Schweitzer Fachinformationen
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Sie saß auf der obersten Stufe der steinernen Treppe, kleine Kieselsteine auf der flachen Hand. Mit der anderen pickte sie wie ein Vogel einzelne Steine heraus und warf sie die Treppenstufen hinunter. Die meisten sprangen über die wenigen Stufen und blieben im Kies des Hofes liegen, nicht mehr unterscheidbar von denen, die schon dort lagen. Sie drehte nicht einmal den Kopf, als Agnes, ihre Schwester, hinter sie trat und eine Weile schweigend stehenblieb. Ohne sich umzuwenden, sagte sie, Wut in der Stimme:
»Da ist sie wieder mit ihrer braunen Tasche, und Mutter ist so müde und krank und jetzt bringt sie noch so ein schreiendes Bündel, wie im letzten Jahr und vor zwei Jahren! Wenn sie das nächste Mal kommt, schmeiß ich sie samt ihrer Tasche die Stiegen hinunter!«
Unbeweglich saß sie da, ihr magerer Körper drückte Spannung und Abwehr aus, sie blickte starr geradeaus. Die Schwester legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter: »Aber was! Die alte Stina mit ihrer Tasche bringt nicht das Kind, sondern Medizin, sie hilft der Mutter, das Kind auf die Welt zu bringen!«
Und aufmunternd, nach kleiner Pause: »Komm! Du musst mir helfen noch einen Topf Wasser auf den Herd zu stellen, die Stina braucht viel heißes Wasser.«
Wenn sie alle um den Tisch saßen, waren sie zehn ohne die Gesellen, die hatte der Vater nicht mehr, seit die älteren Buben groß genug waren, in der Mühle zu helfen. Die dampfende Schüssel mit Kraut und Knödeln stand in der Mitte des Tisches, der Vater nahm zuerst, dann die Söhne ihrem Alter nach, dann die Mutter und dann die Mädchen.
»Du hast wieder einmal nicht zugehört, du sollst noch einen Krug Wasser holen, hat die Mutter gesagt«, sagte Agnes und gab ihr einen aufmunternden Klaps auf die Schulter.
»Ja ja, unser Steffel stinkt nach Adel, die ist zur Arbeit nicht zu gebrauchen!«
Heute muss der Vater wohl ein gutes Geschäft gemacht haben, sonst hätte sie sicher die Rute zu spüren bekommen, dachte sie, während sie aufsprang und mit dem blauen Steingutkrug ans Fenster ging. Nun war sie groß genug, um mit Leichtigkeit den Krug in das vorbeischießende Wasser des Mühlbachs zu halten, sie wusste auch, wie sie den Krug neigen musste, damit das Wasser nicht wieder herausschoss. Als sie mit dem Krug zu ihrem Platz am Tisch zurückkam, saßen schon alle schweigend über ihre Teller gebeugt. Sie begann zögerlich den Knödel auf ihrem Teller zu zerteilen, führte einen Bissen zum Mund. Sie hoffte, dass es auch heute so wäre wie an vielen anderen Tagen. Die anderen würden ihr Mal rasch beendet haben.
Es war ihre Aufgabe und die ihrer Schwester, den Tisch abzuräumen und den Abwasch zu machen, so fiel es kaum auf, dass ihre Schwester den Teller für sie leer aß, denn: "Weggeworfen wird nichts in diesem Haus!", bestimmte der Vater. Seit sie denken konnte, verspürte sie Widerwillen gegen das eintönige und derbe Essen. Sie fühlte den besorgten Blick der Mutter, aber die sagte nichts, sie war mit den beiden Jüngsten beschäftigt, die wie Vogeljunge ihre kleinen Schnäbel aufhielten und vergnügt zwischen dem einen und anderen Löffel Milchbrei quietschten.
Als der richtige Doktor, nicht der fürs Vieh, vor wenigen Monaten vom Vater gerufen worden war, weil einer der Brüder mit einem schweren Getreidesack auf dem Rücken von der Leiter, die auf den Getreidespeicher führt, gestürzt war, hatte der Doktor ihm einen Verband angelegt und dem Bruder für gute zwei Wochen das Arbeiten verboten. Das hatte der Vater gar nicht gern gehört. Danach saß der Doktor noch eine Weile bei der Mutter in der Küche. Als sie ihm im Auftrag der Mutter einen Schnaps servierte, meinte der Doktor lächelnd: »Wo habt ihr denn dieses schöne Kind her?« »Ja«, meinte die Mutter, »unser Steffel schlägt ganz aus der Art. Sie spricht nicht viel, sie isst fast nichts, für die Arbeit hat sie zwei linke Hände, aber in der Schule hat sie bis heut immer nur die besten Noten bekommen!« »Dann werdet ihr die Stefanie wohl studieren lassen müssen, wenn sie gar so begabt ist!« »Eine Müllerstochter und studieren, das geht wohl nicht zusammen. Sie heißt Theres, Steffl nennen wir sie, seit sie so aufgeschossen ist. Über ihrem Bett hat sie eine Ansichtskarte vom Stephansdom in Wien aufgesteckt, die uns einmal ein Vetter schrieb.« »Ach so ist das mit dem Steffl«, meinte der Arzt während er sich lachend erhob und nach seiner Tasche griff.
