Schweitzer Fachinformationen
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1 Maria
»Er war ein Fula. War, denn ich habe ihn lange nicht mehr gesehen, ich weiß nicht, ob er noch lebt, oder wo. Er ist einfach verschwunden.
Er war eine Art Sohn. Ein schönes Wort ist das doch, Sohn, darin steckt Verlangen. Sobald ich es ausspreche, sehe ich ihn über unseren Weg gehen, einen Helm auf dem Kopf. Es regnete, es war kurz vor Weihnachten. Ja, ich gebe zu, es klingt ziemlich sentimental.
Als ich die Tür öffnete, stand er mit einer Karte in der Hand vor mir, als würde er darauf warten, wegrationalisiert zu werden - das personifizierte Zaudern, keine Spur von Überzeugung. Er reichte mir die Karte schweigend.
Die Zeitung Trouw wünscht Ihnen schöne Feiertage und ein glückliches neues Jahr.
Ich konnte kaum etwas von ihm sehen, es war dunkel, das Visier seines Helms war ihm halb vor die Augen gerutscht. Die schwarze Jacke und Hose machten den Anblick auch nicht fröhlicher. Ein glückliches neues Jahr, was für eine trübsinnige Art, es zu wünschen.
Ich fragte ihn, ob er nicht den Helm abnehmen wollte, dann könnten wir uns besser unterhalten. Er tat es, und nun sah ich sein Gesicht. Klein und schwarz, verschlossen, mit Augen, die nicht mich ansahen, kurzes, krauses Haar.
»Jeden Tag so früh auf, dann ist bestimmt noch kaum jemand unterwegs, oder?« Etwas in der Art habe ich gesagt, mit dem Reden klappte es bei diesem ersten Mal noch nicht so richtig. Er nickte nur und lächelte ein bisschen, ein ganz kleines bisschen. Im Regen sah es eher wie Weinen aus. Ich gab ihm einen Zehner und dankte ihm fürs Zeitungbringen.
Er wollte gehen, hielt ein wenig ratlos den Geldschein in den Fingern, friemelte ihn in eine Jackentasche und griff dann mit beiden Händen nach meiner Hand. Ich sagte, dass er wiederkommen sollte, falls er einmal keine Arbeit hätte. Vielleicht könnte ich ihm helfen. Warum ich das sagte, habe ich mich oft gefragt.
Dass kein Tag vergeht, an dem ich ihn nicht vermisse, das hat damals angefangen. Ein dunkelhäutiger Junge, Helmträger, der am Rand eines Dschungels aufgewachsen ist und den es in einen Vorort von zeitunglesenden Wohlstandsbürgern verschlagen hat. Natürlich schaute er mich nicht an. Was er um sich herum sah, war schon ungewohnt genug.
Der Klang seiner Stimme, als ich ihn nach seinem Namen fragte.
Ishmael. Leicht nasal ausgesprochen, in der Tonhöhe eines anderen Kontinents.
»Kommen Sie ruhig wieder, wenn Sie etwas brauchen«, sagte ich zu ihm. Was war das für ein verrückter Einfall? Wer fordert einen völlig unbekannten Jungen dazu auf? War es aus einem plötzlichen Impuls heraus, aus einer seltsamen Verlegenheit?
Aber ich meinte es wirklich so, da besteht nicht der geringste Zweifel. Die Wörter überrumpelten mich selbst, das gebe ich zu. Trotzdem war es keine impulsive Reaktion, ich weiß genau, dass sie ausdrückten, was ich empfand.
Später habe ich gedacht, dass es mit der Jahreszeit zusammenhing. Weihnachten, ein fröhliches neues Jahr vor der Tür. Alles unter Kontrolle, jedes Jahr besser als das vorige.
Das ist jetzt fast acht Jahre her. Acht, und sieben davon glücklich. Na ja, nicht ununterbrochen, das gibt es nicht. Aber ich sage glücklich, weil es mir jetzt so vorkommt, denn es waren die Jahre mit Ishmael, und wenn ich an Ishmael denke, ist es so, als würde jemand eine Lampe in mir einschalten.
Es ist ganz lieb von dir, Vincent, dass du mich treffen und mir zuhören wolltest. Und eine sehr gute Idee, hier auf dem Deich spazieren zu gehen. Dabei spricht es sich viel leichter und freier. Ich hatte schon befürchtet, dass du mich zu Hause in deinem Sprechzimmer empfangen würdest und dass ich dann plötzlich nicht mehr wissen würde, was ich sagen soll. Aber so mit dir zu gehen, das hilft mir, meine Gedanken zu ordnen.
Ist es in Ordnung, wenn ich von Ishmael erzähle? Ich habe mich regelrecht festgefahren. Ich suche einen Ausweg, ich möchte die Geschichte mit Ishmael verstehen. Vielleicht wirst du schlau aus dem, was ich dir erzählen will, du hast dich auf anderer Leute Geschichten spezialisiert. Ich hoffe, dass du mir vielleicht erklären kannst, warum er verschwunden ist.
Ich wohne in einem Haus, das ziemlich weit von der Straße entfernt steht. Du kennst es nicht. Vor sechs Jahren sind Maarten und ich umgezogen, wahrscheinlich weißt du nicht einmal das. Dreißig Kilometer stromaufwärts, und man ist in einer völlig anderen Gegend, bei einer anderen Stadt, in der man seine Einkäufe erledigt, und fast nichts erinnert an den früheren Wohnort.
Man muss durch eine kleine Allee, mit mehr Gras als Kies, Bäume und Sträucher auf beiden Seiten. Der Garten ist reichlich groß, das hat mir mein Rücken schon vor Jahren gesagt. Ich habe das Gärtnern aufgegeben, den Garten von unserem vorigen Haus hatte ich noch gepflegt, aber dieser ist abschreckend, gegen den kommt man nicht an.
