Schweitzer Fachinformationen
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Die Kutsche war schwarz wie Pech und stieß bei jeder Erschütterung ein leises Stöhnen aus, als trüge sie nicht nur Menschen, sondern auch deren Schuld. Zwei stumme Beamte auf dem Kutschbock, zwei weitere im Innern - stählern im Blick, unberührt vom klammen Atem der Dämmerung. Zwischen ihnen: ein Mann, kaum über Mitte dreißig, das Gesicht bleich, die Hände gefesselt, die Augen voll stummer Fragen, die niemand beantworten wollte.
Sie hielten vor dem großen schmiedeeisernen Tor. Es ragte aus der Erde wie ein Grabmal, überzogen von feinem Rost, als hätte es lange geschwiegen, nun aber seine kalte Stimme wiedererlangt. In kunstvollen Lettern, mit Dornenschwüngen und gotischem Ernst, stand dort: Sanatorium St. Raphael. Direkt daneben glänzte ein Schild aus Messing, so blank geputzt, dass es das fahle Licht der Laternen in trügerischem Gold zurückwarf. Darauf eingraviert, in fast kalligraphischem Schwung:
"Ihr, die ihr eintretet, lasset alles Böse fahren; hier wohnt die Hoffnung. - Dr. Wilhelm Krüger"
Ein Spruch wie ein mildes Urteil - und doch war da etwas in seinem Klang, das sich in die Nackenhaare schlich.
Einer der Beamten trat vor, griff nach einer schweren Kette und zog daran. Tief und voll hallte der Ton der Glocke über den Vorplatz - nicht wie ein Ruf, eher wie eine Warnung.
Dann kehrte wieder Stille ein. Eine Stille, die wartete.
Nach dem Glockenschlag verging ein kurzer Moment der Lautlosigkeit - ein Atemzug, in dem selbst der Nebel innehielt. Dann, aus dem Zwielicht hinter dem Tor, regte sich etwas. Schritte. Zuerst nur das Knirschen von Schuhen auf Kies, dann erschienen Gestalten. Zwei Männer traten näher, breit gebaut, die Körper fest eingeschnürt in weiße Uniformen. Ihre Gesichter wirkten kantig, fast roh gehauen, und doch leer - als hätte man ihnen das Innenleben ausgetrieben, um Platz zu schaffen für Gehorsam.
Zwischen ihnen, nein: vor ihnen, bewegte sich eine Frau. Eine Schwester, ganz in Weiß wie sie, doch bei ihr war das Weiß kein Bekenntnis zur Ordnung, sondern ein Trugbild. Der Kittel fiel in glatten Falten bis zu den Knien, die Haube saß fest, ihr Gang war ruhig, zu ruhig - nicht wie der einer Frau, sondern wie der eines Schattens.
Der aufkommende Nebel legte sich um ihre Gestalt wie ein Schleier aus Dunst und Schweigen. Ihre Bewegungen waren weich, geschmeidig, zu gleichmäßig, um wahr zu sein. Es schien, als würde sie nicht laufen, sondern gleiten. Der helle Kies, der unter den Füßen anderer knirschte, schwieg unter ihr.
In diesem Moment wirkte sie nicht wie eine Krankenschwester. Nicht wie ein Mensch. Sondern wie eine Erscheinung - ein bleiches Trugbild.
Am Tor angekommen blieb die seltsame Prozession kurz stehen. Ohne ein Wort reichte die Schwester einem der bulligen Männer einen schweren Schlüsselring - ein archaisches, schepperndes Ding, das mehr nach Kerkertür als nach Sanatorium klang. Die Schlüssel hingen daran wie eiserne Zungen, bereit, jedes Geheimnis zu verschließen - oder zu öffnen.
Während der Wärter mit schwerfälligen Fingern in dem Wirrwarr aus Metall zu suchen begann, wandte Edda Lenhart - denn so nannte sie sich - ihre Aufmerksamkeit dem jungen Beamten zu, der zuvor an der Kette gezogen hatte. Er versuchte, Haltung zu bewahren, stand steif wie ein Zinnsoldat, die Mütze leicht verrutscht, der Blick zu schnell gesenkt, als hätte er sich an ihr die Augen verbrannt. Doch es war zu spät. Edda hatte es längst bemerkt - dieses Flackern in seinem Blick, das irgendwo zwischen Schüchternheit, ehrfürchtiger Keuschheit und einem kaum gebändigten Begehren oszillierte. Er hatte gesehen, was man nicht sehen sollte - oder doch sehen wollte: die wohlgeformte Silhouette unter dem makellosen Weiß. Keine plumpe Zurschaustellung, nein. Die Rede Rundung an der rechten Stelle, das dezente Spiel der Proportionen - es war genug, um die Fantasie zu wecken und den Geist zu verwirren.
Edda unterdrückte ein leises Lachen - nicht aus Scham, sondern aus Vergnügen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das nichts versprach und doch alles verriet. Ein Lächeln wie ein Schleier, den man langsam hebt, um eine Erkenntnis zu schenken - oder eine Strafe. Der Beamte sah es - und wusste, dass er ertappt war. "Ich bin Edda Lenhart", sagte sie, die Stimme kühl und kontrolliert, mit jenem seidigen Unterton, den man in Beichtstühlen und Boudoirs gleichermaßen hört. "Leitende Schwester, zurzeit jedenfalls. Dr. Krüger ist nicht da. Was kann ich für die Polizei tun?"
