Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der renommierte niederländische Gehirnchirurg Jaap Hollander ist im Ruhestand, aber Ruhe findet er nicht. Seit seine Tochter zehn Jahre zuvor in Israel verschwunden ist, kehrt er jedes Jahr nach Tel Aviv und in die Wüste Negev zurück. Diesmal wird er dort unversehens gebeten, eine äußerst riskante Gehirnoperation durchzuführen. Er sagt zu, obwohl die Erfolgsaussichten verschwindend gering sind. Nicht nur das Leben seiner mächtigen Patientin hängt von der Operation ab, vielleicht eröffnet sie ihm sogar eine neue Spur zu seiner Tochter.
"Leon de Winter hat etwas zu erzählen, und er tut es so gut, daß man nicht genug davon bekommen kann."
Jaap nahm den Nachmittagsflug der El Al. Er hatte seinem Kontakt im israelischen Außenministerium gemailt, dass er käme. Jemand würde ihn am Flughafen Ben Gurion abholen und ihn ungehindert zu einem Auto lotsen, das draußen in der sengenden Sonne auf ihn wartete. Das Auto mit Fahrer mietete er inzwischen selbst. Der Service für eine reibungslose Ankunft am Flughafen wurde aufrechterhalten, aber alles andere, etwa die Bereitstellung eines Polizeifahrzeugs und der Besuch bei verschiedenen Ermittlungsbehörden, war nach ein paar Jahren abgeschafft worden. Auf Schiphol wurde er nie von den Israelis behelligt, die in einer Ecke der Abflughalle, hinter Grenzschützern mit schweren automatischen Waffen, Passagiere verhörten, in der Hoffnung, einen Bombenleger oder Unruhestifter zu erwischen. In den Computern war er als VIP registriert; diese Vorzugsbehandlung erhielt man, wenn die Tochter in der Wüste verschwunden war. Er saß vorne auf Sitz 1A, seinem Lieblingsplatz, aber konnte man sich denn über irgendetwas freuen auf einer Reise wie dieser? Er hatte, wie immer, einen Plan, den er unbedingt ausführen wollte.
In den letzten zehn Jahren hatte er mit Archäologen, Psychologinnen, Sektenforschern, Terrorismusexpertinnen und Kennern der verschiedenen Beduinenfamilien gesprochen. In der Anfangszeit hatten sich Hellseherinnen und ehemalige Gefangene von fliegenden Untertassen gemeldet. Die Hellseherinnen versprachen, er dürfe hoffen; Lea und Joshua lebten in Jordanien oder Ägypten oder Neuseeland; die UFO-Experten meinten, sie seien von Außerirdischen entführt worden und betrieben irgendwo auf einem fernen Planeten einen Fischladen. Dieses Jahr hatte er einen Termin bei einem Geologen in Beerscheba.
Im Flugzeug setzte sich ein orthodoxer Jude neben ihn. Er trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd ohne Krawatte, und unter seiner Jacke schauten die Zizit hervor, die Schaufäden, die an einem rituellen Leibchen befestigt sind. Der Mann war etwa in Jaaps Alter, hatte allerdings tiefere Falten im Gesicht, einen weißen Bart und Pejes, die Schläfenlocken frommer Juden, und als er seinen Hut abnahm, sah Jaap dichtes graues Haar unter seiner schwarzen Kippa. Er hatte einen dicken Bauch und war insgesamt stark übergewichtig. Sie nickten sich zu.
Als der fromme Mann saß, begann er, in einem kleinen schwarzen Buch zu lesen, und bewegte dabei leicht den Oberkörper vor und zurück, als wäre er in Trance. Auch beim Start und in der Stunde darauf las der Mann weiter.
Jaap tat nichts. Er starrte nach draußen, schloss die Augen und dachte über sein Haus nach. Nach sechsundzwanzig Jahren musste jetzt das Dach erneuert werden, wie ein Gutachten ergeben hatte. Der Bauunternehmer hatte ihn damals betrogen und nicht die vereinbarten Qualitätsmaterialien verwendet. Aber die Baufirma war nach einem rätselhaften Brand, der ihre Unterlagen vernichtet hatte, schon vor etwa fünfzehn Jahren pleitegegangen, und Jaap konnte sich bei niemandem beschweren. Bei dem gelieferten Holz hatte es sich nicht um getrocknetes Pitch Pine, sondern um Sugar Pine gehandelt, die weichere Variante der amerikanischen Kiefer, und von dieser weichen Variante die allerweichste. Pitch Pine war harzreich und dadurch dicker, stärker und rissfester. Sein Dach wurde von dem minderwertigen Kiefernholz getragen. Es bestand keine Einsturzgefahr, aber es ärgerte ihn, dass er es all die Jahre nicht bemerkt hatte und dass der Bauunternehmer, ein bekannter Name im nordholländischen Edam, ungestraft davongekommen war.
Der fromme Mann tippte ihm auf den Arm.
»Meneer, stört es Sie, wenn ich die Tef?illin anlege?«
Er sprach weiches Flämisch - ein Antwerpener Jude. Jaap brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was der Mann meinte.
