprach wohlartikuliertes Englisch und konnte sich auch in Deutsch und Italienisch gut verständigen. Mit der Baronesse Hemma von Gerstl hatte Bornbeh jahrelang erfolgreich Geschäfte gemacht. Sie war eine wohlhabende, alleinstehende Dame und benutzte inzwischen einen Gehstock. Die Baronesse von Gerstl entstammte einem alt-österreichischen Adelsgeschlecht. Ihr Vater, Baron Theodor von Gerstl, war Kurator am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien gewesen und hatte um die Jahrhundertwende einige Werke der Jugendstilmaler erworben. Diese Sammlung hatte er seiner Tochter hinterlassen, die bereits in den Neunzigerjahren einige Werke verkaufte, um ihren extravaganten Lebensstil zu finanzieren. Die Baronesse war eine >Salonnière<, die in ihrer eleganten Stadtwohnung Gäste mit einem Hauch von Nostalgie und großzügiger Gastfreundschaft empfing. Bornbeh, damals noch jung, hatte Kunst in London und Wien studiert. Dort spezialisierte er sich auf den Jugendstil und lernte vom Kunsthändler Thaddäus Gagelmann, wie Experten Kunstwerke betrachten, worauf sie achten und was besonders wichtig war, wenn man sie täuschen wollte. Die Baronesse hatte Bornbehs Talent erkannt und ihm angeboten, verschollene Werke der Secessionisten kreativ zu rekonstruieren. Ihr Verwandter, Leopold von Falkenstein, besorgte dazu alte Leinwände auf Keilrahmen, und Bornbeh fertigte die Nachbildungen an, die die Baronesse über die Galerie Gagelmanns verkaufen ließ. 2018 war Bornbeh in England unter Verdacht des Steuerbetrugs geraten, und nach Poldis überraschendem Tod beschlossen sie, ihre Aktivitäten einzustellen. Sie hatten ohnehin bereits Millionen verdient.
Bornbeh nahm einen Schluck seines Caffè Doppio und ging an sein Mobiltelefon.
»Einen wundervollen guten Morgen, sehr geehrte Baronesse, wie geht es Ihnen?«
»Hab< die Ehre, Master Rick,« flötete die Baronesse. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei etwas Unanständigem?«
»Keinesfalls, sofern Sie einen doppelten Espresso in London nicht als obszön empfinden.«
»Geschenkt, Rick. Es sind schon einige Jahre seit unserem letzten Treffen vergangen, aber ich denke, es ist wieder an der Zeit, dass Sie mich in Wien besuchen. Am besten beim Gerstner in der Kärntner Straße, Sie erinnern sich?«
»Das würde mich sehr freuen, gnädige Frau. Gibts wieder etwas zu restaurieren?«
»Darüber sprechen wir in Wien, Rick. Ich sag nur ein Wort: Auchentaller. Rufen Sie mich an, wenn Sie in Wien sind!« Die Baronesse legte auf.
Bornbeh dachte nach. Er kannte ihre Sammlung und wusste, dass sie bereits viele Jugendstilmaler verkauft hatte. Zwei Auchentaller-Akte, die er für sie zuletzt geschaffen hatte, galten seit den Dreißigern als verschollen. Besitzt sie darüber hinaus noch einen Auchentaller? Der längst vergessene Secessionist, dem im kommenden Frühjahr eine Ausstellung in Grado gewidmet ist?
Bornbeh zahlte und eilte zu seiner Wohnung in der Hallam Street, wo er mit seinem Lebensgefährten Francis die Grafarello-Galleries betrieb.
*
Francis erzählte er keine Details; er wollte nicht, dass dieser sich Sorgen machte. Er vertraute ihm lediglich an, dass er dringend für einige Zeit nach Wien müsse. Eine alte Dame und Kundin, die er schon eine halbe Ewigkeit kenne, brauche seine Hilfe. Er werde sich melden, sobald er mehr wüsste. Francis schaute nicht gerade überzeugt drein, aber er kannte seinen Rick lange genug, um nicht nachzufragen. Die beiden lebten nun schon seit beinahe zwanzig Jahren harmonisch zusammen. Francis war ein paar Jahre jünger als Rick, ein begabter Künstler und der eher Besonnene in ihrer Beziehung. Bornbeh konnte ihm getrost die Leitung der Grafarello-Galleries überlassen. Er packte seinen Koffer, buchte den nächsten Flug nach Wien und fuhr mit der Victoria Line von der U-Bahn Station Bond Street nach Heathrow.
Während er im Terminal auf das Boarding wartete, tätigte er ein paar Anrufe. Er buchte zuerst ein Zimmer im Hotel Ambassador in der Kärntner Straße. Über Airbnb reservierte er unter dem Namen Richard Rehborn ein diskretes Appartement in der Nähe der Alten Donau. Für den Namen Rehborn - eine Art Anagramm - besaß er hervorragend gefälschte Papiere und ein zweites Mobiltelefon. Kurz vor dem Abflug schickte er der Baronesse eine Textnachricht, in der er ihr mitteilte, dass man sich am nächsten Tag beim Caffè Gerstner treffen könne.
Einen Krapfen für Signor Bombolone
Emilio und Biscotti verließen die Villa Giuliani und traten auf die kleine Piazza S.Marco hinaus. Das Dackelchen stürzte sofort zu seiner Laterne und hob seine Hinterpfote. Der verhaltensauffällige Zwergdackel betrachtete die gesamte Altstadt Grados inzwischen als seinen Zuständigkeitsbereich und markierte sein Reich gewissenhaft. Emilio und Biscotti überquerten die Via Alessandro Manzoni, gingen an der schönen Caffè-Bar an der Ecke vorbei und folgten dem schmalen Uferweg Riva S. Marco ein kurzes Stück. Dort lag das Boot des Fischers an der Kaimauer. Biscotti stürmte sofort los, lief schnurstracks über den kleinen Gangway-Steg an Deck und blickte Luca schwanzwedelnd und erwartungsvoll an. Der hielt, wie immer, ein Stückchen Krabbenfleisch für den Dackel bereit, das dieser genüsslich verschlang.
»Buongiorno Luca, wie war dein Fang?«
»Buongiorno, così così1. Heute hab ich eine Goldbrasse, zwei Barsche und einen Hummer gefangen. Und die anderen Fischer haben eine Menge Muscheln abgeliefert. Du könntest ja heute Abend im Zero Miglia speisen?«
Die Osteria Zero Miglia di Mare lag am Kanal, der zum Hafen führte, gleich in unmittelbarer Nähe des Fischmarktes. Das Lokal gehörte der Cooperativa Pescatora und bekam damit jeden Tag die frisch gefangenen Fische und Meeresfrüchte der Fischer. Die Atmosphäre direkt am Kanal und den Fischerbooten war einzigartig. Für viele Einheimischen galt es als das beste...
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