Heidi Rösch
Kinderliteratur querlesen
Kriterien der Lektürewahl
Die Vorschläge zur Lektürewahl enthalten auch Überlegungen zur didaktischen Realisierung. Sie basieren auf Ausführungen zu Merkmalen literarästhetisch anspruchsvoller Kinder- und Jugendliteratur (KJL), die durch das Spannungsfeld zwischen Literarisierung und Pädagogisierung näher beschrieben wird, Facetten literarischer Mehrfachadressierung enthält und schließlich in eine thematologische Lesart mündet, die den Bogen zur gesellschaftsrelevanten KJL spannt. Dort geht es zunächst um gesellschaftliche Perspektiven sowie Vielfalt (in) der KJL, die in eine intersektionale Lesart überführt wird. Nach Beispielen für Diversität und Intersektionalität in der aktuellen KJL wird am Ende der aufgezeigte Kriterienkatalog zusammengefasst.
1. Was ist ästhetisch anspruchsvolle Kinder- und Jugendliteratur und wie sollte sie gelesen werden?
Die Internetseite Literatur für Kids & Co nennt Bücher, die »lustig und verrückt, nachdenklich und informativ« sind, viele Fragen stellen, die Welt erklären und »der Fantasie Flügel« verleihen (Goethe-Institut Frankreich 2024). Damit sind bereits wichtige Merkmale benannt: Kinder- und Jugendliteratur (KJL)1 ist fiktiv (erdacht), imaginativ (öffnet Vorstellungen), konnotativ (deutbar) und mehrdeutig. Sie ist zwar auch informativ und erklärt die Welt, verstrickt die Rezipierenden dabei aber in einen entpragmatisierten, dialogischen (Reflexions-)Prozess mit dem Werk, der Zugänge zum Weltverstehen öffnet, aber nicht festlegt. Diese Merkmale sind für die Wahl und den Umgang mit KJL gleichermaßen relevant. Sie gelten für alle Genres (fantastische, realistische, psychologische KJL, Literatur für Erstleser:innen sowie Adoleszenzromane bis hin zu All-Age- und Young Adult-Literatur) und alle medialen Formate wie Bücher, Bilderbücher, Comics und Graphic Novels, Zeichentrickund andere Filme, Hörbücher und Hörspiele sowie Theaterinszenierungen. Im schulischen Kontext ist die Auswahl der KJL jedoch oft an Kriterien gebunden, die in erster Linie nicht die Deutungsoffenheit und ästhetische Verspieltheit der Werke, sondern ihre »erzieherischen« Potentiale in den Vordergrund rücken. Im Folgenden soll die Frage geklärt werden, was ästhetisch anspruchsvolle und gesellschaftlich relevante KJL ausmacht.
1.1 Spannungsfeld zwischen Literarisierung und Pädagogisierung
Die KJL und ihre Didaktik bewegt sich seit der Aufklärung (1720-1800) bis heute im Spannungsfeld zwischen Belehrung (mit mehr oder weniger direktem moralischethischem Impetus) und Unterhaltung bzw. literarischen Lektüreangeboten. Eine aus literarästhetischer Perspektive missbräuchliche Lesart entsteht dann, wenn gesellschaftliche oder pädagogische Werte der Literatur übergestülpt, ironischsatirische Überzeichnungen oder fantastisch verfremdete Symbolik nicht wahrgenommen und poetische Werke pragmatisch rezipiert werden.
In diesem Zusammenhang plädierte Bettina Hurrelmann - in ihrer Reaktion auf Gerhard Haas' Kritik an der »didaktisch ausgebeuteten KJL« (Haas 1988a) und ihrer »Pädagogisierung« (Haas 1988b, S. 8) - für die Mehrdimensionalität der KJL und betonte neben der »ästhetisch-formalen Text-Dimension« die »Leser-Dimension«, die die Rezeptionsvoraussetzungen von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt, sowie eine wirkungsästhetische, d. h. »pädagogische Dimension«, die sich auf den Gehalt der KJL, ihre Wertorientierung, ihren Beitrag zu Bildungsprozessen bezieht und das berücksichtigt, »was wir als Erwachsene für kulturell erstrebenswert halten« (Hurrelmann 1988, S. 3). Alle drei Dimensionen sollen möglichst gleichgewichtig betrachtet werden und keine soll die anderen dominieren.
1.2 Mehrfachadressiertheit
Lange galt KJL aufgrund ihrer »Einfachheit« (Lypp 1984) (nur) als Einstiegsliteratur, bis ihr 1980 eine Mehrfachadressiertheit attestiert wurde, so dass sie fortan als doppelsinnig hinsichtlich einer kindlichen und einer erwachsenen Leserolle betrachtet wird (Ewers 1990).2 Der Begriff der Mehrfachadressierung wurde später auch auf eine ethnische Mehrfachadressierung ausgeweitet (vgl. Rösch 2000, S. 38). Danach muss KJL - vor allem wenn neben >weißen<, oft nicht markierten Figuren auch migrantisierte oder PoC-Figuren3 vorkommen - daraufhin untersucht werden, ob unterschiedliche Leserollen und Perspektiven angeboten werden und wie diese ausgestaltet sind. Ähnliches gilt für alle Figuren, die eine diskriminierte Gruppe repräsentieren. Aus literarästhetischer Perspektive ist zu prüfen,
ob die Figuren Differenzlinien nur rekonstruieren oder ob sie diese dekonstruieren oder überwinden und welche Handlungsspielräume ihnen innerhalb der Figurenkonstellation eingeräumt werden,
ob der Plot mehr bietet, als dichotomisierende -ismen zu problematisieren, und stattdessen zur (Selbst-)Reflexion anregt,
ob die Rezipierenden durch Leerstellen, Irritierendes, Unerwartetes etc. zur Mitgestaltung angeregt werden.
