Schweitzer Fachinformationen
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Die Glocken der Abtei Saint-Michel-de-Frigolet, die zur Morgenmesse riefen, klangen an diesem Sonntag gerade so, als läuteten sie direkt in Margeaux Surfins Schlafzimmer. Prompt hörte sie auch, wie Michels Wagen ansprang und der drahtige Nachbar in seinen Wagen stieg, um dem Ruf zur frühmorgendlichen Messe zu folgen. Margeaux presste ihr Kopfkissen an sich und wagte mit leicht geöffneten Augen einen Blick in Richtung Fenster. Dabei begegnete sie Willis leuchtend braunen Augen. Er schien zu lächeln, wohl wissend, dass er nichts unter ihrer Decke zu suchen hatte.
Es war wieder einmal spät geworden, während sie in die Kapitel eines Fachbuches über das spannende Konzept der Mimikresonanz vertieft gewesen war. Ihre intuitive Fähigkeit, Emotionen im Gesicht ihres Gegenübers zu entschlüsseln, war ihr schon oft zugutegekommen und hatte ihr häufig einen nicht zu unterschätzenden Wissensvorsprung verschafft. Dies nun noch um eine weitere Komponente auszubauen, erschien ihr als nächster Entwicklungsschritt schlüssig. Die Methode befasste sich unter anderem damit, die Beobachtungen auch mit den wirklich richtigen Worten zu verbalisieren, also die Emotion, die sie treffsicher erkannt hatte, auch mit dem richtigen Gefühlsbegriff zu benennen. Unbewusst hatte sie diese Vorgehensweise schon häufig angewendet, aber sie mochte es, wenn etwas auch wissenschaftlich fundiert war. Und es war wirklich spannend, sich selbst zu überprüfen: Passten die gewählten Worte tatsächlich zur Emotion, oder lag man einfach manchmal daneben, weil die Begriffe schwer abzugrenzen waren.
Gern hätte sie heute etwas länger geschlafen, aber nun war es bereits neun Uhr, und Willi forderte energisch seine Rechte ein. Mittlerweile war er mit einem elastischen Satz vom Bett gesprungen und kratzte erwartungsvoll an der Tür.
Margeaux kapitulierte vor der geballten Macht des willensstarken Vierbeiners und der frühen provenzalischen Sonne. Langsam schälte sie sich aus ihrem Laken und stolperte ins Bad. Der Dackel fiepte derweil in aufgeregter Vorfreude an der Tür.
Mit geputzten Zähnen und Kontaktlinsen in den Augen schlüpfte Margeaux in ihre Laufsachen, band die wuschelige Lockenpracht auf ihrem Kopf zu einem schnellen Zopf zusammen und war nun fast bereit, es mit dem Tag aufzunehmen. Es fehlte nur noch das lebensnotwendige morgendliche Koffein.
Am Fenster ihres im ersten Stock liegenden Schlafzimmers blieb sie kurz stehen und nahm die geliebte Natur in sich auf: den Glanz, den die Sonne auf die Felsen zauberte, und das diesige Licht, das die Fernsicht irgendwie klarer werden und die Türme des Klosters Saint-Michel-de-Frigolet aus dem Panorama hervorstechen ließ. Der spärliche Bewuchs der Landschaft, der sich noch lange nicht von dem Feuer erholt hatte, das nun mehr als ein Vierteljahrhundert zurücklag, gab der Umgebung ein karges Aussehen.
Als sie im Januar hier angekommen war, hatte sie sich einfach nur verkriechen wollen, ihre Wunden lecken oder, noch besser, sich ihrer Traurigkeit ergeben.
Willi sprang an ihr hoch, eine Unart, die sie dem jungen Dackel unbedingt noch abgewöhnen wollte, und holte sie zurück in die Realität. Unten hörte sie schon Geklapper in der Küche, und der Duft von frischem Kaffee zog durchs Haus. Was würde sie nur ohne Hilde machen? Sie konnte sich keine bessere Haushälterin vorstellen als ihre französische Ersatzmutter. Schon seit Mitte der Siebzigerjahre waren Hilde und ihr Mann Aimé - der örtliche Polizist - Freunde der Familie und nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken. Ein heißer Sommer und viel Mut hatten zu dieser Freundschaft auf Lebenszeit geführt.
Hilde war Margeaux lieb und teuer, was aber nicht bedeutete, dass ihre eigene Mutter ihr weniger wert war. Ganz im Gegenteil: Die häufige Abwesenheit von Marie-Louise während Margeau' Kindheit hatte zu einer tiefen Liebe, zusätzlich angefüllt von großer Sehnsucht, geführt. Margeaux' Mutter war alles gewesen, nur nicht normal - also nicht der üblichen Mutternorm entsprechend, die man in den Siebzigern und Achtzigern gehabt hatte.
Margeaux war sich bewusst, dass sie ohne Hilde und Aimé im Moment den Boden unter den Füßen verlieren würde, und daher pflegte sie die Beziehung mit tiefer Liebe und Verbundenheit.
Sie ging die steile Treppe rasch hinab, und Willi hüpfte vorsichtig hinterher. Die hohen und ungleichmäßigen Stufen des alten Bauernhauses machten es ihm nicht ganz so leicht wie seinen Menschen, von oben nach unten zu gelangen. Noch dazu hatte man es bei der Sanierung für gut empfunden, den Sandstein der Stufen mit Holz einzuschalen. So blieben sie zwar stabil, waren aber für kleine Hundepfoten recht glatt.
