Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
2019. Newark, New Jersey.
Odessa legte die Speisekarte beiseite und sah sich im Soup Spoon Café nach einer Tafel mit den Tagesgerichten um. Schließlich fiel ihr Blick auf ein Whiteboard neben dem Empfangspult am Eingang. Die mit rotem Filzstift auf weißem Grund geschriebenen Großbuchstaben weckten eine längst vergessen geglaubte Erinnerung an ihre Ausbildung an der FBI Academy in Quantico, Virginia.
Ein Dozent für Verhaltensforschung hatte die unterschiedlichen Totschlagskategorien mit einem quietschenden roten Stift auf die große Tafel im Hörsaal geschrieben.
Die verschiedenen Kategorien, so der Dozent, hatten nichts mit den Verbrechen an sich zu tun - also etwa der Tötungsmethode oder des Grades an Brutalität -, sondern mit dem Zeitraum zwischen den Taten.
Vergehen Wochen, Monate oder gar Jahre zwischen den Morden, spricht man von einem Serienmörder.
Ein Rauschmörder begeht in einer bestimmten Zeitspanne unmittelbar oder in kurzen Abständen und unter Umständen an verschiedenen Orten mindestens vier Morde.
Der Amokläufer schließlich tötet üblicherweise an einem Ort und in schneller Folge mehrere Menschen.
Die letzten beiden Kategorien ließen sich nicht scharf voneinander abgrenzen. Ein Vorfall, der sich gerade einmal fünfundsiebzig Meilen von dem Café, in dem sie gerade saß, zugetragen hatte, war besonders schwierig einzuordnen: Es handelte sich nach gängiger Auffassung um den ersten Amoklauf in den Vereinigten Staaten.
Am 6. September 1949 verließ Howard Unruh, ein achtundzwanzigjähriger Weltkriegsveteran, in seinem besten Anzug und einer gestreiften Fliege das Haus seiner Mutter in Camden, New Jersey. Er hatte sich beim Frühstück so heftig mit seiner Mutter gestritten, dass diese sich in der Gewissheit, dass etwas Schreckliches geschehen würde, zu den Nachbarn geflüchtet hatte.
Unruh ging, bewaffnet mit einer deutschen 9mm-Luger-Pistole und dreißig Schuss Munition, zu Fuß in die Stadt. Innerhalb von zwölf Minuten erschoss er unter anderem in einer Apotheke, einem Friseurgeschäft und einer Schneiderei dreizehn Menschen und verletzte drei weitere. Obwohl er schon länger Mordabsichten gehegt hatte - in seinem Tagebuch fand sich eine Liste mit seinen persönlichen Feinden -, waren unter den Opfern auch mehrere Menschen, die einfach nur das Pech gehabt hatten, ihm an diesem wolkenlosen Dienstagmorgen über den Weg zu laufen. Opfer und Augenzeugen beschrieben Howards Blick während der Tat als glasig und tranceartig.
Die genaue Klassifikation dieses Verbrechens war natürlich nur für Strafverfolgungsbeamte interessant. Was wirklich zählte, war die Tatsache, dass es seit Unruhs Amoklauf über sechzig Jahre lang keine vergleichbare Mordserie in New Jersey gegeben hatte.
Bis zu dem Abend, an dem Walt Leppo Hackbraten bestellte.
»Ist der auch frisch?«, fragte Walt die junge Kellnerin, als er von der Herrentoilette zurückkam.
»Auf jeden Fall«, sagte sie.
»Wären Sie in diesem Fall so nett und würden nachsehen, ob vielleicht noch von heute Mittag ein, zwei Scheiben übrig geblieben sind? Vielleicht auf der Wärmetheke, so richtig schön trocken und schon hart an den Rändern?«
Die Kellnerin starrte ihn noch eine Weile an, unsicher, ob er sie auf den Arm nehmen wollte. Wahrscheinlich studierte sie an einer der nahe gelegenen rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Odessa hatte sich das dritte Jahr ihres Jurastudiums in Boston ebenfalls durch Kellnern finanziert. Sie konnte sich noch gut an das unbehagliche Gefühl erinnern, das sie beschlichen hatte, wenn eine bestimmte Sorte männlicher Gäste einen ungewöhnlichen, leicht unheimlichen oder an Fetischismus grenzenden Essenswunsch geäußert hatten - meistens hatte es sich um verschrobene Eigenbrötler gehandelt, die sich höchstwahrscheinlich gewünscht hätten, eine Frau ebenso leicht wie ein Gericht von einer Karte bestellen zu können.
Die Kellnerin sah Odessa an, die Leppo gegenübersaß. Odessa schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln von Frau zu Frau.
»Da muss ich mal nachsehen«, sagte die Kellnerin.
»Vielen Dank. Ein Endstück wäre mir am liebsten«, sagte er, schloss die Speisekarte und reichte sie ihr. »Früher haben wir zu den Endstücken immer Popöchen gesagt«, fügte er hinzu, sobald die Kellnerin wieder gegangen war.
Odessa nickte, als fände sie das sehr faszinierend. »Serienmörder«, sagte sie freundlich.
Walt zuckte mit den Schultern. »Weil ich meinen Hackbraten so mag, wie ihn meine Mutter immer gemacht hat?«
»Und oralfixiert auch noch. Meine Güte.«
»Weißt du was, Dessa? Man kann alles sexualisieren. Einfach alles. Anscheinend sogar Hackbraten.«
»Ich wette, dass du auch verbrannten Toast magst.«
»Schwarz wie Kohle. Was ist eigentlich aus der Vorschrift geworden, dass Anfänger keine verdienten Agenten analysieren dürfen?«
Beide drehten den Kopf, als die ersten Regentropfen gegen das Panoramafenster des Soup Spoon Café schlugen.
