Teil 1 - Inferno (Hölle)
01
Ein Poltern reißt ihn aus dem Schlaf. Die Tür schlägt auf. Drei Häftlinge stürmen in die Zelle. Ohne Vorwarnung. Ohne Eile. Zwei von ihnen reißen seine Decke weg, stoßen gegen den Tisch, stoßen gegen ihn. Der Dritte, der die Führung hat, bleibt stehen. Er schaut sich um. "Dante", brüllt er. "Soso. Du willst das Buch wirklich lesen ." Sein Blick gleitet durch die Zelle. Er weiß genau, wonach er sucht. Dann sieht er es. Das Buch. Liegt neben dem Kopfkissen. Er greift danach. "Zuerst lese ich es."
In seinem Kopf schwirren die Gedanken. Wenn er jetzt nichts tut, wird er für immer der Fußabtreter sein. Wenn er sich wehrt, wird alles schlimmer. Das weiß er. Das wissen alle. Hier drin gilt ein anderes Gesetz. Ein unausgesprochenes. Wegen dem, wofür er verurteilt wurde, ist er Freiwild. Was soll er tun? Früher hat er oft mit seinem Großvater Mühle gespielt. Der alte Mann starb viel zu früh. Aber er hatte Geduld. Und einen Blick für Fallen. Immer wieder lockte er "Dante" in eine Zwickmühle. Kein Ausweg. Egal was man zieht - es wird schlimmer. Genau das ist es jetzt. Eine Zwickmühle.
Aber sein Stolz war stärker. Dieser verdammte Stolz, der ihm schon so oft das Genick gebrochen hatte. Er hätte einfach den Mund halten können. Abwarten. Sich fügen, wie so viele andere. Aber genau das konnte er nicht. Nicht, wenn ihn jemand auf diese Art behandeln wollte. Ihm ging es nicht um das Buch an sich. Es liest sich sowieso sehr beschissen. Es geht darum das man ihm etwas wegnehmen wollte. Ein Buch, das bis jetzt nicht der Hit war, aber eben auch seinen Stolz! "Du kannst lesen?", fragte "Dante" und hob den Kopf, so gut es ging. Seine Stimme klang heiser, aber fest. Die Antwort kam prompt. Ein Faustschlag traf ihn hart in den Magen. Er keuchte auf, ging in die Knie, krümmte sich vor Schmerz. Die Welt drehte sich kurz. Bevor er reagieren konnte, waren sie alle drei über ihm. Er spürte Tritte, Schläge, Fäuste auf Rücken, Rippen, Nacken. Der Raum wurde eng, laut, schmerzhaft. Wie durch Watte hörte er sein eigenes Stöhnen. Kein Ausweg. Kein Schutz. Nur die kalte Zelle und drei Körper, die auf ihn eindroschen.
Eine Stimme durchschneidet die Prügelei wie ein Messer. Laut. Klar. Befehlsartig. "Genug!" Die Schläge hörten auf. Nicht aus Einsicht - aus Irritation. Der Rädelsführer drehte sich um, wütend. "Was geht dich das an? Verpiss dich." Doch die Stimme blieb ruhig. Fest. "Ihr schlagt ihn sonst noch tot. Und dann? Dann wird's schwierig. Jetzt können wir noch was erzählen von Stolpern, Wut und Selbstverletzung. Glaubt euch zwar keiner, aber was anderes ist nicht zu beweisen. Er wird euch nicht verraten." Einen Moment herrschte Stille. Der Anführer musterte den Sprecher. "Und was macht dich da so sicher?" Die Antwort kam ohne Zögern. "Er hängt an seinem Leben."
Ein letzter Tritt, dann verschwinden die drei. Schnell. Wortlos. Zurück bleibt der Lärm in Dantes Schädel. Und ein brennender Schmerz in jeder Faser. Der Vierte tritt vor. Er reicht ihm die Hand. Hilft ihm auf, ohne ein Wort. "Danke", murmelt "Dante". Seine Stimme ist rau. "Das hättest du nicht tun müssen." Der andere grinst. "Nur wenn ich gewollt hätte, dass das hier dein absolutes Ende ist." Er klopft sich den Staub von der Hose. "Ich bin Mehmet", sagt er. "Und was wollten Panther, Leo und Isegrimm von dir?" In "Dantes" Kopf flackert ein Gedanke auf. Ein Name. Vergil? Er zögert, dann antwortet er: "Das Buch." Mehmet nickt. Ein stilles, wissendes Nicken. Er weiß, dass es nicht ums Buch ging. Nie ging es um das Buch. Das war nur der Vorwand. Aber er fragt nicht weiter. Er dreht sich um und geht.
"Dante" räumt die Zelle auf. Langsam. Mechanisch. Er weiß, dass die Wärter keinen Vorwand brauchen. Aber er will ihnen auch keinen liefern. Zerknüllte Kleidung. Ein umgestürzter Stuhl. Sein Becher, zerbrochen. Die Scherben kehren ihm Erinnerungen ins Fleisch. Auf dem Tisch liegt das Buch. Das Buch, das ihm die Schläge eingebracht hat. Er weigert sich, daran zu denken. An den eigentlichen Grund. Er schiebt den Gedanken weg. Begräbt ihn unter Routine. Aber das Buch liegt da. Mitten in der wiederhergestellten Ordnung. Wie ein Hohn. Wie eine stille Anklage. Er starrt es an. Lange. Dann streckt er die Hand aus. Nimmt es. Und liest weiter.