»Nein, kein Problem.«
Der Mann stand auf, krempelte seinen linken Ärmel hoch und schob eine Lederschlaufe mit einem kleinen schwarzen Lederkästchen über den nackten Arm bis über den Ellbogen. Von dem Kästchen hing ein langer schwarzer Lederriemen herunter, den er um den Unterarm und dann in einem komplizierten Muster um seine Hand und Finger wickelte. Dann legte sich der Mann ein zweites Kästchen auf die Stirn. Jaap schaute weg.
Es war ein uraltes Ritual, das etwas mit dem Herzschlag zu tun hat, den man durch den gespannten Riemen um den Unterarm spürt, und mit dem Bewusstsein für das Höhere, das man erfährt, wenn man das Kästchen auf die Stirn legt. Die Kästchen enthalten Pergamentrollen mit Auszügen von Tora-Texten. Jaap hatte nie die Tef?illin angelegt, ein Ritual mit dazugehörigen Gebeten. In Israel, auch in Mitzpe Ramon, war er öfter von strenggläubigen Männern angesprochen worden, die an einem ausklappbaren Tisch auf männliche Passanten warteten, von denen sie vermuteten, dass sie dieses Ritual nicht durchführten. In ihren Kreisen galt es als gute Tat, andere davon zu überzeugen, die Tef?illin anzulegen.
Vor langer Zeit, irgendwann vor seinem dreizehnten Lebensjahr, als er das hebräische Alphabet lernte und sich mit der Tora, also den Büchern Mose, beschäftigen musste, hatte er die Texte auf diesen Schriftrollen gelesen. Er wusste nicht mehr, welche es waren, und wenn er in Israel an den Klapptischen vorbeiging, immer in Gedanken, immer ohne Interesse an den Frommen, ihren dicken Büchern auf den Tischen oder den schwarzen Kästchen und schwarzen Riemen, fielen sie ihm nicht ein. Aber jetzt, schweigend in seinem Business-Class-Sitz und unfähig, sich der Situation zu entziehen, tauchte eine Zeile in seinem Kopf auf, die spontan von den elektrochemischen Prozessen in seinem Gehirn gebildet wurde: Schema Jisrael, Adonai Elohenu, Adonai Echad. Diese Worte bildeten das Herzstück der gesamten jüdischen Tradition. Es waren die letzten Worte, die ein Jude mit seinem letzten Atemzug sprechen sollte.
Jaap wusste nicht, ob er, wenn sein letzter Atemzug begonnen hatte, die Geistesgegenwart besitzen würde, an diese Worte zu denken. Sie bedeuteten: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig. Zu Jaaps Überraschung gab sich sein Gehirn nicht damit zufrieden, denn auf einmal wusste er auch wieder, was danach kam: Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
Jaap hatte ein Kind, aber seine Tochter war nicht da, und so konnte er ihr auch nichts einschärfen und darüber reden, während sie an der Vecht entlangspazierten oder gemeinsam die Teller und Tassen aus der Spülmaschine nahmen und wieder in den Schrank stellten. Und was hätte er ihr einschärfen sollen? Dass Adonai, der Herr, der einzige Gott war?
Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
Das war es: das Gebot, ein Kästchen an den Arm zu binden und ein Kästchen auf der Stirn zu tragen, und das Gebot, eine Mesusa, eine Kapsel, die ebenfalls ein Schriftröllchen enthielt, am Türpfosten des Hauses anzubringen. Die Mesusa enthielt denselben Text, an den er sich jetzt erinnerte: Schema Jisrael, Adonai Elohenu, Adonai Echad.
Höre, Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig.
Kurz vor ihren Abschlussprüfungen hatte Lea eine Mesusa am Rahmen ihrer Zimmertür befestigt. Zuvor hatte sie ein Widderhorn, ein Schofar, mitgebracht, das am jüdischen Neujahrstag und am Versöhnungstag, Jom Kippur, geblasen wird. Sie kam damit in die Küche, aber sie konnte keinen Ton herausbekommen. »Weißt du, was das ist?«, fragte sie.
»Ein Schofar. Ein Widderhorn.«
»Es ist sehr schwer, einen Ton herauszukriegen.«
»Was willst du damit?«, fragte er.
»Ich will darauf blasen.«
»Warum?«
»Es ist ein Weckruf. Er soll unser Gewissen aufrütteln. Weißt du, als Abraham seinen Sohn Isaak opfern sollte, hat Gott Isaak durch einen Widder ersetzt.«
»Das ist doch alles nur Aberglaube«, erwiderte Jaap.
»Kannst du darauf blasen?«, fragte sie.
»Nein.«
»Willst du es mal versuchen?«
»Blöd«, sagte sie und verließ die Küche.
Danach kam sie mit einer Mesusa an. Sie hatte sie von einer ihrer Freundinnen aus dem Kreis der Vaterjüdinnen geschenkt bekommen; sie sollte ihr Glück bringen. Sie bat Jaap um einen Schraubendreher und zwei Schrauben, und er stand daneben, als sie sie befestigte; sie beharrte darauf, es selbst zu machen.
»Wenn du sie nicht mehr haben willst, musst du die Löcher selbst zuspachteln«, lautete sein flauer Kommentar.
Lea reagierte nicht darauf: »Wir sollten auch an der Haustür eine anbringen, Papa, das bringt Glück.«
Er hielt das für Unsinn. Trotzdem war er gerührt, dass sie es tat, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Warum hatte er seine Gefühle nicht gezeigt? Er wollte keine Religion im Haus haben. So hatte er damals...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.