Ishmael setzte den Helm wieder auf, schloss das Visier und ging langsam durch den Regen. Er hatte sein Moped an den Zaun gelehnt, ich sah ihn aufsteigen. Ich war ein Stück hinter ihm hergegangen, mit aufgespanntem Schirm, und blickte ihm nach. Er fuhr eine enge Kurve und verschwand außer Sicht. Natürlich sehe ich ihn nie wieder, dachte ich. Seltsamerweise stimmte mich das ein bisschen traurig.
Aber dann tauchte er nach einer etwas weiteren Kurve, drei Monate später, wieder auf. Es war kalt, Ende März, der Winter war vorbei, aber der Frühling hatte noch nicht richtig angefangen. Eine tote Zeit, in der alles wartet.
Ich war im Schuppen beschäftigt, stapelte gerade Anfeuerholz auf, als ich ihn am Anfang des Kieswegs stehen sah. Er bewegte sich nicht, anscheinend traute er sich nicht, ungefragt den Garten zu betreten. Ich winkte ihm zu, damit er näher kam, aber er rührte sich nicht vom Fleck, deshalb ging ich zu ihm. Er ließ sich dann zögernd zum Haus mitnehmen. Mir wurde plötzlich bewusst, wie beeindruckend es aussah, das wellige Gartengelände ringsum, die Baumreihen, Hecken, Rhododendren, keine Nachbarn zu sehen, eine Bastion von Wohlstand. Da klopfte man lieber nicht unangekündigt an.
Er habe doch wiederkommen sollen, erklärte er in gebrochenem Englisch. Das hatte er also behalten. Ich glaube, es war kein einziges niederländisches Wort dabei. Das Verrückte ist, dass man in so einer Situation selbst zu stammeln anfängt und nach Worten sucht. Wir verständigten uns quasi mit Händen und Füßen. Wer uns von Weitem gesehen hätte, der hätte gedacht, wir wären zwei Taubstumme.
Die Zeitung hatte ihn entlassen, er hatte einmal verschlafen. Ich hätte am liebsten gleich unser Abo gekündigt.
Manchmal bin ich früh auf. Um sechs Uhr raschelt und knistert draußen eine ganz andere Welt. Ich muss gestehen, dass ich öfter nach ihm Ausschau gehalten hatte, seit er an unsere Tür gekommen war. Als ich dann vor dem Zaun einen älteren Mann absteigen sah, hatte ich mich gefragt, wo Ishmael sein mochte, ob er vielleicht krank war oder ob man ihm einen anderen Bezirk zugeteilt hatte.
Ich fragte ihn, wo er wohnte. Bei einer afghanischen Familie in der Stadt, aber da musste er plötzlich weg. Die Afghanen hatten seinen Koffer einfach vor die Wohnungstür gestellt. Warum, wusste er nicht, er hatte nichts Unrechtes getan, hatte manchmal sogar auf die Kinder aufgepasst und die Miete im Voraus bezahlt. Und nun hatte er nichts mehr.
Natürlich hat er das nicht genau so ausgedrückt, aber ich konnte es mir zusammenreimen. Er sagte gerade so viel, wie nötig war, um es zu verstehen. Später ist mir öfter aufgefallen, dass er sich mit unklaren, halb verschluckten, abgebrochenen Sätzen verständigen konnte. Er forderte mich unabsichtlich dazu heraus, mich in seine Ausdrucksweise hineinzudenken und das Fehlende zu ergänzen. Und fast immer klappte das.
Die Tür stand offen, und ich bat ihn ins Haus. Durch die Diele in mein Zimmer, mein ganz gewöhnliches Zimmer voll angesammelter Vergangenheit. Sachen aus sechzig Jahren, dazu hundert Jahre Geerbtes, Gemälde, eine Uhr, Fotos aus der Vorkriegszeit. Was der Mensch eben so mitschleppt. Du kennst das auch, Vin, ich kann mich noch an fast alles in deinem Zimmer erinnern. Wir können zusammen einen Laden aufmachen, den nennen wir dann >Mitgeschleppt<.
Ishmael setzte sich nicht, er blieb mitten im Zimmer stehen, verdattert, oder benommen, das kann auch sein. Ich hatte gar keinen Plan, ich hatte ihn ins Haus geholt, ohne darüber nachzudenken. Und was nun?
Das Schweigen wurde greifbar.
Irgendwann habe ich mir eingeredet, dass er so still war, weil er sich bei mir wohlfühlte, dass ihm die Ruhe angenehm war. Später wusste ich, dass ich da völlig falsch lag. Er hat mir einmal anvertraut, was ihm durch den Kopf ging, als er zum ersten Mal in unserem Haus stand. Er wäre gern möglichst schnell wieder verschwunden. Was wollte ich eigentlich von ihm? Er hätte besser einen Freund angerufen, bei dem er übernachten konnte. Er wollte mir für meine freundlichen Worte danken, aber er musste weg. Und plötzlich war er ganz benommen und hatte das Gefühl, dass er jeden Moment umfallen konnte.
Er fragte, ob er sich setzen dürfte und ob ich vielleicht einen Schluck Wasser für ihn hätte, danach würde er sich wieder auf den Weg machen.
Er sah aus, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. Ich sagte, dass er sich schnell hinsetzen sollte, ich würde Wasser holen. Er war kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, ein zerbrechlicher Junge in der Sofaecke.
So wie ich mich jetzt bei dir fühle, zerbrechlich, klein, weinerlich. Entschuldige.
Sieh mich doch nicht so an. Manchmal weiß ich einfach nicht mehr, was ich sagen soll, du...
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