Ich weiß nicht, wie lange wir gegangen waren. Der stille Lärm des verdammten Waldes war verstummt, als hätte jemand einen Schleier über die Welt gezogen. Kein Schrei mehr, kein Heulen, kein Wimmern - nur noch das Tappen meiner Schritte und das leise Rascheln der Kutte meines Begleiters. "Vergil", flüsterte ich, ohne zu wissen, warum ich flüsterte. "Was ist das für ein Ort?" Er antwortete nicht sofort. Sein Blick war geradeaus gerichtet. Sein Gang ruhig wie immer, aber in seinen Augen lag etwas, das ich bisher nicht gesehen hatte: Zögern. Oder war es Bedauern? "Dies", sagte er schließlich, "ist der erste Kreis. Der Limbus."
Wir traten durch eine Art Nebelwand. Dahinter öffnete sich eine weite Ebene, sanft gewellt wie ein schlafendes Meer. Kein Feuer. Kein Blut. Kein Gestank. Stattdessen: Licht. Ein fahles, mattes Leuchten, das aus keiner Quelle kam. Es war einfach da. Ohne Wärme. Ohne Schatten. In der Ferne sah ich Bäume. Hoch, still, ohne Wind. Eine Art Burg ragte hinter ihnen empor. Und da waren Gestalten. Viele. Schweigend, sitzend, gehend, lesend. Wie in einer Bibliothek ohne Bücher. Wie in einem Tempel ohne Götter. "Wer sind sie?", fragte ich. Mein Herz klopfte schneller. Etwas in mir wollte näher treten. Etwas in mir wollte weglaufen. Vergil blieb stehen. "Die Großen", sagte er leise. "Die, die vor dem Licht kamen. Die, die mit Vernunft lebten, mit Anstand und Weisheit. Aber ohne Taufe." Ich blickte ihn an. "Also... Heiden?" Er nickte. "Philosophen. Dichter. Könige. Und auch Kinder, gestorben vor der Zeit. Unschuldig, aber ungeweiht."
Ein Windzug fuhr durch mein Innerstes, doch kein Blatt bewegte sich. Die Stille war ohrenbetäubend. Ich ging weiter. Dann sah ich sie. Fünf Gestalten kamen auf mich zu, gehüllt in Gewänder, die nicht alterten. Sie sprachen nicht - und doch wusste ich, dass sie mich anerkannten. Vergil trat einen Schritt zur Seite. "Ehre ihnen", sagte er. "Denn sie erkennen dich als ihresgleichen." Ich erstarrte. "Mich?" "Du hast den Mut, lebendig zu gehen, wo nur Tote wandeln. Sie ehren den Wanderer." Die Fünf standen nun vor mir. Ein Mann mit hoher Stirn und fragendem Blick. Ein anderer mit gekräuseltem Bart und wissender Miene. Eine Frau mit leuchtendem Blick, die ihre Hände auf ein geschlossenes Buch legte. Und zwei Jünglinge mit ernsten Gesichtern, deren Augen an mir hängen blieben wie an einer Frage. Ich wusste ihre Namen nicht. Und doch kannte ich sie. Platon. Aristoteles. Sappho. Hippokrates. Cicero. Oder waren es andere? Es spielte keine Rolle. "Sucht ihr Erlösung?", fragte ich. Meine Stimme zitterte. Der Bärtige antwortete. "Erlösung ist uns nicht verheißen." Sein Ton war sanft, fast milde. "Nur Erinnerung." "Und das genügt euch?", fragte ich. Die Frau legte den Kopf schräg. "Was genügt einem, der nie das Licht gekannt hat? Wir waren edel im Schatten. Doch auch der Schatten vergeht."
Vergil legte eine Hand auf meine Schulter. "Komm." Ich drehte mich noch einmal um. Da war ein Kind. Es saß auf dem Boden, die Knie umklammert. Ein kleiner Junge mit großen Augen. Er sagte nichts. Aber in seinem Blick lag eine Frage, die niemand beantworten konnte. Ich wollte zu ihm, aber Vergils Griff wurde fester. "Nicht einmal du kannst sie befreien", sagte er. "Das ist der Preis." "Welcher Preis?", fragte ich. "Gnade - die nur denen gilt, die im Licht geboren wurden." Ich sah noch einmal zurück, als wir weitergingen. Der Nebel schloss sich hinter uns. Und in meinem Inneren schloss sich etwas mit ihm. Eine Tür vielleicht. Oder ein Zweifel.
"Dante" legte das Buch beiseite. Langsam. Als würde es nach ihm greifen, wenn er es zu schnell ablegte. Das, was er eben gelesen hatte, schwirrte ihm im Kopf herum. Kreise, Schleifen, Bilder - aber nichts ließ sich greifen. Gedanken kamen und verschwanden, als würden sie sich absichtlich entziehen. Wie Nebel hinter Gittern. Abgesehen davon fiel es ihm immer noch schwer, zu lesen, wie sein Namensvetter, Widerwillens, geschrieben hatte. Dieser Ton, diese Worte, diese Bilder - sie waren so weit weg von allem, was er kannte. Und doch . war da etwas. Etwas, das sich festgehakt hatte. Nicht mit Gewalt, sondern mit einer Art sanfter Hartnäckigkeit. Ein Haken in der Seele. Ohne Schmerz, aber mit Nachhall.
Mehmet schob den Kopf durch den Türspalt. "Kontrolle gleich", sagte er knapp. Dann sah er sich um....