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Die Mietshäuser von Paris sind ein lebendiges Völkchen. Sie wimmeln und wuchern, und ich gehe schon so lange an ihnen vorbei, den Blick nach oben gerichtet, dass ich gelernt habe, wie beim Entziffern einer Sprache die Zeichen zu lesen, die eine Fassade von der nächsten unterscheiden, so wie ein Gesicht sich vom nächsten unterscheidet. Die Mietshäuser von Paris sind ein lebendiges Völkchen, und inmitten dieser bunt gemischten Menge habe ich gelernt, den verächtlichen Hochmut der wie zur Parade aufgereihten Sandsteingebäude am Boulevard de Courcelles oder an der Avenue Henri-Martin zu erkennen, die dörfliche Heimeligkeit der Gipsbauten in den engen Straßen Montmartres, die falsche Bescheidenheit der mit Fensterläden versehenen Fassaden, die sich entlang der Rue Saint-Lazare endlos wiederholen.
Oft lässt mich ein Detail innehalten: das von Nachbildungen antiker Säulen eingerahmte Portal aus hellem Holz eines Mietshauses am Boulevard du Temple, die Kombination von grünen und blauen Backsteinen an einer Mauerkante Rue des Couronnes, die Gipsmaske eines freundlichen bärtigen Satyrs, Ebenbild von Georges Perec, unter einem Balkon der Rue du Faubourg-Poissonnière. Solche Details, die mir diese oder jene Adresse lieb und teuer machen, sind vertraute, fast freundschaftliche Grenzsteine im zufallsgesteuerten Verlauf meiner Streifzüge.
Vom Fenster einer Hochbahn, eines Busses aus oder im Takt meiner Schritte schnappe ich Fetzen der flüchtig erblickten Fassaden auf: Wer ist diese Gestalt, die sich in einer Fensteröffnung am Boulevard de la Chapelle abzeichnet? Woran denkt das kleine brünette Mädchen, das sich mit den Ellbogen auf eine Balkonbrüstung der Rue Claude-Bernard stützt? Diese Rätsel, hintergründigen Geschichten, die mitten aus der Stadt entspringen, wurden von Balzac, Baudelaire, Breton, Benjamin ausdauernd erzählt, und so höre ich auch ihre Stimmen, wenn ich mich mit allen meinen Augen umsehe (»Sieh mit allen deinen Augen, sieh dich um!«, verlangte Georges Perec und zitierte dabei Jules Verne).
Spätabends, wenn nur noch vereinzelte Lichter auf die schwarze Fassadenoberfläche treffen, wenn ich die Umrisse der Gesimse, der spitzen Dächer kaum noch erkennen kann, wenn die Häuser in den Himmel ragen wie Schiffe, die zum Sturm auf die Nacht ansetzen, werde ich wieder zum kleinen Pariser Mädchen, das von seinen Wächtern aus Stein behütet wird, und ich bewege mich unter ihnen, wie man sich ausgestreckten Armen anvertraut, die einen unter allen Umständen beschützen.
Das Völkchen dieser Häuser, unverrückbar wie urzeitgeborene Felsen, wacht, und mit ihm die unsichtbare Menge aller, die jemals dort gewohnt, sie jemals betrachtet haben. Beim Gehen spüre ich diesen Gegensatz zwischen Beständigkeit und Vergänglichkeit: die ewigen Steine, die endlichen Leben.
Seit der Kommune hat man in Paris nämlich nie wieder solche monströsen Ruinen erlebt, wie sie der Pole Czeslaw Milosz in Erinnerung an Warschau nach 1945 beschrieb: »Du [.] bleibst vor einem Hause stehen, das durch einen Volltreffer halbiert worden ist. Die intime Sphäre menschlicher Wohnungen, der Geruch der Häuslichkeit, die Wärme der Bienenwabe, die Möbel, die Zeugen sind von Hass und Liebe - alles ist nach außen gekehrt, das Haus enthüllt seine Struktur: es ist kein Felsen, der in der Urzeit geboren wurde, es ist nur Tünche, Kalk, Ziegel, Verputz, und im dritten Stock schwebt einsam und nur für Engel benutzbar eine weiße Badewanne, aus der der Regen die letzten Erinnerungen an ihre ehemaligen Besitzer spült.«[2] In Paris hingegen bleiben die Steine zumeist erhalten; als regelmäßig renovierte Hülle schützen die Fassaden den holprigen Lauf, gelegentlich auch den Absturz des flüchtigen Lebens.
All diese Mietshäuser sind für mich Heimat. Jenes persönliche Fleckchen Erde, das in Frankreich als eigenes »kleines Land« gilt, als selbstverständlicher Ort der Verwurzelung - eine Urlandschaft, deren Umrisse genauso prägend sind wie die Muttersprache. Ein »kleines Land«, nicht aus Hügelketten oder Meereshorizonten gemacht, sondern aus Reihen von Quadersteinen, das meinen Großeltern, die Mitte der 1930er Jahre aus Polen einwanderten, Zuflucht bot.
Dieses Paris, einst Eldorado der Verbannten, wo man sich zunächst jeden Winkel, jede Abkürzung aneignet und Teil einer angenommenen Geschichte wird und wo solche Ortskenntnisse weitergegeben werden wie ein Schibboleth, ein Sesam-öffne-dich, eine Weisung: Auch du wirst hier heimisch werden.