Wird Mehrfachadressierung von der Lerngruppe aus gedacht, ist unbedingt an alle zu denken und dafür Sorge zu tragen, dass sich dichotome Konzepte nicht stabilisieren, sondern aufgebrochen werden. Um zu verhindern, dass KJL zum politischen Statement wird oder als solches gelesen wird, sollte der Handlungsspielraum aller Figuren im Spannungsfeld von Diskriminierung und Privilegierung, Subjektivierung und Objektivierung in den Blick genommen und ihre Interaktion in den Vordergrund gestellt werden.
1.3 Eine thematologische Lesart
Thematologie bezieht sich auf die Handlung eines literarischen Werks, die durch inhaltliche Elemente wie Motive, Stoffe und Themen organisiert und sinnbildend gestaltet wird. Thematologische Zugänge klären, welche Vernetzung im Werk entsteht und welche perspektivischen Lesarten sie für Rezipierende initiieren (können). Im Unterschied zu verbreiteten thematischen Zugriffen schafft der thematologische Ansatz eine enge Verbindung zu ästhetischen Verfahren.
Die Internetseite Der Rote Elefant »empfiehlt Literaturvermittler:innen aktuelle, ästhetisch herausragende Kinder- und Jugendbücher« (Gemeinschaft zur Förderung von KJL 2024, o. S.). Die aktuellen Empfehlungen zeigen intendierte literarästhetische Kriterien, die ich hier hinsichtlich einer thematologischen Lesart betrachte:
Das Bilderbuch Herr Kafka und die verlorene Puppe von Larissa Theule und Rebecca Green (2021, dt. 2024) folgt einem (durch indirekten Bezug auf Kafkas Leben und Sterben) motivisch akzentuierten intertextuellen Ansatz, verbindet diesen mit einem kindgemäßen Stoff um Irmas verlorene Puppe, von der sie, nachdem sie einem »Herrn« von ihrem Leid erzählt hat, fortan Briefe mit Abenteuern erhält. Der offene Schluss (das Ausbleiben der Briefe) stellt eine Leerstelle dar, die Lesende motiviert, über das Verbleiben der Puppe und des Herrn Kafka nachzudenken, was mit dem Thema Verlassenwerden, Sterben und (Weiter-) Leben verbunden wird, aber auch (hoffentlich) ein Nachdenken über den Aufbruch in Neues anregt, das die Erzählungen in den Briefen eröffnet.
Die Graphic Novel Sibiro Haiku von Jurga Vile und Lina Itagaki (2017, dt. 2020) für Jugendliche erzählt im Stile eines Haiku von der Deportation litauischer Familien durch die Sowjetunion in den 1940er Jahren. Sie bietet einen Einstieg in diese japanische Gedichtform in Verbindung mit einem historischen Stoff und einem aktuellen Literaturformat. Häufig erhalten >alte< Stoffe in >neuen< Formaten eine besondere Aktualität. Die Formsprache verleiht dem Thema eine internationale Bedeutung und motiviert, über Vertreibung und Flucht nachzudenken.
Das Jugendbuch Honig mit Salz von Tamara Bach (2023) greift einen eher langweiligen Stoff - einen Familienurlaub - auf. Motiviert wird die Erzählung durch die Figuren (Ari - Mama - Papa), die in verknappten Dialogen aneinander vorbeireden und -leben. Dabei überlagern sich Außenbeschreibung und Innensicht und werden protokollhaft sprachlich so verdichtet, dass die Sprachlosigkeit erfahrbar wird. Die poetischen Passagen mit ihren unsinnig anmutenden Verbindungen und Aris Da-Sein, aber Weg-sein-Wollen inszenieren das Thema, irritieren und unterstützen die Ko-Autorenschaft der Lesenden.
Der Vers-Roman Esther und Salomon von Elisabeth Steinkellner (2021) greift den Stoff der ersten Liebe auf und lädt zum Perspektivenwechsel ein. Zunächst erzählt Esther, dann Salomon. Den Übergang bildet ein Polaroid-Foto eines weißen Mädchens und eines Schwarzen Jungen. Auf verbaler Ebene bleiben beide Figuren >farblos< und erscheinen dadurch gleichberechtigt und sozial gleichgestellt. Als Salomon seine Lebens- und Familiengeschichte erzählt, werden motivisch gesehen weitere innerfamiliäre Gemeinsamkeiten (neue Partnerschaften der Eltern, Fürsorge für jüngere Geschwister etc.) offenbart. Gleichzeitig wird Esthers Weißsein durch Salomons...