Vitalität und ihr Widerspiel
Inhaltsverzeichnis Ich wünsche lange, sehr lange zu leben, und der Gedanke an den Tod erfüllt mich mit einer kindlichen poetischen Scheu.
Jugendbrief
Elementare Gesundheit. Der Körper gezimmert für ein Jahrhundert. Feste markdurchsättigte Knochen, knorrige Muskeln, wirkliche Bärenkraft: auf dem Boden liegend, kann der junge Tolstoi einen schweren Soldaten mit einer Hand in die Luft stemmen. Elastische Sehnen: ohne Anlauf überspringt er turnerisch leicht die höchste Schnur, er schwimmt wie ein Fisch, reitet wie ein Kosak, mäht wie ein Bauer - Müdigkeit kennt dieser eiserne Leib nur vom Geistigen her. Jeder Nerv straff bei äußerster Vibrationsfähigkeit, gleichzeitig biegsam und hart wie eine Toledaner Klinge, jeder Sinn helltönig und flink. Nirgendwo eine Bresche, eine Lücke, ein Riß, ein Manko, ein Defekt im Ringwall der Lebenskraft, und niemals gelingt darum ernstlicher Krankheit je Einbruch in den gequaderten Leib: Tolstois unglaubhafte Physis bleibt verbarrikadiert gegen jede Schwäche, vermauert gegen das Alter.
Vitalität ohne Beispiel: alle Künstler der Neuzeit erscheinen neben dieser bartrauschend biblischen, dieser bäurisch-barbarischen Männlichkeit wie Weiber oder Weichlinge. Selbst die ihm nahe kamen an Dauer des Schöpferischen bis in patriarchalische Zeit, selbst ihnen altert müde der Körper unter dem ausfahrenden jägerischen Geist. Goethe (ihm horoskopisch bruderhaft durch denselben Lebenstag, den 28. August, und durch schaffende Weltsicht bis ins gleichfalls dreiundachtzigste Jahr), Goethe, er sitzt mit sechzig, längst winterscheu und verfettet, bei ängstlich verschlossenem Fenster, Voltaire kritzelt, verknöchert und mehr schon ausgebälgter böser Vogel als Mensch, am Schreibpult Papier um Papier, Kant klappert steif und mühsam, eine mechanische Mumie, seine Königsberger Allee entlang, da jener, Tolstoi, der strotzende Greis, den rotgefrorenen Leib noch prustend ins Eiswasser taucht, im Garten robotet und beim Tennis flink hinter den Bällen flitzt. Den Siebenundsechzigjährigen verlockt noch die Neugier, Radfahren zu lernen, mit Siebzig saust er in Schlittschuhen über die spiegelnde Bahn, mit Achtzig spannt er tagtäglich die Muskeln in turnerischer Bemühung; und zweiundachtzigjährig, einen Zoll vor dem Tode, zuckt er seiner Stute noch sausend die Peitsche über, wenn sie nach zwanzig Werst scharfen Galopps anhält oder bockt. Nein, vergleichen wir nicht: das neunzehnte Jahrhundert weiß kein Widerspiel ähnlich urweltlicher Vitalität.
