Schweitzer Fachinformationen
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»JETZT WEISS ICH ES WIEDER, ich wollte gar nicht ans Meer in den Urlaub!«, rief er derBabcia zu, als sie aus der Küche gerannt kam, weil das Telefon klingelte.
»Mach den Fernseher leiser, das sind bestimmt deine Eltern.«
Er hatte sich schon gewundert, warum die Mutter so übertrieben geheult hatte, als sie vor dem Bus standen, der ihn in die Ferien bringen sollte, nachdem sie auf dem großen Fabrikparkplatz zwischen all den anderen Bussen lange nach dem richtigen gesucht hatten.
Der Vater, der die kleine Schwester auf dem Arm hatte, übergab sie an die Mutter, nahm stattdessen ihn an die Hand und führte ihn die Stufen in den Bus hinauf, am müde grinsenden Busfahrer vorbei, der den Motor aufheulen ließ, weil er endlich losfahren wollte.
Drinnen sprangen alle noch von Sitz zu Sitz.
Vor der Fahrt hat er sich sicher bekreuzigen müssen, das wird die Mutter ihm bestimmt von draußen durch das Fenster angedeutet haben.
»Da hatte ich aber bereits keine Lust mehr zu fahren, daran erinnere ich mich jetzt ganz genau. Der Vater hatte gesagt, dass die anderen Kinder sich auch noch nicht kennen. Das stimmte aber nicht, weil die anderen Eltern aus der Fabrik kamen, also mussten sich die Kinder schon vorher gekannt haben. Sag ihnen das«, erklärte er der Babcia.
»Sei ruhig, du kannst gleich mit ihnen sprechen. Wir müssen erst etwas Wichtiges klären.«
Er ließ sich aber nicht abwimmeln, lief unruhig das Wohnzimmer auf und ab und redete weiter auf die Großmutterein. Er wollte unbedingt klarstellen, was wirklich passiert war.
»Es waren nur noch wenige Plätze hinten im Bus frei. Neben wem saß ich während der langen Fahrt? Es war sehr früh am Morgen gewesen, draußen war es noch dunkel. Habe ich die ganze Zeit geschlafen?«, fragte er die Babcia. »Und dann, drei Wochen am Meer in Leba, was habe ich da so lange gemacht, daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern, wieso?«
Diese Frage konnten ihm weder die Babcianoch die Eltern beantworten. Das verstand er natürlich. Die waren ja nicht dabei gewesen, also hatten sie darüber kein Wissen, und ein Lehrbuch, wo sie es hätten finden können, gab es nicht.
»Ich werde doch nicht den ganzen Tag im Zimmer gesessen und die Tage gezählt haben, bis ich wieder nach Hause durfte.«
Da fiel ihm der Anführer seiner Gruppe ein. Gut, dachte er, dann habe ich mir nicht alles nur eingebildet. Er war der kleinwüchsige Sohn einer der Erzieherinnen, deswegen mit allen Privilegien ausgestattet, hatte sogar seinen Dackel mitnehmen dürfen. Er mochte den vorlauten Köter nicht, fiel ihm auch ein.
»Mit wem habe ich das Zimmer nochmal geteilt?« Das alles ist doch noch gar nicht lange her, er ärgerte sich über die Erinnerungslücken.
»Es wäre wirklich gut, ein polnisches Lehrbuch wie das französische zu haben, eines, das Wichtiges von Unwichtigem trennt und alle falsch gefüllten Erinnerungslücken enthüllt.«
Die Babcia war mit seinen Geschichtsbüchern auch immer unzufrieden, weil sie sagte, die seien nur so richtig, wie die Russen es vorgeschrieben hätten, also falsch.
»Jetzt hör endlich auf, so unruhig hin- und herzurennen und mich mit Fragen zu bombardieren. Du willst doch sonst auch nie mit ihnen reden, jetzt kannst du dich noch etwas gedulden«, wies ihn die Babciazurecht.
Er war aber gerade zu beschäftigt, um auf ihreErmahnungen zu hören.
»Die Wanderung an die Ostsee!«, rief er, weil ihm eine weitere Erinnerung in den Sinn gekommen war. »Ich muss nur Schritt für Schritt vorgehen, dann fällt mir bestimmt alles wieder ein.« Dabei lief er auf dem Wohnzimmerteppich im Quadrat.
Aufgeteilt in Gruppen waren sie durch die Wanderdünen gelaufen. Ein Tagesausflug in den Slowianski-Nationalpark, wie der Name seiner Babcia. Abschussrampen für V-Raketen der Nazis, die prahlerisch vor der hohen Wand aus Sand aufgestellt waren. Die Wand als Erster hochzuklettern, das hatte ihm noch Spaß gemacht. Dann aber war er zunehmend zurückgeblieben. Es war sehr heiß, er fand seine Gruppe nicht mehr, stand vor drei Schildern mitten in der Wüste, wohin sollte er gehen? Er hatte einen Riesendurst und Angst, sich in der Hitze verloren zu haben.
Die Entscheidung, weiter geradeaus zu gehen, hatte sich schließlich als richtig erwiesen. Am Horizont sah er das leuchtende Blau des Meeres. Obwohl er nicht schwimmen konnte, sprang er sofort ins Wasser. Ein Moment großer Erleichterung. Dann erst fand er zu seiner Gruppe zurück.