»Na toll«, sagte Leppo.
Odessa sah auf ihr Handy. Das Niederschlagsradar der Wetter-App zeigte eine große, jade- und mintfarbene Regenfront, die sich wie eine Giftgaswolke auf Newark zuschob. Sie drehte das Smartphone um, sodass Leppo es ebenfalls sehen konnte. Ihre Regenschirme lagen ungefähr einen halben Block von hier neben der Remington-Schrotflinte Kaliber 12 im Kofferraum ihres Wagens.
»Regen in Jersey, das ist, als würde man einen Hund abduschen«, sagte Leppo. »Alles wird nass, und nichts wird sauber.«
Odessa grinste. Ein typischer »Leppo-ismus«. Weitere Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe. Die wenigen Passanten auf der Straße waren nur verschwommen zu erkennen, doch sie beschleunigten eindeutig ihre Schritte.
Es braute sich etwas zusammen.
Wie eine spätere Auswertung der Daten ergab, hing in demselben Augenblick, in dem Leppo seinen Hackbraten bestellte, ein gewisser Evan Aronson etwa ein Dutzend Meilen nördlich von Newark in der Telefonwarteschleife seiner Krankenversicherung fest und hörte sich Siebzigerjahre-Softrock an, während er darauf wartete, sich über eine Zuzahlung zu beschweren, die man ihm wegen eines kürzlich erfolgten Aufenthalts in der Intensivstation in Rechnung stellte. Bei dem Treffen, das sein Jahrgang anlässlich des zehnjährigen Jubiläums ihres Abschlusses an der Rutgers University abgehalten hatte, war auch der von seiner Studentenverbindung traditionell spät in der Nacht durchgeführte Sprung über ein mobiles Klohäuschen nachgestellt worden. Er hatte sich bei dem Versuch, seinen ehemaligen Mitbewohner Brad »Boomer« Bordonsky aufzufangen, den linken Bizeps gerissen - nicht zuletzt deshalb, weil Bordonsky seit damals mindestens fünfzehn Kilo zugelegt hatte.
Während Evan einen weiteren von Styx' größten Hits über sich ergehen ließ, beobachtete er von seinem Schreibtisch im Büro einer Charterfluggesellschaft auf dem Teterboro Airport, wie eine nagelneue Beechcraft Baron G58 aus einem nahe gelegenen Privathangar rollte. Dann kletterte der hochgewachsene Pilot aus dem Cockpit des eine Million Dollar teuren, zweimotorigen Kolbenflugzeugs. Der Mann war ungefähr Mitte fünfzig und trug eine graue Trainingshose, einen Pullover und Sandalen. Er wechselte ein paar Worte mit einem Mechaniker, dann verschwand er wieder im Hangar und ließ die Maschine mit laufenden Motoren stehen.
Kurze Zeit später kehrte der Pilot mit einem großen Schraubenschlüssel in der Hand zurück.
Nur wenige Piloten und noch weniger Flugzeugeigentümer führten anstehende Reparaturen eigenhändig durch. Und schon gar nicht, wenn die beiden 300-PS-Motoren noch liefen und sich die Propeller schneller drehten, als es das menschliche Auge erfassen konnte. Evan stand auf, um besser sehen zu können. Er trug den linken Arm in einer Schlinge, in der rechten Hand hielt er den Telefonhörer, der durch ein Kabel mit dem Apparat auf dem Schreibtisch verbunden war. Den Funkrichtlinien des Flughafens zufolge waren Mobilgeräte verboten.
Über dem Heulen der Propellerturbine hörte Evan einen lauten Knall, gefolgt von einem Klirren.
Nach dem zweiten Klirren reckte er den Hals, damit er den Piloten besser sehen konnte, der sich anscheinend hinter dem Rumpf der Beechcraft befand. Der große Mann umrundete die Tragfläche, dann sah Evan, wie er mit dem Schraubenschlüssel ausholte und ein brennendes Positionslicht zertrümmerte. Das rote Plastikgehäuse zersplitterte in tausend Teile, die sich auf der Rollbahn verteilten. Die Glühbirne erlosch.
Dieser Akt des Vandalismus gegen ein Flugzeug im Wert von einer Million Dollar kam so unerwartet, dass Evan laut aufkeuchte. Inzwischen war das Kabel des Telefonhörers, aus dem gerade »Lady« drang, beinahe bis zum Zerreißen gespannt. Die sanfte Ballade bildete eine denkbar unpassende Hintergrundmusik zu dem Anblick des Flugzeugbesitzers, der seine eigene Maschine zerstörte.
Üblicherweise wurde ein solcher Hightech-Privatjet gehegt und gepflegt wie ein verhätscheltes Haustier und so gründlich gewartet wie ein Sportwagen. Was dieser Mann hier tat, war damit vergleichbar, einem preisgekrönten Rennpferd mit einem Schraubenzieher die Augen auszustechen.
Das konnte unmöglich der Besitzer sein, dachte Evan. Irgendjemand verursachte Tausende Dollar Schaden an dem Flugzeug . und wollte es womöglich stehlen.
»Mr. Aaronson, ich habe jetzt Ihre Daten vorliegen .«, sagte die Versicherungsangestellte in...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.