Schon reichen die Wipfel in die Himmel der Patriarchenjahre, und noch ist keine Wurzel gelockert an dieser bis zur letzten Faser mit Saft durchströmten russischen Rieseneiche. Scharf das Auge bis zur Todesstunde: vom Pferd aus verfolgt der neugierige Blick den winzigsten Käfer, der aus den Borken kriecht, ohne Fernglas den Falken im Flug. Hellhörig das Ohr, lustsaugend die breiten, fast tierischen Nüstern: eine Art Trunkenheit überkommt den pilgernden Weißbart noch immer im Frühjahr, wenn plötzlich der scharfe Dung, vermengt mit dem Ruch auftauender Erde, ihn durchdringt, und achtzig einstige Frühlinge spürt er noch deutlich erinnernd, jeden mit seinem bestimmten Aufschwall, seinem ersten ausströmenden Wurf in diesem einen Duftandrang; so stark, so erschütternd spürt er's, daß die Lider ihm plötzlich überströmen. Quer und schwer durch den nassen Boden stapfen in pfundwuchtigen Bauernstiefeln die sehnigen Weidmannsbeine des Greises, nie entnervt sich die Hand im Zittern des Alters, die Schrift seines Abschiedsbriefes zeigt keine andern Lettern als die großen kindlichen der Knabenjahre. Und herrlich unerschüttert wie seine Sehnen und Nerven bewährt sich der Geist: noch überspielt sein Gespräch alle andern, ein unheimlich präzises Gedächtnis besinnt jedes verlorene Detail. Noch zuckt bei jedem Widerspruch dem Uralten Zorn in die Brauen, noch rundet Lachen ihm dröhnend die Lippe, noch formt sich bildnerisch die Sprache, noch strömt bedrängend das Blut. Als dem Siebzigjährigen bei einer Diskussion über die »Kreutzersonate« jemand vorwirft, in seinem Alter habe man es leicht, die Sinnlichkeit abzuschwören, da blitzt stolz und zornig das Auge des knorrigen Greises, dies sei nicht richtig, »das Fleisch ist noch mächtig, noch muß ich kämpfen und ringen«.
Nur eine so unerschütterliche Vitalität erklärt ein dermaßen unermüdbares Schöpfertum: kein einziges wirklich braches Jahr steht leer inmitten der sechzig seines Weltwerkes. Denn nie ruht sein bildnerischer Geist, nie schläft oder dämmert behaglich dieser herrlich wache und regsame Sinn. Wirkliches Kranksein kennt Tolstoi bis ins Alter nicht, Müdigkeit ficht den Zehnstundenarbeiter nie ernstlich an; niemals bedürfen die Sinne, die allzeit paraten, einer Steigerung. Nie benötigen sie einer Stimulierung durch Reizmittel, durch Wein oder Kaffee; nie heizt er sich ein durch Feuriges oder Fleischgenuß - im Gegenteil: so gesund, so prall gespannt, so randvoll strotzen diese zuchtvollen Sinne, daß ein allerleisestes Berühren sie schon ins Schwingen, ein Tropfen schon zum Überschwellen bringt. Bei all seiner massiven Gesundheit ist Tolstoi gleichzeitig ein »Dünnhäuter« - wie wäre er Künstler sonst ohne diese höchste Irritabilität! -, nur behutsam darf die Klaviatur seiner durchaus gesunden Nerven angetastet werden, denn gerade die Vehemenz ihres Rückschlags macht jede Emotion zur Gefahr. Darum fürchtet er (ganz wie Goethe, wie Plato) die Musik, denn sie erregt zu stark die geheimnisvoll tiefe Woge seines Gefühls. »Musik wirkt furchtbar auf mich«, bekennt er, und wirklich, indes seine Familie freundlich zuhörend um das Klavier sitzt, beginnt es unheimlich um seine Nüstern zu zucken; die Brauen ziehen sich abwehrend zusammen, er empfindet »einen sonderbaren Druck im Halse« - und plötzlich wendet er sich brüsk ab und geht zur Tür hinaus, denn die Tränen strömen ihm über. »Que me veut cette musique«, sagt er einmal, ganz erschrocken von seiner eigenen Überwältigung. Ja, er spürt, sie will etwas von ihm, sie droht etwas aus ihm herauszuholen, das er