Mein Paris ist eine Rüstung. Dabei war diese meine Rüstung, wie ich schon sehr früh rein instinktiv begriff, während des Krieges, dreißig Jahre vor meiner Geburt, für all jene zur Falle geworden, die mir diese Straßen später als Erbe vermachen sollten. Damals musste man aus Paris fliehen oder dort untertauchen. Mitten im Sommer musste man mit angstvoll klopfendem Herzen die Rue des Martyrs hinuntergehen, die ich heute hinaufgehe, den Kopf voller Kindheitserinnerungen von Paul Léautaud, als wären es meine eigenen. Von dieser Angst ist allerdings nicht die geringste Spur geblieben. Jedenfalls nicht auf den Steinen. Denn im Gegensatz zu Warschau ist Paris nicht eingestürzt, lagen seine Häuser nicht in Trümmern, wie tot da, allen Winden ausgesetzt. Die Gräuel der Verschleppung blieben hinter seinen Fassaden verborgen, unsichtbar für die Stadtbummler. Und so werden meine endlosen Spaziergänge, meine unaufhörlichen Beobachtungen von diesem doppelten Brennstoff einer erträumten Verwurzelung und eines grausamen Ausgestoßenseins genährt.
Was spielt sich hinter diesen Steinen ab?
Ich stand vor so vielen Häusern. Reichen und armen: Rue de la Bienfaisance, Rue Rébeval, Rue des Amandiers, Boulevard Émile-Augier; vor Häusern im Stile Haussmanns, der Restauration, des Art déco, vor Sozialbauten, schäbigen Hütten. Lange musterte ich die Dächer aus Schiefer und Zink, deren Grau heller oder dunkler im Regen glänzte, bevor es in der Sonne leuchtete, die Eingänge, die Ausgänge, die Jahreszahlen, die manchmal über dem Portal eingraviert sind, 1830, 1892 . Mal fiel mir die halb verwitterte Aufschrift auf einzelnen Wänden ins Auge: »Concierge rechts«, »1. Stock«, mal oben links unter dem Fenster eine Gedenktafel: »Hier lebte«, »Hier starb«. An einem Fenster sah ich einen Zipfel Wäsche, die zum Trocknen aushing, und hinter der Scheibe Licht, einen Vorhang. Das Licht ging aus. Vorhang. An den Toreinfahrten huschten Gestalten vorbei. Ich wälzte Telefonbücher, träumte über Namenslisten. Ich träumte von Leuten und Dingen, von Schicksalen und Habseligkeiten, die hinter den Fassaden ständig wechselten. Ich träumte von Wandinschriften, wilden Kinderreigen, Alltagsgesten, Erschöpfungserscheinungen, dem Lauf der Jahrhunderte.
So viele Häuser, überall in der Stadt, die meine Gedankenschichten formten, die unauflösliche Verbindung eines aktiven Strebens nach den wundersamen Reichtümern des französischen Lebens und eines tiefen Bewusstseins der eingetretenen Katastrophe, der möglichen Katastrophen.
Eines Tages stieß ich auf eine Karte, die gerade von dem Historiker Serge Klarsfeld und einem Geografen aus Lyon herausgegeben worden war.[3] Darin waren die Kinder verzeichnet, die man zwischen 1942 und 1944 aus Paris deportiert hatte. Eine solche Karte von Paris war mir noch nie begegnet: Sie war mit mehr oder weniger breiten roten Kreisen übersät, die anzeigten, wie viele Kinder sich in bestimmten Gebäuden aufgehalten hatten und verhaftet worden waren. Am linken Seineufer und im Westen von Paris gab es vereinzelte rote Kreise, doch im Norden und im Osten wurden die Kreise immer zahlreicher und zunehmend breiter. Es waren so viele, dass man gar nicht mehr erkennen konnte, wie die Straßen verliefen.
Beim Zoomen erschienen auf der Karte die Straßennamen, und fast jede hatte einen roten Kreis. Wenn ich noch näher heranzoomte, traten die Namen und das Alter der Kinder hervor. Ich gab ein paar Adressen in die Suchmaschine ein. In der Straße, in der mein Vater aufgewachsen ist und wo ich heute wohne, entdeckte ich den Namen des Jungen, von dem mein Vater mir erzählt hatte. Er blickte von seinem Fenster aus praktisch in seins. Sie waren beide etwa zehn Jahre alt. Er hatte meinem Vater einen Ledergürtel geliehen, der ihm sehr gefiel. Diesen Gürtel konnte er dem Jungen nie zurückgeben. Mein Vater hatte mir diese Geschichte wie immer mit eintöniger, fast emotionsloser Stimme erzählt, aber mir war nicht entgangen, dass er sich weiterhin fragte, warum dieser Junge geschnappt worden war und er nicht. Und der Gürtel? Er wusste nicht mehr, wo der abgeblieben war.
Auf der Karte suchte ich Adressen im 10., im 11. und im 20. Arrondissement aus. Ich fügte sie in meine Routen ein, auch wenn ich mich nach wie vor vom Zufall leiten ließ. Ich driftete von einer Adresse zur nächsten, von Haus zu Haus. Ich erinnere mich an den grauen Winterhimmel, an die Ödnis der Rue Rébeval unterhalb der Buttes-Chaumont und auch an die triste gelbe Backsteinfassade der Villa Castel in der Rue du Transvaal, deren Name zwar die mondhellen, sonnenbeschienenen Savannen Südafrikas heraufbeschwört, die aber vom Gipfel des Parc de Belleville aus betrachtet eine überaus pariserische Szenerie beherrscht.
Es gab ein Gebäude in der Rue de Ménilmontant, ein anderes in der Rue des Deux-Ponts und ein weiteres in der Rue des Couronnes, vor denen ich mit mehreren Tagen Abstand Stellung bezog, unsicher, welches ich wählen sollte. Ich träumte von einem Haus, das ich wie eine terra incognita...
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