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Kommissar Luigi Palma hob den Blick von den Papieren auf seinem Schreibtisch und versuchte, dem Stimmengewirr im Nebenraum etwas halbwegs Verständliches zu entnehmen.
Er hatte es sich zur Regel gemacht, die Tür zu seinem Büro nie ganz zu schließen, um seinen Mitarbeitern das Gefühl zu geben, jederzeit ansprechbar zu sein. Doch hier in Pizzofalcone führte eine der beiden Türen direkt in das Gemeinschaftsbüro, zu dem er die ehemalige Kantine hatte umbauen lassen. Jetzt, fürchtete er, sie könnten glauben, er wollte sie permanent im Auge behalten. Womit seine eigentliche Absicht ins Gegenteil verkehrt worden wäre: Statt ein Primus inter Pares zu sein, eine Art großer Bruder, der koordiniert statt kommandiert, erschiene er ihnen wie ein argwöhnischer Galeerenaufseher, der ihre Gespräche belauscht.
Was auch immer er tat, es konnte so oder so ausgelegt werden. Er hatte gewusst, dass es kein einfacher Job werden würde; sogar der Polizeipräsident hatte ihm bei ihrer letzten Unterredung, als er ihm die Stelle anbot, im selben Atemzug davon abgeraten. Er habe eine vielversprechende Karriere vor sich, früher oder später würde sich bestimmt ein Posten mit mehr Prestige und weniger Unannehmlichkeiten finden, bei dem er seine Fähigkeiten unter Beweis stellen könne.
Doch Palma war nie den bequemsten Weg gegangen, er liebte Herausforderungen, und de facto hatte er kaum etwas zu verlieren. Das konnte der Polizeipräsident freilich nicht ahnen.
Seine Karriere interessierte Palma weit weniger, als sein hohes Arbeitspensum vermuten ließ. Die Wahrheit war einfach: Es gab in seinem Leben nichts anderes.
Seine Eltern waren vor ein paar Jahren verstorben, kurz hintereinander. Palma bezeichnete sich stets als «Kind von späten Eltern»; sein Vater hatte bei seiner Geburt die 50 bereits überschritten, und auch seine Mutter war über 40 gewesen. Sein älterer Bruder hatte das Down-Syndrom gehabt und war mit 20 gestorben - ein plötzliches Loch in ihrer Mitte, ein stiller Schmerz, der sie für immer begleiten sollte. Palma hätte selbst gerne Kinder gehabt, doch seine Exfrau, eine Ärztin, ging so auf in ihrem Beruf, dass für Kinder kein Platz war. Ohne dass sie es wollten, hatten sie sich immer mehr voneinander entfernt, und so hatte der Entschluss, sich zu trennen und später sogar scheiden zu lassen, für beide eine Erleichterung bedeutet.
An dem Punkt hatte Palma begonnen, sich nach anderen Frauen umzusehen. Er war ein gefühlvoller Mann, warmherzig und kommunikativ, der keine Eltern mehr hatte und es auch nicht zu einer eigenen Familie gebracht hatte. Wohin das Schicksal uns eben führt .
Da er eine Führungspersönlichkeit war und gut Teams anleiten konnte, war sein Beruf an die Stelle einer Familie getreten. Natürlich war dies nicht unbemerkt geblieben, und am Ende hatten sie ihm einen Posten als Stellvertretender Kommissar in einem ruhigen Wohnbezirk angeboten. Weil sein Vorgesetzter schwer erkrankte und ständig ausfiel, war er innerhalb kürzester Zeit zum jüngsten Leiter einer Polizeidienststelle in der ganzen Stadt avanciert.
Als der Leitende Kommissar sich, um sein allerletztes Gefecht auszutragen, in den frühzeitigen Ruhestand versetzen ließ, war Palma davon ausgegangen, auch offiziell in seine Fußstapfen zu treten. Das wäre ebenso im Sinne seiner Mitarbeiter gewesen, darunter viele ältere Kollegen, die seine ehrliche, bescheidene Art zu schätzen wussten. Doch da auf dieser Welt nun mal weder die Logik noch die Gerechtigkeit regiert, hatte eine Kollegin aus einer anderen Stadt, die mehr Meriten gesammelt hatte und größeres Wohlwollen in Rom genoss, das Rennen gemacht.
Nicht Wut oder Neid hatten ihn dazu bewogen, seine Stelle aufzugeben. Er wusste einfach, dass es nicht möglich sein würde, die Effizienz des Kommissariats aufrechtzuerhalten. Es war unabdingbar, dass er ging. Wäre er geblieben, hätten die Kollegen die neue Chefin niemals als Autorität anerkannt; sie hätten sich weiterhin bei jeder Frage an denjenigen gewandt, der die Umgebung, die Mitarbeiter und die Strukturen im Kommissariat am besten kannte.
Just um diese Zeit geschah die Sache mit den Gaunern von Pizzofalcone, ein enormer Imageschaden für die örtliche Polizei. Wie die meisten Kollegen, die von morgens bis abends unter größten Mühen die Stadt vor ihrer Zerstörung durch die eigenen Bewohner zu schützen versuchten, hatte auch er innerlich aufbegehrt und eine große Wut in sich verspürt. Als er erfuhr, dass der Polizeipräsident das Kommissariat schließen wollte, was dem Eingeständnis einer Niederlage gleichgekommen wäre, hatte er Einspruch eingelegt.
Und die Leitung des Kommissariats gefordert.
Es war eine Reaktion aus dem Bauch heraus gewesen. Ein Risiko, keine Frage. Aber auch eine Möglichkeit, sich aus diesem trüben Tümpel zu retten, in den seine Karriere und in gewisser Hinsicht sein ganzes Leben sich verwandelt hatte. Ein neuer Job, eine neue Perspektive. Und ein neues Team. Eine neue Ersatzfamilie.