Während dieses Gesprächs war sie abwartend in der Küche gestanden, ganz in der Nähe der Tür, so dass sie hätte hinausschlüpfen können, aber das wollte sie doch nicht. Dass der Doktor sich für sie interessierte, erfüllte sie mit Stolz.
Er war schon beinahe an ihr vorbei, als er stehenblieb und nochmals die Tasche abstellte, seine kühle, trockene Hand um ihr Kinn legte und sie vorsichtig ans Fenster dirigierte. Mit einer kurzen Bewegung zog er an ihrem Unterlid und sagte über die Schulter zur Mutter: »Blutarm ist das Kind, schauen Sie, Müllerin, dass sie öfters Fleisch und Eier zu essen bekommt!« Dann zwinkerte er ihr aufmunternd zu, kniff sie leicht in die Wange und wandte sich zum Gehen. Als sich die Tür hinter ihm schloss, meinte die Mutter halblaut: »Fleisch und Eier, so leicht haben wir es auch nicht herzunehmen .« Es klang müde und resiginiert.
Ganz aufrecht saß sie auf ihrem Sitz im Zugabteil, neben dem Fenster, vorerst der einzige Fahrgast im Abteil. Der Zug ratterte aus dem Provinzbahnhof hinaus. Ihre erste längere Reise. Der Bruder hatte sie zum Bahnhof gebracht und auch ihren Koffer in die Gepäcksablage gehievt, für ihn eine Kleinigkeit, der Koffer wog nicht halb so viel wie ein voller Getreidesack.
"Wenn ich aber ankomme und Hans nicht am Bahnhof ist, es könnte ja sein, dass er im letzten Moment in der Kaserne zurückgehalten wird, wie soll ich dann mit meinem Gepäck zurechtkommen?" Es gibt Dienstmänner, das wusste sie, aber sie hatte keine Erfahrung im Umgang mit fremden Dienstboten.
"Tief durchatmen, den Blick geradeaus, mit deinem besonnenen Kopf meisterst du jede noch so schwierige Situation, dass weiß ich, Theres!", hörte sie die Stimme des Oberlehrers, und ein zuversichtliches Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Sie war schon seit einigen Jahren ausgeschult, aber der Lehrer hat so lange auf ihre Eltern eingeredet, bis der Vater zustimmte, sie durfte einmal in der Woche für zwei Stunden zum Herrn Lehrer, der führte sie in die Arithmetik und Geometrie ein und gab ihr Bücher zum Lesen, über die er dann in der nächsten Stunde mit ihr sprach. Die Mutter gab ihr jedes Mal ein Säckchen mit bestem Weißmehl mit. Gut zwei Jahre ging das so, dann fand der Lehrer, er habe ihr genug beigebracht, dass sie als Kassierin in jedem besseren Geschäft in der Stadt eine Anstellung finden könne. Und so war es auch.
Die Chefin verhielt sich allen Angestellten gegenüber freundlich, doch sachlich distanziert, aber ihr gegenüber war sie eine Spur herzlicher, grad so viel, dass es die anderen nicht merkten, es zu keinen Eifersüchteleien kam. Aber Theres spürte es und war glücklich. Ihre Chefin war es, die in kleinen aufmunternden Nebensätzen sie auf ihr Äußeres ansprach, sie anhand locker drapierter Stoffbahnen darauf aufmerksam machte, welche Farben ihrem durchsichtig blassen Gesicht mit den grauen Augen schmeichelten. Es war wie eine Befreiung, sie fühlte sich glücklich. Als sie um die Weihnachtszeit nach vielen Monaten zum ersten Mal zurück ins Dorf kam, wählte sie wieder ihr schlichtes Kleid, sie wollte den Eltern gegenüber nicht putzsüchtig erscheinen, nur auf den kleinen Steckkamm aus Perlmutt wollte sie nicht verzichten, der war ein Geschenk der Chefin, die meinte, ihr schweres kastanienbraunes Haar würde mit diesem Kamm noch mehr leuchten.
Eigentlich fühlte sie sich in der Stadt immer noch fremd und ein wenig verloren. Aber heute ist es anders, ihr ist so leicht zu Mute, am liebsten würde sie die Arme ausbreiten und mit geschlossenen Augen einfach losrennen, so wie als Kind, in der Überzeugung, ihre Füße müssten sich vom Boden lösen und sie könnte den Schwalben gleich durch die Luft segeln. Ein Lächeln trägt sie durch die Straßen, zwei Herren, die ihr entgegenkommen, haben mit eleganter Geste den Hut gelüftet, so als würden sie sie kennen, aber diese überraschende Ehrerbietung gilt wohl dem strahlenden Lächeln.
Katharina, die junge Kollegin aus dem Geschäft, mit der sie am Sonntag manchmal auf dem Corso den Fluss entlang spazieren geht, meinte ein wenig neidisch, Theres wirke so städtisch, die Herkunft vom Lande würde man ihr nicht anmerken.
Wie schon oft, erwiderte Theres nicht viel auf dieses leichthin eingeworfene Wort, lächelte und dachte an Hans. Er kam ja so selten für ein paar Stunden aus der Kaserne, aber erst kürzlich hatte er zwei Karten besorgt für das Konzerthaus.
Theres war aufgeregt und gespannt,...
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