Schweitzer Fachinformationen
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Felix rannte hektisch schnaufend zwischen Wohnzimmer und Badezimmer hin und her. »Kann ich das anziehen?« Er zupfte an einem Hemd, welches ihm eindeutig zu groß war. »Also so generell und überhaupt. Oder doch das weiße Hemd? Ich weiß, du magst das weiße Hemd, aber ich finde, ich sehe dick darin aus. Zumindest dicker als im anderen.« Er hüpfte nur mit einer Socke am rechten Fuß, mit offener Hose und einem zerknitterten hellblauen Hemd, welches er in die Hose zu stecken versuchte, wieder ins Wohnzimmer. »Schau doch mal! Du schaust ja gar nicht. Ich bin wirklich dick geworden. Ich zieh den grauen Pulli noch darüber. Ist ja auch Winter, oder? Was meinst du, Liebling?«
Während er mit offener Hose wieder hinaushüpfte, ohne eine Antwort abzuwarten, schlug die große Wanduhr siebenmal.
»So eine Scheiße.« Er zuckte zusammen. »Sagt man nicht, weiß ich doch. Meine Jungs würden jetzt schimpfen.«
Seine Stimme wurde leiser, während er sich weiter entfernte, dann gab es einen lauten Schlag, dann einen dumpfen Aufprall. »Nichts passiert«, drang schmerzverzerrt seine Stimme durch die Tür.
Wanda seufzte. Sicherlich hatte er wieder den Staubsauger umgeworfen, der neben dem Regal im Bad stand.
Wahrscheinlich fällt der Staubsauger aus Schreck über seine Wortwahl schon um, wenn Felix nur in der Nähe ist.
Langsam fuhr sie mit der Hand über ihre raspelkurzen blonden Haare. Durch das sehr helle Blond wirkte es noch glatziger, wie sie es nannte. Sie hatte vor dem Abend überlegt, ob sie ihre Perücke aufziehen sollte, sich dann aber dagegen entschieden. Zusammen mit ihrer sorgsam gezüchteten sehr hellen, fast weißen Hautfarbe und ihrem fast knabenhaften, mageren Körper wirkte sie wie ein Geist.
Ein magischer Geist.
Dank der Chemotherapie hatte sie den Krebs besiegt, wenn auch nach einem harten Kampf. Sie war immer dünn gewesen, aber die Chemo hatte sie die zehn Kilo abnehmen lassen, die vorher Kurven und Weiblichkeit definiert hatten.
Wanda legte sehr viel Wert auf Optik und Kleidung, solange es nicht zu anstrengend war. Manchmal überlegte sie, ob das ihre estnische Herkunft oder einfach ein Klischee war.
Teure Kleidung und Glitzerschmuck?
Ja, gerne.
Ausgefallenes Make-up, das stundenlange Arbeit vorm Spiegel bedeutete?
Nein, vielen Dank.
Wer brauchte auch besonderes Make-up, wenn man von Natur aus etwas Besonderes war? Im Stehen wippte sie leicht auf den Zehenspitzen nach vorne und nach hinten. Auch nach über zwanzig Jahren sah man ihr die Ballettschule aus ihren Kinderzeiten noch an. Eleganz und Grazie waren das Hauptmerkmal jeder ihrer Bewegungen, auch wenn Training, jetzt, wo kein Zwang von außen mehr auf sie ausgeübt wurde, schon lange nicht mehr Teil ihres Lebens war.
Armu.
So hatte ihr Vater sie früher immer genannt. Armu. Estnisch für Grazie.
Wanda lächelte. Ihre spitzen Wangenknochen schoben sich durch das Lächeln etwas nach oben und steigerten den geisterhaften Eindruck noch.
Etwas zu ihrer Rechten zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, sie drehte knackend den Kopf, Knochen bewegte sich auf Knochen. War da eine Bewegung draußen gewesen? Hatte ihr Unterbewusstsein etwas wahrgenommen? Sie glaubte ihrem Unterbewusstsein. Immer und überall. Langsam trat sie ans Fenster und blickte hinaus.
Was ist das?
Ihr Blick suchte etwas, huschte durch das umfassende Dunkel.
Eine steile Falte erschien auf Wandas Stirn. Sie hätte schwören können, dass sie da draußen eine Bewegung gesehen hatte, zwischen den Bäumen. Etwas Großes, Dunkles.
Ein Mann?
Einer der Besucher? Das war möglich, aber sehr unwahrscheinlich. Der Blick vom Wohnzimmer ging nach hinten in den wilderen Teil des Gartens hinaus, alle Besucher kamen vorne an. Der Eingangsbereich war beleuchtet, das sollte niemand übersehen können.
Sie drückte ihr Gesicht näher ans Glas; durch das Licht im Zimmer und die Dunkelheit draußen war es schwer zu erkennen, aber sie hatte das Gefühl, dass sich da etwas bewegte, ein Schatten zwischen den Bäumen. Was war das? Vielleicht nur ein Tier? Ein kleiner Schwarm Raben? Raben waren neben Hirschen ihre Seelentiere.
Vielleicht überbringen sie mir einen Gruß aus der Anderswelt für meinen besonderen Abend.
Langsam drückte sie dem Fenster einen Kuss auf.