Die Mitarbeiter, die man ihm zuwies, verhießen zumindest nach Lage der Akten nichts Gutes. Die vier Gauner, die in der Drogenaffäre die Hauptrollen gespielt hatten und rausgeflogen waren, wurden durch andere «Gauner» ersetzt, heimatlose Seelen, die kein anderes Kommissariat beschäftigen wollte: der Vitamin-B-gepamperte Aragona, der genauso laut und ungehobelt wie übergriffig und schlampig war; die rätselhafte Di Nardo, die in ihrer eigenen Dienststelle mit der Waffe herumgeballert hatte; der wortkarge Romano, der in seiner cholerischen Art sowohl Gangstern wie Kollegen mit seinen kräftigen Händen schon mal an die Gurgel ging. Und Lojacono? Der Sizilianer, den sie wegen seiner auffälligen mandelförmigen Augen den «Chinesen» nannten?
Bei ihm lag der Fall anders, ihn hatte er haben wollen. Lojaconos ehemaliger Vorgesetzter Di Vincenzo war froh gewesen, ihn loszuwerden, da der Chinese mit einem echten Makel behaftet war: Ein Kronzeuge hatte behauptet, Lojacono habe mit der Mafia kooperiert, woraufhin man ihn in einen anderen Landesteil strafversetzt hatte. Wenngleich es keinerlei Beweise für ein solches Fehlverhalten gab, war der Ruf des Inspektors von dem Moment an ruiniert gewesen. Aber Palma hatte Lojacono bei der Arbeit erlebt, als sie gemeinsam Jagd auf das «Krokodil» machten, einen Serienmörder, der Monate zuvor die Stadt in Angst und Schrecken versetzt hatte. Und er hatte sein Talent erkannt, seine Wut und sein emotionales Engagement: genau das, was er bei seinen Leuten suchte und was für ihn einen guten Polizisten ausmachte.
Auch die beiden Kollegen, die die Säuberungsaktion im Kommissariat von Pizzofalcone durch die interne Untersuchungskommission überstanden hatten, waren alles andere als eine Last.
Der ehemalige Stellvertretende Kommissar Pisanelli kannte das Viertel, in dem er zur Welt gekommen war und sein ganzes Leben verbracht hatte, wie seine Westentasche. Er war ein höflicher, empfindsamer Mann, eine bestens unterrichtete, nie versiegende Informationsquelle, wodurch das Manko kompensiert wurde, dass der Rest des Teams vergleichsweise neu im Stadtteil war. Wäre Pisanelli nicht so fixiert auf einige verdächtige Selbstmorde gewesen, hätte er in ihm die wertvollste Unterstützung gehabt, die man sich wünschen konnte.
Was Ottavia betraf, so hatte er sich anfangs gefragt, ob er sie nicht lieber ins Feld schicken sollte, doch dann war ihm klar geworden, wie wichtig ihre Funktion als Assistentin im Büro war. Sie bewegte sich so geschickt im Internet, dass ihre Recherchen mindestens genauso hilfreich waren wie die Erkundungen, die ihre Kollegen auf der Straße einholten, wenn nicht mehr; sie ersparte ihnen Stunden mühevoller Kleinarbeit, indem sie mit ein, zwei Klicks jede Menge Erkenntnisse zutage förderte, nach denen sie sonst ewig geforscht hätten.
Zugegeben, es erwärmte ihm das Herz, sie im Nebenraum zu wissen und ihr helles Lachen zu hören, wenn Aragona seine schlechten Witze machte.
Er hatte genug Lebenserfahrung, um sich der Gefahr bewusst zu sein. Es war nie gut, wenn die unschuldige Freude an der Begegnung im Job in etwas anderes umschlug. Seine Aufgabe war, dieses Team zu leiten und das Kommissariat möglichst effizient arbeiten zu lassen, damit es nicht aufgelöst wurde. Und Ottavias Aufgabe lag in der wertvollen Recherchearbeit, die sie leistete. Sie beide konnten es sich nicht erlauben, die professionelle Natur ihrer Beziehung zu gefährden. Abgesehen davon, dass sie verheiratet war und einen Sohn hatte, der noch dazu unter Autismus litt.
Vielleicht irrte er sich auch. Vielleicht gaukelte er sich bloß vor, dass sie ihn häufiger anlächelte als die anderen, besonders aufmerksam ihm gegenüber war und die Stimme senkte, wenn sie mit ihm sprach. Gut möglich, dass er das sah und hörte, was er sehen und hören wollte. Weil er sich danach sehnte. Zu viele Nächte hatte er auf der schmalen Couch in seinem Büro verbracht, weil er keine Lust verspürte, in seine chaotische kleine Wohnung zurückzukehren, die er nicht als sein Zuhause empfand. Zu viele Sonntage hatte er biertrinkend vor dem Fernseher verbracht, ohne überhaupt hinzuschauen. Zu viele fast verblasste Erinnerungen geisterten durch seinen Kopf, dass er fast fürchtete, sie sich nur einzubilden, um die Leere in seinem Inneren zu füllen.
Es war nicht der Sex, der ihm fehlte; er war immer schon der Ansicht gewesen, dass Sex ohne Liebe etwas vollkommen Überflüssiges war. Wenn er seine wenigen Freunde traf, ehemalige Klassenkameraden, die daran festhielten, sich alle paar Monate zu verabreden, ertrug er stoisch ihre Scherze; in ihren Augen ähnelte er einem vertrockneten Religionslehrer, der verzweifelt versuchte, ein paar pickligen...
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