Der junge Beamte straffte sich, als hätte Eddas Blick ihn zu einem Geständnis gezwungen. "Wachtmeister Otto Albrecht", murmelte er, dann mit mehr Festigkeit: "Wir. wir haben diesen Mann vor etwa zwei Stunden auf dem Friedhof aufgegriffen. Er war allein, redete wirres Zeug, nicht ansprechbar. Aus ihm ließ sich nichts herausbekommen. Und da. also, da entschied der wachhabende Offizier: 'Der Mann gehört ins Irrenhaus.'"
Kaum hatte er die letzten Worte ausgesprochen, verzog sich Eddas Mund zu einem kühlen, leichten Lächeln - eines, das weder Spott noch Milde enthielt, sondern etwas dazwischen, wie der feine Unterschied zwischen Skalpell und Rasierklinge. "Dann sind Sie hier falsch, Herr Albrecht", erwiderte sie ruhig. Ihre Stimme war weich, fast seidig - und dennoch unnachgiebig. "Dies ist kein Irrenhaus. Dies ist eine Heilanstalt für Menschen, deren Geist entrückt ist."
Der junge Beamte errötete, ein schwacher Schatten auf seinen Wangen, kaum sichtbar im Nebel. Seine Zunge rang nach Worten, nicht nur wegen der Korrektur, sondern wegen der Wärme, die unter seiner Uniform aufstieg - das peinliche Echo seiner Gedanken von eben, das nun gegen die eiserne Erziehung seines Elternhauses anbrannte. "Verzeihung", stotterte er schließlich, "ich. ich habe nur zitiert. meinen Vorgesetzten."
Edda neigte kaum merklich den Kopf. Ihr Lächeln wurde milder, aber nicht weniger durchdringend - ein stilles Versprechen, dass sie ihm nicht gram sei. und dass sie alles verstanden hatte. Vielleicht mehr, als ihm lieb war.
Dann wandte sie sich dem Wärter mit dem Schlüssel zu und nickte knapp. Ohne ein Wort trat dieser vor, schob einen Schlüssel in das eiserne Schloss, das mit einem dumpfen Klicken nachgab - und öffnete das Tor.
Ein Riss tat sich auf in der Nacht. Und was dahinter lag, war nicht mehr Teil der Welt, die Wachtmeister Albrecht kannte.
Edda hob die Stimme, ohne je ihre ruhige Fassung zu verlieren - klar, bestimmt, und doch mit einer Süße, die selbst Befehle wie Einladungen klingen ließ:
"Fahren Sie bitte zum Haupteingang vor und warten Sie dort auf August und August." Der Kutscher auf dem Bock zuckte leicht zusammen, dann tippte er an die Mütze und gab den Pferden ein leises Zeichen. Die Kutsche setzte sich in Bewegung, das dunkle Gefährt verschwand langsam im Nebel, dessen Schwaden sich wie schleppende Schleier um die Räder legten.
Edda drehte sich zu den beiden bulligen Männern, deren Gesichtszüge so gleich waren, dass man glauben mochte, sie seien in einem Gedanken geboren. "August Eins", sagte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Anflug von Belustigung, "verschließe das Tor. Dann folgt der Kutsche und bringt den armen Erkrankten ins Aufnahmezimmer. Bleibt dort bei ihm und wartet, bis jemand kommt." Die beiden Männer nickten synchron. August Eins trat an das schwere Tor und zog es mit einem Ächzen wieder zu - das Klirren des Schlosses war ein letzter Widerhall von Freiheit, der langsam in der Dunkelheit erstickte.
Dann wandte Edda sich wieder dem jungen Beamten zu, der noch immer etwas unbeholfen neben ihr stand, die Mütze in den Händen, den Blick irgendwo zwischen ihren Augen und dem Boden verhaftet. "Und Sie, mein lieber Herr Albrecht." - ihre Stimme war nun weicher, fast schmeichelnd, mit einem Anflug von Ironie - ".begleiten mich bitte zum Haus. Sie wollen doch einer verängstigten Dame nicht zumuten, den Weg durch diese Dunkelheit allein zu gehen?" Der junge Mann errötete ein zweites Mal, verbeugte sich beinahe und stammelte ein "Selbstverständlich", das ihm wie ein Schuljunge entglitt.
Und so schloss sich die kleine Prozession. Vorn das rasselnde Gefährt, dahinter die stummen Auguste und am Ende - Edda und Albrecht, Seite an Seite auf dem Kiesweg, der zur Villa führte.
Ein Haus, das mehr war als nur ein Bau aus Stein. Ein Ort, an dem der Geist schweigen, aber niemals vergessen durfte. Ein Heim für jene, deren Wirklichkeit zersprang -
und für jene, die dachten, oder sich einbildeten, zu wissen wie man mit Scherben umgeht.
Drinnen war es warm. Die Luft roch nach Wachs, Lavendelöl - und nach etwas anderem, undefinierbarem. Ein Geruch wie das Flüstern längst vergangener Gestalten. Edda führte den jungen Beamten durch einen schmalen Gang, dann öffnete sie eine schwere Tür mit matter Glasscheibe...
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