»Wanda, kommst du jetzt endlich? Mach dich bitte fertig. Mit allem jetzt. Was alles mit dazugehört. Du siehst natürlich toll aus, wie du jetzt aussiehst. Ganz egal, was du anziehst. Meine Mutter steht jede Sekunde in der Tür .«
Er steckte seinen Kopf durch die Tür und rieb sich eine rote Stelle an seiner Schläfe.
»'tschuldigung. Wollte dir keinen Befehl geben. 'tschuldigung.«
Weg war er wieder.
Mürrisch verzog Wanda die Mundwinkel und löste sich vom Fenster. Sie hasste Druck, und sie hasste es, gehetzt zu werden. War doch ihr Haus, und es hatte sicher niemand ein Problem damit, sie in Jogginghosen zu sehen. Oder eben nackt. Auch wenn sie natürlich deutlich besser in ihrem schwarzen Kleid mit den Nieten und Schnallen aussah. Sie mochte ihre spirituelle Seite und die Gothic-Szene, und diese Kombination durfte man sehen.
So!
Sie ging durch das Wohnzimmer zum Flur, die Treppe hinauf ins gemeinsame Schlafzimmer, ließ auf der Treppe ihre Jogginghose und den weiten Pullover fallen und suchte ihr schwarzes enges Kleid mit den silbernen Schnallen im Kleiderschrank.
Nicht silbern. Mondlichtfarben. Und mal ohne BH heute.
Felix schnaufte und merkte, dass er wieder anfing zu schwitzen. Eilig klaubte er die fallen gelassene Kleidung seiner Verlobten auf und warf sie in den Wäschekorb. Je entspannter seine Partnerin wurde, desto angespannter war er. Und der Gedanke an die harte Zeit, die hinter ihnen lag, ließ seine stechenden Magenschmerzen wieder aufflammen.
Als ob mir jemand ein Messer in den Leib sticht und es rumdreht.
Mit einer Hand strich er sanft über seinen Magen, als die Erinnerungen wieder hochkamen. Wanda und er waren nach einem großen Streit ein Vierteljahr - ganz genau zweiundneunzig Tage - getrennt gewesen, daher wusste er nicht genau, wann ihre Magenschmerzen angefangen hatten. Natürlich war sie nicht zum Arzt gegangen, sondern hatte einfach normal weitergemacht.
»Ist von allein gekommen, wird von allein auch wieder weggehen.«
Als er sie endlich zum Arzt geschleppt hatte, hatte der Krebs schon gestreut. Und als sie sich dann zu einer Therapie samt Chemo und Bestrahlung durchgerungen hatte, wollte sie unbedingt vorher noch mal Urlaub im Norden machen. »Um genug Kraft zu tanken.«
Felix fuhr sich mit der Hand über die Stirn, sie war nass. Wie sagte sein Therapeut immer so schön? »Herr Knaut, Sie können nicht den Stress für sich UND für Ihre Frau übernehmen. Lassen Sie den Stress Ihrer Frau auch bei ihr.«
Den Stress bei ihr lassen. Guter Witz, Herr Therapeut.
Wenn er den Stress bei ihr ließ, war er einfach für sie nicht mehr da. Dann ging sie einfach tagelang nicht aus dem Haus, rief bei Ärzten nicht zurück und ignorierte Briefe und Rechnungen. »Das Universum kümmert sich um mich«, sagte sie dann.
Beim ersten Besuch nach der Trennung hatte er siebenundzwanzig ungeöffnete Briefe in ihrer Wohnung gefunden.
Ohne Agatha und ihn wäre Wanda sicher nicht mehr hier. Dafür war sie zwar dankbar, doch glaubte er nicht, dass sie wirklich wusste, was der Stress, die Trauer, die Verlustangst, insgesamt die ganze Angst wirklich für ihn und insbesondere für Agatha bedeutet hatten. Aga hatte über viele Wochen kaum geschlafen, kaum gearbeitet, nur Paper und Artikel gelesen, sich mit Ärzten unterhalten, in Laboren angerufen, alles, wirklich alles (alles!) Menschenmögliche und Unmögliche getan, um Wanda zu retten.
Felix' Blick wanderte über das Regal zu seiner Linken. Wanda hatte nach ihrer Erkrankung eine ganze Apotheke an Medikamenten nehmen müssen. Alle mit unaussprechlichen Namen, sehr viele »x« und »lis« und »angs«. Er hatte das alles gelernt, wusste genau, welche Medikamente in welcher Dosis mit welchen Effekten eingenommen werden mussten. Das war nicht einfach, unter Stress fielen ihm manchmal Wörter nicht mehr richtig ein. Auf einigen Verpackungen hatte er mit einem Kugelschreiber Anmerkungen der Ärzte geschrieben.
Seine müden Augen blickten ihn aus dem Spiegel an. Zwei unterschiedliche Augen warfen den Blick zurück. Sein linkes Auge war blau, sein rechtes braun.
Heterochomos oder Heterochrimos. Wie hieß diese Augenerkrankung noch mal?
Er atmete tief ein, hielt kurz die Luft an und atmete dann schwer aus. Sie hatten den Kampf gewonnen, zu dritt, Agatha, er und seine Wanda gegen jede Wahrscheinlichkeit. Die Ärzte hatten Wanda abgeschrieben, das Hospiz schien die Endstation zu sein. Kaum ein Arzt wollte ihr noch eine Chance geben, geschweige denn operieren. Inkurabel hieß es dann.
Aber Aga hat dann doch einen Arzt gefunden.
Das Badfenster über dem Regal sprang...
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