Großmutter und Mutter-Tochter telefonierten immer noch, ohne auf seine Fragen einzugehen. Also beschloss er, das Wohnzimmer zu verlassen und in der Küche weiter nach Erinnerungen Ausschau zu halten, fand dort aber keine Ruhe, weil der Wasserkocher zu laut pfiff, so dass er weiterging in die Speisekammer. Das passte aber auch nicht, dort war es zu eng durch die übervollen, blechernen Kohleeimer, das Bad wiederum zu stickig, wie immer. Gezwungenermaßen kehrte er zurück ins Wohnzimmer.
Dort fiel ihm sofort wieder ein, wie seine Gruppe den Busfahrer angefeuert hatte, die anderen Busse zu überholen. Und es hatte tatsächlich funktioniert. Ihr Bus kam als einer der ersten bei der Fabrik an, spätabends zwar, aber sie hatten das Rennen gewonnen und lagen sich bei der Ankunft fröhlich in den Armen.
Die zweite Hälfte der Sommerferien hätte er mit seinen Eltern verbringen sollen. Doch warteten sie nicht an der Bushaltestelle, wie sie es ihm versprochen hatten, oder hatten sie ihm das gar nicht versprochen?
Er wusste es nicht mehr. Die Babciaholte ihn ab, und er ging sofort schlafen, weil ihm von der Busfahrt noch übel war.
Am nächsten Morgen riefen sie an, das war ein Sonntag, so wie heute, riefen sie immer sonntags an?
Aufgeregt wartete er, bis die Babciaihm endlich den Hörer reichte.
»Wo seid ihr?«, fragte er.
»In Deutschland«, antwortete die Mutter und fügte hinzu, er solle tapfer sein und gut in der Schule und immer seine Hausaufgaben machen und auf die Babcia hören, und, und, und . Während im Fernseher einmal mehr seine Kindersendung unterbrochen wurde und General Jaruzelski etwas von Essensmarken, Mangelware und Solidarität stammelte, während die Babciaheulte und nicht heulte und alles auf einmal und gleichzeitig und immer so weiter und immer wieder von vorne.
»Nein, das ist nicht wahr! An den Anruf kann ich mich nicht erinnern«, sagte er zur Großmutter.
»Sprich selbst mit ihnen, wenn du es nicht glaubst«, antwortete sie.
Hatte die Babcia ihm damals den Hörer ans Ohr gehalten, so wie jetzt? Er wollte sie aber nicht sprechen. Warum eigentlich nicht?
»Es ist immer das Gleiche, erst fordert er sofort den Hörer, und am Ende will er doch nicht mit dir sprechen«, sagte die Großmutter zu ihrer Tochter am deutschen Ende der Leitung.
Oder hatten sie gar nicht angerufen?
»Die Bücher für die 2. Klasse habe ich mir schon längst besorgt«, hörte er sich am Telefon seiner Mutter erklären. »Und außerdem haben die Bestien Wojtek und Pawel euer Hochzeitsbuch, das jetzt mein Buch ist, das brauche ich wieder, bevor ich zu euch in die RFN dazustoßen kann. Nein, ich kann hier gerade einfach nicht weg. Ich komme nach, versprochen.«
Hatte er diese Sätze wirklich gesagt oder gerade erfunden? Erinnerte er nur seine Erfindungen? Wie wahrscheinlich waren erfundene Erinnerungen? Kamen sie der Wahrheit so nah, als wäre es in echt so passiert? Zumindest besser, als keine Erinnerungen zu haben, tröstete er sich.
Babcia-Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung, wusste auch keine Antwort, oder sie verschwieg ihm etwas.
Mit einem Ohr bekam er aber mit, dass Radek den Eltern das Dienstgradheft eingeschweißt zwischen zwei Seiten eines Buches an die Grenze bringen sollte, versteckt in einem größeren Päckchen mit Essenszeug und Diplomen und anderem Identitätskram, damit das Buch nicht so wichtig wirkte. Im Gegenzug würde er ein Päckchen für sie bekommen. Der Grieche Ilias, der immer »essen, essen, gruba dupa, dicker Arsch« sage, lachte die Mutter, ein Freund mit einem Restaurant, bei dem sie schwarz in der Küche arbeite von 20 Uhr bis spät in die Nacht, würde das Buch entgegennehmen. Ilias sei gerade in Polen. Es sei sehr wichtig, dass das jetzt klappe, sonst bekämen sie am Ende doch kein Asyl und Schwierigkeiten mit der Arbeitserlaubnis, und die brauchten sie dringend, denn sie hätten überhaupt kein Geld, so die Tochter der Großmutter, als ginge es um Leben und Tod.
Einen Moment lang befürchtete er, dass sie das Hochzeitsbuch als Versteck nehmen wollten und das Spiel mit Marysia auffliegen würde. Aber dann wählten sie für den gefährlichen Transport der Papiere glücklicherweise das polnische Kochbuch, kuchniapolska.
»Ich hoffe, du bist ähnlich einfallsreich, wenn es um die Ausreise deines Sohnes geht«, merktedieBabcia an.
Er hingegen stellte sich vor, wie er in der nächsten Zeit ganz wenig essen und schrumpfen und ganz flach werden würde, damit er anstatt der Papiere zwischen die Seiten eines Buches geklebt werden könnte. Natürlich, es müsste ein größeres als ein normales Buch sein, vielleicht eine riesengroße Bibel oder ein überdimensionales Hochzeitsbuch, vielleicht gab es das tatsächlich als eine Art polnische Sonderausgabe und als Geschenk für die Fahnenflüchtigen, damit sie Polen nicht...
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