Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der Frieden war vorbei.
Die verheißungsvollen Geräusche des Frühlings waren an diesem Samstag, dem ersten warmen Wochenende des Jahres, regelrecht aufdringlich geworden. Die Vögel hatten laut und hysterisch gezwitschert, und aus den Sommerhäuschen, die den ganzen Winter über leer standen, jetzt aber wieder von ihren frühlingstrunkenen Eignern bevölkert wurden, um alles für eine lange Saison an der Seeländer Nordküste vorzubereiten, waren laute Stimmen zu ihr herübergedrungen.
Rasenmäher, Motorsägen, das Kreischen vom Strand, wo die Mutigsten sich in die kalten Fluten stürzten, lebhafte Gespräche beim Essen auf der Terrasse, das Klirren von Besteck, Tellern und Weingläsern, das Bellen von Hunden und das Lachen der spielenden Kinder waren Bestandteile der Tonspur dieses Wochenendes.
Katrine Wraa saß auf der obersten Stufe der breiten Holztreppe ihrer Veranda und blickte über das Meer. Fledermäuse flatterten vor dem hellen Maihimmel hin und her. Sie goss sich den letzten Rest Rotwein in ihr Glas, schlug die Decke enger um sich und legte noch ein Scheit in dem kleinen Keramikofen auf, der vor ihr stand und sie warm anstrahlte. Sie, die das ganze Jahr über hier wohnte, musste sich nun von der Ruhe und dem Frieden, die sie in den letzten Monaten so dringlich gebraucht hatte, verabschieden.
An diesem späten Sonntagabend begannen die Geräusche langsam zu verstummen. Das Klappen von Terrassen- und Autotüren war zu hören, die Leute fuhren zurück in die Stadt. Die Stimmung, die sich im Laufe des Abends eingestellt hatte, passte gut zu ihrer Laune. Es war das Gefühl, dass etwas zu Ende ging. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie es als Kind erlebt hatte, wenn sie spät am Sonntagabend, wenn es wirklich nicht mehr anders ging, zurück in die Stadt gefahren waren. Sie auf dem Rücksitz des Autos. Ihre Eltern vorn. Die Haut im Gesicht trocken und straff von der Sonne und dem Salz des Meeres. Sand zwischen den Zehen. Als sie noch ganz klein gewesen war, war sie auf diesen Fahrten immer eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, wenn ihr Vater sie ins Bett getragen hatte. Später, als sie ein bisschen älter war, waren diese Fahrten ein wehmütiger Übergang gewesen. Eine Reise von einem Zustand in einen anderen. Mehr Moll als Dur. Genau diese Stimmung war es, die jetzt in ihr aufkam.
Weil sie auf dem Weg von einem Zustand in einen anderen war. Sie sollte am kommenden Tag nach einer längeren, krankheitsbedingten Auszeit wieder zu arbeiten beginnen. Im Gegensatz zu ihren Erinnerungen ging damit aber keine schöne Zeit zu Ende. Im Gegenteil: Es war der Abschluss einer Zeit, die sie als eine der schrecklichsten Perioden ihres Lebens erlebt hatte.
War sie wirklich schon wieder so weit?, hatte ihr neuer Chef, Bent Melby, sie gefragt. Sie sollte sich auf keinen Fall gedrängt fühlen und deshalb zu früh zur Arbeit zurückkommen. Dabei hatte er geklungen, als wäre es ihm nur recht, wenn sie noch ein bisschen wegbliebe, oder täuschte sie sich in dieser Einschätzung?
Sie sei sich vollkommen sicher, hatte sie im Brustton der Überzeugung gesagt, auch wenn der Krisenpsychologe der Polizei in diesem Punkt nicht ganz ihrer Meinung war. Aber sie wusste ja wohl am besten, was sie jetzt brauchte, schließlich war sie selbst Psychologin; sie musste einfach wieder arbeiten, in Gang kommen, dann würde sich der Rest schon finden.
»Da sind wir«, sagte Jens Høgh und lächelte Katrine breit an, als er sie in das Büro führte, das sie sich im nächsten Jahr teilen sollten.
Katrine trat ein und hängte ihre hellbraune Lederjacke hinter die Tür. Jens beobachtete sie. Sie war blass und noch dünner als bei ihrer letzten Begegnung vor ein paar Monaten. Sie hatte dunkle Ränder unter den Augen, und er sah ihr an, dass sie frischer zu wirken versuchte, als sie es in Wahrheit war. Sie fingerte an ihrem hellen, kurzärmeligen Hemd und an dem Gürtel ihrer Jeans, und ihm entging nicht, dass sie sich immer wieder mit der Hand über die langen, lockigen roten Haare fuhr, die sie in einem Pferdeschwanz zu bändigen versucht hatte. Einige Locken tanzten über ihre markanten Wangenknochen.
»Sollen wir uns eine Tasse Kaffee holen?«, fragte Jens. Katrine nickte. Sie gingen in die Teeküche am Ende des Flurs. Der dritte Stock schien sich in nichts vom zweiten zu unterscheiden, in dem das Morddezernat lag, wo sie ihre Einführungsphase zusammen mit Jens angetreten hatte, vor einer gefühlten Ewigkeit, obwohl es erst vier Monate zurücklag. Jens und sie hätten alles dafür gegeben, wieder dort arbeiten zu können, statt in der neu eingerichteten Einheit zur Bekämpfung von Bandenkriminalität.
»Wir sind hier oben inzwischen mehr als hundert Mann«, sagte Jens und goss Katrine Kaffee ein.
»Und die Vergrößerung der Abteilung war kein Problem?«, wollte Katrine wissen, nahm eine Packung Milch aus dem Kühlschrank, warf einen Blick auf das Verfallsdatum und goss sie ins Waschbecken.
