Schweitzer Fachinformationen
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Der Schnee knirschte unter dem Gewicht des großen schwarzen Wagens mit Allradantrieb, als Katrine in den schmalen Weg einbog, der ins Ferienhausgebiet führte und wie erwartet nicht geräumt war. Es war klug gewesen, ihrem schlechten Gewissen zu trotzen und dieses benzinschluckende Monster zu mieten, mit dem sie bis zu ihrem Haus am Strand und von dort auch wieder wegkommen konnte, ohne im Schnee stecken zu bleiben.
Es war schon dunkel geworden, aber sie hätte die Stelle mit verbundenen Augen gefunden. Katrine hielt an und betrachtete das kleine schwarze Holzhaus mit den weißen Fensterrahmen im Licht der Scheinwerfer. Einen Augenblick lang zögerte sie und blieb im Wagen sitzen, bevor sie ausstieg.
Von der anderen Seite des Hauses klang das vertraute Rauschen des Meeres zu ihr herüber. So rau und kalt, verglichen mit dem, das sie gerade erst verlassen hatte. Sie sah es vor sich, wie die Wellen bis weit hinauf auf den Strand schlugen.
Sie kannte diesen Ort so gut. Und es war, als würde der Ort auch sie wiedererkennen.
In ihrer Kindheit hatte sie jeden Sommer hier verbracht. Alles hier war beinah wie ein Teil ihres Körpers. Als hätten sich ihre Erinnerungen hier materialisiert. So viele Sinneseindrücke waren hier zu Hause; brennende Haut auf einer Decke im Gras, der Schweiß, der sich zwischen Stoff und Haut sammelte, während man dalag und las. Gänsehaut in eiskalten Wellen außerhalb der Badesaison, Muskeln, die danach vor Kälte zitterten, ob man wollte oder nicht. Und die Düfte: nach würzigen Fichten, süßen Erdbeeren und geröstetem Brot am Morgen, wenn sie aufstand, bettdeckenwarm, und mit von Salz borstig abstehenden Haaren nach draußen zu ihren Eltern schlurfte, die auf der Terrasse Kaffee tranken.
Sie ging zum Haus und schloss auf. Sofort warf sich der muffige Geruch eines Hauses, das die meiste Zeit des Jahres leerstand, über sie und bildete einen starken Kontrast zu den Bildern, die sie eben noch vor ihrem inneren Auge heraufbeschworen hatte.
Sie ging hinein und schloss die Tür. Das Haus war eisig, und es würde einige Zeit dauern, bis es ordentlich durchgewärmt war. Die Kälte hatte sich in Wänden, Möbeln und Böden festgebissen. Sobald sie die Koffer geholt hatte, würde sie ihre wärmsten Sachen hervorkramen müssen.
Langsam ging sie im Haus herum und rief sich die Atmosphäre ins Gedächtnis, die ihr so gut bekannt war. Da war der Tisch, an dem sie gegessen oder Karten gespielt hatten, wenn es zu kalt war, um draußen zu sitzen. Da war der Kaminofen, in dem Feuer gemacht wurde, wenn es abends kühl war. Da war die Doppeltür mit den kleinen Sprossenfenstern, die auf die Terrasse im Garten hinter dem Haus führte, direkt dahinter die Holzstufe, auf der sie Gott weiß wie viele Sommerstunden gesessen und was getan hatte? Nichts, weder Weltbewegendes noch sonst etwas, überhaupt nichts. Einfach nur da gewesen war.
Wenn sie bei Tageslicht hier wäre, was, wie ihr klarwurde, nicht der Fall sein würde, bevor die erste Arbeitswoche vorüber war, würde sie ein bisschen dort draußen herumstapfen und sich den schneebedeckten Garten ansehen. Sie sah es vor sich, wie sie sich überwinden würde, das Törchen am Ende des Gartens zu öffnen und die Holztreppe zum Strand hinunterzugehen.
Aber diese Reise begann genau hier; widerwillig schaute sie auf die Türen zu den beiden Schlafzimmern, die auf dem kleinen Eingangsflur einander genau gegenüberlagen. Das Schlafzimmer der Eltern. Und . Sie atmete tief ein und schaute auf die andere Tür zu ihrem eigenen Zimmer, wo sie in den langen hellen Sommernächten gelegen und geschlafen hatte. Wo sie gelegen und geschlafen hatte, als Lise, die am Gymnasium ihre Freundin gewesen war, zu ihr kam und sie mit den Worten weckte, die sich später als so fatal erwiesen hatten: »Wir können Jon nicht finden.«
Sie sah alles vor sich. Die Schulzeit war zu Ende, und sie hatten sich erst vor kurzem als Studenten eingeschrieben. Eine Fete reihte sich an die andere, und ihre Clique war hier heraufgefahren, um die neugewonnene Freiheit zu genießen. Das war lange her. Beinahe als ob es in einem anderen Leben geschehen wäre. Seitdem war sie nur ganz wenige Male hier gewesen. Aber sie hatte nie wieder in diesem Haus, in diesem Zimmer geschlafen.
Es ist nur die erste Nacht, die musst du überstehen, sagte sie beruhigend zu sich selbst. Entschlossen setzte sie sich in Bewegung und öffnete die Tür zu ihrem alten Zimmer. Es sah genauso aus wie früher. Ich kann hier sein, kein Problem, machte sie sich Mut und glaubte beinah ihren eigenen Worten.
Dann machte sie sich daran, das Haus einzunehmen.