entschlossen ist nie herzugeben; etwas, was er versteckt hält ganz unten im Geheimschrank der Gefühle, und nun quillt das auf in mächtiger Gärung und droht die Dämme zu überschwellen. Irgendein Übergewaltiges, vor dessen Kraft und Übermaß er sich fürchtet, beginnt sich zu regen, widerwillig spürt er sich tief innen, ganz tief innen, von der Woge der Sinnlichkeit angefaßt und in abwegige Strömung gerissen. Er aber haßt (oder er fürchtet) um eines wahrscheinlich nur ihm bekannten Übermaßes willen die eigene Blutüberfüllung: darum verfolgt er ja auch »das« Weib mit einem für einen gesunden Menschen unnatürlichen, anachoretischen Haß. »Unschädlich« erscheint die Frau ihm nur, »solange sie von den Aufgaben der Mutterschaft erfüllt ist, im Stande der Sittsamkeit oder in der Vénérabilité des Alters« - also jenseits der Geschlechtlichkeit, die er »als eine schwere Schuld des Leibes sein ganzes Leben empfunden hat«. Das Weib wie die Musik bedeuten diesem Antigriechen, diesem künstlichen Christen, diesem Gewaltmönch das Böse schlechthin, weil beide durch Sinnlichkeit »von den uns angeborenen Eigenschaften des Mutes, der Entschlossenheit, der Vernunft, des Gerechtigkeitsgefühls« ablenken, weil sie uns, wie Pater Tolstoi später predigen wird, »zur Sünde der Fleischlichkeit« führen. Auch die Frauen »wollen etwas von ihm«, das er sich herzugeben weigert; auch sie rühren an etwas Gefährliches, das er aufzuwecken sich fürchtet - und was, dies zu erraten, gehört nicht viel Geist: an seine eigene ungeheuerliche Sinnlichkeit. Musik - da lockert sich das Band des Willens: schon reckt »das Tier« sich auf. Die Frauen - schon röhrt das blutgierige Geheul der Meute und rüttelt an den eisernen Gitterstäben. Nur an Tolstois rasender Mönchsangst, an seinem zelotischen Schauer selbst vor der gesundheiteren, nackt-natürlichen Sinnlichkeit kann man die verborgen panische Männischkeit, die Tiermenschenbrunst in ihm ahnen, die in der Jugend sich noch frei in wildesten Exzessen austobte - einen »unermüdlichen Hurer« nennt er sich Tschechow gegenüber -, um dann gewalttätig durch fünfzig Jahre in Kellergewölben vermauert zu bleiben, vermauert, aber nicht begraben; daß dieses Übergesunden Sinnlichkeit lebenslang ein Übermaß blieb, hat in seinem streng sittlichen Werk nur eines verraten: eben diese seine Angst, seine wüstenväterische, überchristliche, gewaltsam die Augen wegdrehende, polternde Angst vor »dem Weibe«, vor der Versucherin - in Wahrheit aber vor dem eigenen und anscheinend maßlosen Gelüst.
Immer fühlt man das und überall: vor nichts fürchtet sich Tolstoi mehr als vor sich selbst, vor seiner Bärenkraft. Dem manchmal trunkenen Glück über seine Übergesundheit schattet unaufhaltsam ein Grauen vor dem Tierisch-Hemmungslosen der Sinne nach. Gewiß hat er sie gebändigt wie kein zweiter, aber er weiß: man ist nicht ungestraft Russe, also Volksmensch des Übermaßes, Fanatiker der Exzesse, Knecht der Extreme. Darum müdet seine Willensklugheit den eigenen Körper nieder, darum beschäftigt er ständig die Sinne, läßt sie auslaufen, gibt ihnen ungefährliche Spiele, Luftfutter und Lustfutter. Er rackert die Muskeln ab durch berserkerische Anstrengung mit Sense und Pflug, macht sie matt durch gymnastische Spiele; um sie zu entgiften, sie unschädlich zu machen, drängt er seine Kraftgefahren aus dem privaten Leben hinaus in die Natur, und dort entströmt dann überschwenglich, was im Binnendasein der Wille energisch verhält. Seiner Leidenschaften Leidenschaft war darum die Jagd: da können alle Sinne sich ausschwelgen, die hellen...