»Nein, schließlich sollen wir ja auch präventiv arbeiten. Eine Taskforce gegen die organisierte Kriminalität. Sei's drum.« Er sah sie vielsagend an. »Es sind die gleichen Leute wie früher, nur anders verteilt. Es ist ja nicht so, dass wir plötzlich mehr Polizisten hätten. Kragh ist logischerweise nicht besonders glücklich, weil er noch mehr Ermittler an uns abtreten musste«, sagte Jens und goss sich selbst Kaffee ein, ehe sie zurück in ihr Büro gingen.
»Sie wollten sogar Torsten hier raufschicken, hehe.«
»Aber .?«, fragte Katrine und sah Jens hoffnungsvoll an.
»Das konnte er verhindern.«
»Das ist doch schon etwas«, sagte sie, erleichtert, nicht mit dem Ermittlungsleiter zusammenarbeiten zu müssen, der Psychologen bei der Polizei für so überflüssig hielt wie Giersch in einem Kräutergarten.
Per Kragh, der Leiter des Morddezernats, hatte Katrine kurz vor Neujahr aus ihrem selbstgewählten Exil in Ägypten abgeworben, wo sie nach einer misslungenen Karriere in England, ihrer Wahlheimat seit ihrem Psychologiestudium, Zuflucht gesucht hatte. Das war eine einmalige Chance, denn Stellenangebote für Profiler waren rar. Budget gab es nur für die Bereiche mit höchster Priorität, und da die Bandenkriege Kopenhagen bereits lange genug in Atem hielten, hatte Per Kragh eine Chance für die Durchsetzung seiner ganz eigenen Pläne gesehen: Als frisch eingesetzter Dezernatsleiter wollte er klare Duftmarken setzen und sich mit der Anstellung neuer Mitarbeiter profilieren, die das Dezernat mit modernen wissenschaftlichen Methoden bereicherten. Da das Morddezernat aber eine außergewöhnlich hohe Aufklärungsrate vorzuweisen hatte und es keinen wirklichen Bedarf an der Einstellung neuer Experten wie Katrine gab, war er auf die Idee gekommen, sie erst einmal in der brandaktuellen Taskforce einzusetzen. Unter vier Augen hatten sie aber vereinbart, dass er sie nach dem einen Jahr in der Sondereinheit im Morddezernat anstellen wollte. Je besser sie also am jetzigen Ort ihre Arbeit erledigte, desto größer waren die Chancen, doch noch einmal ihre Traumstelle zu bekommen.
»Es ist gut, dich wieder hier zu haben«, sagte Jens, als beide an ihren Schreibtischen Platz genommen hatten. Sie wusste ganz genau, dass er das ernst meinte.
»Es ist auch gut, wieder hier zu sein«, sagte sie, nicht ganz der Wahrheit entsprechend. »Ich muss nur erst .«, sie machte Kreisbewegungen mit ihrem Zeigefinger, »richtig in Gang kommen. Du weißt schon.«
»Natürlich. Lass es ruhig angehen, das versteht hier jeder.«
»Und du . bitte entschuldige, dass ich nicht zurückgerufen habe.«
»Ist schon in Ordnung.«
»Nein, ist es nicht. Aber . Na ja, es ging mir halt wirklich scheiße.«
Jens nickte. »Ich habe mitbekommen, dass deine Krankschreibung verlängert worden ist. Geht's dir denn jetzt besser?«, fragte er.
»Ja, schon, es geht besser. Ich muss jetzt einfach loslegen.«
»Und, ähm, wie war deine Fahrt nach Ägypten? Ist da alles gutgegangen?«
Sie nickte, und Jens sah in ihren Augen so etwas wie Freude aufblitzen. Dieser verfluchte Aussi. Sie hatte in den drei Monaten vor Weihnachten, vor ihrer Rückkehr nach Dänemark, eine Beziehung zu einem australischen Tauchlehrer gehabt. Und als sie krankgeschrieben war, war sie noch einmal dorthin gefahren. Allein der Gedanke daran quälte ihn.
»Ich habe den PADI-Schein gemacht«, sagte sie stolz.
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke.«
»Und . war Ian noch da?«, fragte er und nahm einen Schluck Kaffee. Es gelang ihm sogar, die Frage möglichst beiläufig zu stellen.
»Ja, aber er geht jetzt wieder zurück nach Australien. Er hat einen Job am Great Barrier Reef. Also .« Sie zuckte mit den Schultern, sah aber nicht sonderlich traurig aus.
»Ah ja?« Jens fühlte sich gleich viel besser. Australien, das war schön weit weg! Und das Schulterzucken konnte doch wohl nur eins bedeuten. »Tja, dann .«, sagte er beflügelt, »will ich mal versuchen, dir einen Überblick zu geben.«
»Gerne«, sagte Katrine.
Er stand auf, trat an das große Whiteboard, das hinter Katrine hing, und nahm einen Folienschreiber. Katrine schob ihren Stuhl vom Tisch weg, damit sie besser sehen konnte. Jens begann zu zeichnen, aber der Folienstift war eingetrocknet.
»Augenblick«, sagte er und verschwand durch die Tür. Katrine sah ihrem durchtrainierten Kollegen mit den kurzen Haaren und den blauen Augen nach. Sie waren etwa gleichaltrig, Ende dreißig. Bis jetzt war es doch gar nicht so schwer, dachte sie erleichtert. Sie hatte sich so oft vorgestellt, wie alles ablaufen würde.
Er hatte sie nur einmal kurz oben in ihrem Sommerhaus besucht, gleich nach ihrer Entlassung...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.