Unten angekommen musterte sich Margeaux kurz in dem Spiegel, der an der Stirnwand des Flurs über dem altmodischen Telefontisch hing. Ja, man hatte hier noch ganz klassisch ein Festnetztelefon, denn auf dem Weiler konnte es bei Gewittern und Mistral schon einmal vorkommen, dass die Mobilnetzverbindung irgendwo im Nirwana verschwand, und dann war es gut, ein Telefon mit Kabel zu haben. Zudem war Hilde von dem ganzen modernen Firlefanz sowieso nicht begeistert.
Margeaux ging durch den Flur mit den Sandsteinwänden und dem Fachwerkgebälk zur Küche. Ihre Großmutter Annabelle hatte beim Aufbau des Hauses penibel darauf geachtet, die alten Materialien wertzuschätzen, denn schließlich tauchte das Haus in den Annalen der Ortschaft 1522 zum ersten Mal auf. So hatte sie Modernes mit Altem verbunden, und es war wahrhaftig ein Schmuckstück daraus geworden. Selbst eine bekannte französische Wohnzeitschrift war da gewesen, und man hatte Aufnahmen gemacht. Küche und Wohn-Esszimmer waren ein Raum. Hier war früher einmal der Stall gewesen, in dem Kühe und Schafe ihren Platz gehabt hatten. Dies zeigte die steinerne Tränke, die zu einer Bar umfunktioniert worden war. Der Raum war hoch, und die Wände bestanden aus hellem Stubensandstein - weich und bröselig. Wenn man mit der Hand dagegenklopfte, rieselte es leicht. Die Fachwerkbalken der Decke waren mühselig freigelegt und mehrfach gegen Holzwurm und Erkrankungen aller Art fachmännisch behandelt worden. Eine Theke aus Sandstein neueren Datums, deren Abstellfläche mit typischen provenzalischen Fliesen belegt war, trennte den Arbeitsbereich der offenen Küche vom Essplatz ab.
Hilde stand mit dem Rücken zur Tür an der Kaffeemaschine - in ihrem obligatorischen bunten Arbeitskittel, heute roter Mohn auf weißem Grund, und Espadrilles. Sie brühte den Kaffee täglich von Hand auf. Darauf schwor sie, und man schmeckte die Zeit, die das Wasser hatte, um sich mit dem frisch gemahlenen braunen Pulver zu verbinden. Der Kaffee war nicht nur aromatisch und köstlich, sondern auch sofort trinkbar. Denn laut Hilde durfte man ihn keinesfalls zu heiß überbrühen.
Für manch einen mochte es sonderbar anmuten, dass eine erwachsene Frau wie sie eine Haushälterin ihr Eigen nannte. Doch es war eine für beide Seiten dankbare Vereinbarung. Margeaux hatte jemanden um sich, der sich liebevoll um sie kümmerte, und Hilde, die Französin mit oberschlesischen Wurzeln, gestattete sich ihre finanzielle Unabhängigkeit durch ein eigenes Einkommen, und zudem war Margeaux wie eine Tochter für sie, und Hilde genoss deren Gesellschaft.
Hilde hörte Margeaux offensichtlich kommen, denn sie drehte sich um und gab ihr einen Kuss auf die Wange: »Guten Morgen, Chérie .«, und an den Dackel gewandt: »Ja, und du bist auch mein Schatz.« Das Tier hüpfte vor ihren Füßen wie ein Gummiball auf und ab.
Die ältere Dame drehte sich wieder zur Arbeitsfläche, nahm eine Tasse vom Regal und goss Margeaux großzügig ein.
Noch im Gehen nahm Margeaux den ersten großen Schluck und bildete sich ein zu spüren, wie ihre Lebensgeister einen freudigen Tanz aufzuführen begannen. Sie nahm auf einem Hocker an der Theke Platz, sah zu, wie Hilde mit geübten Handgriffen in der Küche werkelte, und ließ ihren Blick durch den großen Raum schweifen. Ihr Vater Julien hatte sich mit einem großen modernen Herd durchsetzen können, ohne dass Hilde auf ihr geliebtes Gas verzichten musste.
Wärme machte sich in Margeaux' Körper breit, während sie wartete. Alles passte so gut zusammen. Der Esstisch war extra angefertigt worden, und eine Horde Freunde von Aimé und Julien hatte ihn aus dem Lkw in den Wohnraum geschleppt und erst dort auf die Beine montiert. Die behandelten Naturbretter ließen die Maserung des Baumes erkennen, und der Tisch ergab einen absoluten Einklang mit den offenen Sichtbalken des Fachwerks. Auf dem modernen Sofa war es gemütlich, Margeaux war die kleinen provenzalischen Holzdinger mit den ewig rutschenden Kissen leid gewesen und hatte die rote Bretz-Monstercouch angeschafft, die dem Raum einen leicht verruchten Touch gab. Die geschwungenen Löwenfüße sahen beinahe ein bisschen aus wie bei Louis XIV., und der Brokatstoff fühlte sich kuschelig an. Die paar Decken mit dem unverkennbaren Muster von Olivades fügten dem Landhausstil keinen Bruch zu, und Margeaux freute sich immer auf die gemütlichen Sofaabende mit Willi, der dort seinen angestammten Kuschelplatz hatte.
Margeaux trank ihren Kaffee mit großen genießerischen Schlucken und glitt von ihrem Stuhl. »Ich laufe dann meine übliche Runde«, verabschiedete sie sich in Richtung Hilde.
»Mon dieu, Chérie, es ist doch viel zu warm«, gab Hilde zu bedenken. Für sie war das Joggen eine sonderbare Erfindung der Neuzeit. Wenn man zwei Haushalte versorgte, dann lief man auch so schon genug, und das Gartengrundstück, das sie und Aimé besaßen, musste auch bewirtschaftet werden. Joggen kam ihr also wirklich nicht den Sinn.
Margeaux schnappte sich ihre Laufschuhe vom Bord im Flur, setzte sich auf die Treppe und schnürte sie fest, während sie lachend...
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