An einer Tankstelle hatte sie Brennholz gekauft und zündete nun als Erstes ein Feuer im Ofen an. Sie schaltete alle Sicherungen ein und begann, ihr Gepäck und die Vorräte ins Haus zu tragen. Sie hatte unterwegs in Hillerød Großeinkauf gemacht, nachdem sich zu ihrem großen Glück herausgestellt hatte, dass der Supermarkt sonntags geöffnet hatte. Jetzt konnten ihr auch fünf Wochen Eingeschneitsein nichts anhaben. Typisch für sie. In einem Supermarkt hatte sie sich einfach nicht unter Kontrolle. Das geliebte Essen. Aber zum Teufel, das kleine Land war ziemlich teuer geworden. Fast wäre sie in Ohnmacht gefallen, als sie die Preisschildchen an ganz gewöhnlichen Alltagswaren in Augenschein nahm. Ganz zu schweigen von den Delikatessen, die sie sich so gern einverleibte; guter Espresso, frisches Pesto, himmlischer Ziegenkäse, Lammfleisch, Fisch und Gemüse, Wein und Obst in langen Regalreihen. Der Betrag, den man ihr an der Kasse abverlangte und von dem sie in England mehrere Monate lang hätte leben können, ließ sie in einem schockartigen Zustand zurück.
Eine Viertelstunde später hatte sie alles da abgestellt, wo es ausgepackt werden sollte. Sie überlegte kurz und entschloss sich, in ihrem alten Zimmer zu schlafen und das ihrer Eltern zum Ankleideraum umzufunktionieren. Sie schob die eiskalte Matratze vor den Kaminofen und legte ein paar Scheite nach. Dann kramte sie dicke Wollsocken und einen Sweater hervor, schnitt ein paar Scheiben Brot und etwas von dem kostbaren Ziegenkäse ab und setzte die Espressokanne auf. Sie aß vor dem Ofen sitzend und schaute hypnotisiert in Flammen und Glut.
Dann schrieb sie eine SMS an Ian, sie sei gut angekommen und stehe nun bis zu den Knien im Schnee. Anschließend rief sie ihren Vater an und erzählte, alles sei gelaufen wie geplant und mit dem Haus alles in Ordnung. In der Zwischenzeit war eine Antwort von Ian gekommen. Hi, Darling, hab's ja gesagt, du hättest hierbleiben sollen.
Im Badezimmer sah sie sich im Spiegel an. Sie sah wirklich wie eine Tauchertussi aus. Die ausgetrockneten orangegoldenen Locken umrankten ihr Gesicht wie eine exzentrische Löwenmähne. Sie hatte es nicht gewagt, sich einem der Frisöre in Scharm auszuliefern. Aber wie hatte sie sich das eigentlich vorgestellt? Wenn sie morgen zu ihrem ersten Arbeitstag unter dänischen Polizisten, Juristen und Beamten erschien und so aussah, würde aller Anfang noch schwerer sein. Entschlossen griff sie zu ihrer Nagelschere und begann, die trockenen Spitzen abzuschneiden. Als arme Studentin hatte sie das schon mal gemacht, und das Resultat war einigermaßen akzeptabel gewesen. Überwältigend wurde es auch diesmal nicht, aber immerhin sah es deutlich besser aus als vorher.
Den Rest des Abends verbrachte sie damit, ihren Laptop ans Internet anzuschließen. Danach aß sie noch etwas und überflog wie gewohnt die Internetausgaben der Tageszeitungen, ein paar englische und ein paar dänische.
Bevor sie ins Bett ging, packte sie ihre Fachbücher aus und stellte sie in ein Regal im Wohnzimmer. Sie nahm sich eins der Bücher über kognitive Verhörtechniken, das einer ihrer früheren Kollegen geschrieben hatte - Verhörmethoden, um möglichst effektiv im Gedächtnis der Verhörten zu suchen.
Im Gegensatz zu mehreren Nachbarländern hatte es in Dänemark keine Skandalfälle gegeben. Schweden, Norwegen, England; überall war es zu Fällen gekommen, in denen die Polizei so versessen darauf gewesen war, ein Geständnis zu präsentieren, dass man es erzwungen hatte. Bevor DNA-Tests gang und gäbe wurden, hatte dies dazu geführt, dass man Unschuldige für Jahre hinter Gitter brachte, verurteilt für Verbrechen, die sie nicht begangen hatten. In den Ländern, in denen es solche Fälle gegeben hatte, arbeitete man in der Folge entschlossen daran, die Rechtssicherheit der Angeklagten zu verbessern - unter anderem dadurch, dass man die Ermittler gründlicher ausbildete, was Techniken des Verhörs von Angeklagten, Opfern und Zeugen anging.
Die kognitive Verhörtechnik baute auf dem Verständnis auf, dass das menschliche Gedächtnis eine erfinderisch begabte und nicht immer verlässliche Größe ist. Erinnerungen werden innerhalb eines Zusammenhangs abgelegt. Oftmals würden Verhörte schwören, dass ihre Erinnerungen den tatsächlichen Begebenheiten vollständig entsprechen. Nur den wenigsten Leuten ist bewusst, dass der Mensch seine Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis laufend korrigiert.
Eine Untersuchung nach einem Flugzeugabsturz am Flughafen Schiphol in Amsterdam hatte dies eindrucksvoll gezeigt: Im Fernsehen hatte man nach dem Unglück Bilder des Flugzeugwracks und eines zerstörten Gebäudes gezeigt. Fünfundsiebzig Prozent der Teilnehmer der Studie gaben später an, sie hätten Bilder des abstürzenden Flugzeugs im Fernsehen gesehen. Aber vom eigentlichen Absturz existierten keine Aufnahmen.
In diesem für die Ermittler so wichtigen Werkzeug steckte jede Menge Zündstoff für Diskussionen. Das Buch hatte einen hervorragenden Theorieteil und war gleichzeitig auch praktisch anwendbar. Einige der Kapitel über Gedächtnis und Methode würde sie gut...
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