Schweitzer Fachinformationen
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Wenn ich genau überlege, beginnt alles mit diesem einen grauen Haar auf meinem Kopf. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, wie ich vor ein paar Jahren aus der Dusche stieg und mich in ein Handtuch wickelte. Morgenluft drang durch das geöffnete Fenster und ließ mich leicht frösteln. Ich trat in das warme Licht der Lavalampe, wischte über den beschlagenen Spiegel, kämmte mir die Haare, erstarrte. Da. Weiß zeichnete sich das Haar vom dunklen Rest ab, alarmierend deutlich. Ohne zu überlegen, riss ich es mir aus, genauso reflexhaft, wie ich einen störenden Faden von einer Jeans abriss. Zugegeben, es war nicht das erste graue Haar auf meinem Kopf. Da waren noch andere, aber die schmiegten sich unauffällig und vereinzelt an meine Kopfhaut und tarnten sich unter der Haarfarbe, die ich alle paar Monate auftrug.
Ich kannte diese Routinen von meiner Mutter, die ein Leben lang ihre Haare gefärbt hat. Oft hatte ich sie in meiner Kindheit und Jugend unter Alufolie oder Alditüten in der Küche stehen und Tortilla backen sehen. Als ich zwölf war - ich saß auf dem Klodeckel im Bad, während meine Mutter vor dem Spiegel Strähne um Strähne ihres Haars mit Farbe bearbeitete -, fragte sie mich zum ersten Mal: Willst du auch Farbe in die Haare? Ich nickte. Sie holte aus dem Schrank unterm Waschbecken einen kleinen Karton heraus und lächelte mich an. Aubergine hieß die Tönung. Ich liebte den Lilastich in meinen Haaren und die kleinen Plastiktuben mit der Spezialspülung, die die Haare nach dem Färben besonders glänzen ließen. Denn ich verstand, auch wenn ich es damals noch nicht so hätte ausdrücken können: Die Haarfarbe symbolisierte die goldene Zeit des Erwachsenseins, und mit ihrem Angebot gab meine Mutter die Tür dahin frei.
Meine Schulfreundinnen beneideten mich - um die Haarfarbe und um meine entspannte Mutter, die mich offenbar schneller erwachsen werden ließ als ihre liberalen Hippieeltern, die ihnen nicht einmal erlaubten, den Labello Rosé zu benutzen. Das war ein bisschen absurd, denn meine Mutter war weder liberal noch entspannt. Sie konnte sehr autoritär sein und schnell jähzornig werden, nicht aber, wenn sie mir die Haare färbte. Dass ich langsam eine Frau wurde, schweißte uns am Anfang zusammen, unser Badezimmer wurde beim Färben zu einem weiblichen Safe Space, und vielleicht war das Haarefärben auch deswegen ein Leben lang für mich mit einer Art Wellnessfaktor verbunden. Ich hatte seitdem immer getönt, eher aus einer Selfcarelaune heraus, mal Aubergine, mal Mahagoni und später meine schwarze Naturfarbe, auch um die kleinen grauen Haare zu überdecken.
Dieses eine weiße Haar an diesem einen Morgen jedoch war anders. Hastig schloss ich das Fenster und beugte mich über das Waschbecken, betrachtete das Haar wie unterm Mikroskop. Noch heute kann ich es zwischen den Fingern spüren. Es hatte nicht nur eine andere Farbe, sondern auch eine völlig andere Textur als mein restliches Haar: rau und hart wie Draht, seltsam im Zickzack gebogen, wie eine Antenne, die noch nicht richtig weiß, in welche Richtung sie sich aufstellen soll.
Ein ungutes Gefühl überfiel mich. Das Haar war ein Vorbote, der Überbringer einer schlechten Nachricht. Ich fühlte mich unversehens beschädigt, musste an die Puppen und Barbies meiner Kindheit denken, vielleicht, weil sich das weiße Zickzack-Haar genauso künstlich anfühlte wie ihre Plastikhaare. Viele meiner Barbies hatte ich aus einer Stimmung heraus eigenmächtig entstellt. Ich schnitt ihnen die langen Haare ab, malte ihnen mit dem geklauten Edding meines Bruders Schnurrbärte - einer biss ich sogar die Nase ab. Oft erwachte ich aus einer solchen Verunstaltungsorgie wie aus einem Rausch und verstand erst danach, was ich der Puppe angetan hatte. Im antiken Griechenland wurden Verräter, Verbrecher oder Versklavte mit einem Mal versehen, man verletzte diese Menschen bewusst, damit das Stigma für alle sichtbar wurde. Dieses eine weiße Haar stigmatisierte auch mich - als alternde Frau, und zum ersten Mal wurde mir die eigene Vergänglichkeit als konkrete Bedrohung bewusst.
In kürzester Zeit wuchsen mir - wie in dem Sprichwort - für jedes ausgerissene Haar mindestens sieben weiße Haare nach. Ich begann professionell zu färben, da die Tönungen aus dem Drogeriemarkt gegen die Antennenhaare nicht ankamen. Alle sechs Wochen lief ich inzwischen zum Friseur, saß dort Stunden im bauschigen Umhang herum, das Haar akribisch abgeteilt in Alufolienquader verpackt, als würde dort irgendetwas Lebenswichtiges wie Dialyse durchgeführt, aber ich dachte: Das ist es wert. Niemand sollte sehen, dass etwas Monströses in mir schlummerte, ein Virus, das nur noch nicht ausgebrochen ist. Niemand sollte sehen, dass ich befallen war - vom Alter.
Zur gleichen Zeit ungefähr wurde meine Mutter sehr plötzlich krank. Die Krankheit überfiel sie so heftig, dass sie innerhalb weniger Monate nicht mehr ohne Rollator laufen konnte. Sie musste in ein Pflegeheim umziehen, und das war ihr auch ganz recht so. Es lag gleich gegenüber ihrer Wohnung. Schon viele Jahre zuvor hatte sie sich dort auf die Warteliste setzen lassen. Ich hatte das damals irgendwie vage gut gefunden, aber auch übertrieben, niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass sie diesen Platz so früh in Anspruch würde nehmen müssen. Fast schon triumphierend empfing sie mich an ihrem ersten Tag im Seniorenheim und ermahnte mich nach einer knappen Begrüßung, mir in Sachen Vorsorge ein Beispiel an ihr zu nehmen, mich früh genug um einen Heimplatz und am besten auch gleich um die eigene Bestattung zu kümmern, so wie sie es getan habe.
Schon immer hatte meine Mutter die Gabe besessen, Schicksalsschläge so aussehen zu lassen, als sei am Ende sie die Gewinnerin - selbst bei einer Erkrankung, die sie in den kommenden Jahren umbringen würde. Bis dahin war sie kerngesund gewesen, immer sehr auf ihr Äußeres bedacht. Morgens verbrachte sie viel Zeit im Bad, trug dick Make-up auf, roten Lippenstift - das komplette Programm -, und natürlich färbte sie sich noch immer regelmäßig ihre Haare pechschwarz. Nun aber erlebte ich wie im Zeitraffer die Verwandlung meiner Mutter von einer resoluten, herzlichen und zupackenden Person, die aussah wie die Joan Collins meiner Heimatkleinstadt, in eine schwerstkranke Frau. Urplötzlich war sie alt. Natürlich war sie das mit Anfang siebzig auch schon vorher gewesen, doch im Pflegeheim hörte sie mit dem Haarefärben auf. Vielleicht ließ ihre Erkrankung es nicht mehr zu. Meine Mutter war inzwischen motorisch sehr eingeschränkt. Vielleicht war sie auch einfach ermüdet von den jahrelang eingeübten Verjüngungsroutinen, jedenfalls ließ sie es sein. Schneeweiß wuchs ihr der Haaransatz heraus, wie mit dem Lineal gezogen. Das Weiß schien zu fluoreszieren, so stark war die Kontur zur schwarzen Haarfarbe, und mit jedem weiteren weißen Zentimeter schien sich in meinen Augen ihr körperlicher Verfall zu manifestieren. Wieder musste ich an meine Puppen denken, meine Mutter - sie litt wie eine meiner entstellten Barbies. Und auch wenn nicht ich es war, die sie verunstaltet hatte, verhielt sie sich in dieser ersten Zeit verschlossen und beschämt mir gegenüber. Weiterhin bemühte sie sich, vor mir so zu tun, als mache ihr das alles nichts aus, schließlich hatte sie so wunderbar vorgesorgt. Aber sie brauchte doch eine ganze Weile, um zu verstehen, dass sie nie wieder nach Hause zurückkehren würde, dass sie ab jetzt ein Pflegefall war. Es war eine schmerzhafte Zeit. Ich konnte spüren, wie meine Mutter mit ihrem Selbstverständnis rang, auch mir gegenüber. Ich war erwachsen und selbstständig, aber für meine Mutter war ich immer noch ihre Tochter, im Guten wie im Schlechten blieb ich in dieser Rolle gefangen. Doch jetzt war sie abhängig, nicht nur von mir, sondern vom Pflegepersonal, von staatlichen Strukturen. Wir hatten beide Schwierigkeiten, uns in diesen neuen Rollen einzurichten. Meine Mutter wurde still, und ich wusste nicht, wie ich ihr helfen konnte.
Eines Tages waren die gefärbten Haare weg. Meine Mutter hatte sich im Friseursalon die Haare schneiden lassen, sich radikal vom schwarzen Rest befreit. Schneeweiß auf dem Kopf war sie, und ihre Erleichterung übertrug sich auf mich. Fröhlich begrüßte sie meinen Hund Pinsel, von dem sie sonst nie groß Notiz nahm. Hier im Heim verschaffte der Hund ihr jedoch einen besonderen Status, weil seine Anwesenheit den Bewohnenden so guttat und das Pflegepersonal mich gebeten...
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