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Toto«, lachte Owuor, als er Regina aus dem Auto hob. Er warf sie ein kleines Stück dem Himmel entgegen, fing sie wieder auf und drückte sie an sich. Seine Arme waren weich und warm, die Zähne sehr weiß. Die großen Pupillen der runden Augen machten sein Gesicht hell, und er trug eine hohe, dunkelrote Kappe, die wie einer jener umgestülpten Eimer aussah, die Regina vor der großen Reise im Sandkasten zum Kuchenbacken genommen hatte. Von der Kappe schaukelte eine schwarze Bommel mit feinen Fransen; sehr kleine schwarze Locken krochen unter dem Rand hervor. Über seiner Hose trug Owuor ein langes weißes Hemd, genau wie die fröhlichen Engel in den Bilderbüchern für artige Kinder. Owuor hatte eine flache Nase, dicke Lippen und einen Kopf, der wie ein schwarzer Mond aussah. Sobald die Sonne die Schweißtropfen auf der Stirn glänzen ließ, verwandelten sie sich in bunte Perlen. Noch nie hatte Regina so winzige Perlen gesehen.
Der herrliche Duft, der Owuors Haut entströmte, roch wie Honig, verjagte Angst und ließ ein kleines Mädchen zu einem großen Menschen werden. Regina machte ihren Mund weit auf, um den Zauber besser schlucken zu können, der Müdigkeit und Schmerzen aus dem Körper trieb. Erst spürte sie, wie sie in Owuors Armen stark wurde, und dann merkte sie, dass ihre Zunge fliegen gelernt hatte.
»Toto«, wiederholte sie das schöne, fremde Wort.
Sanft stellte sie der Riese mit den mächtigen Händen und der glatten Haut auf die Erde. Er ließ ein Lachen aus der Kehle, das ihre Ohren kitzelte. Die hohen Bäume drehten sich, die Wolken fingen an zu tanzen, und schwarze Schatten jagten sich in der weißen Sonne.
»Toto«, lachte Owuor wieder. Seine Stimme war laut und gut, ganz anders als die der weinenden und flüsternden Menschen in der großen grauen Stadt, von der Regina nachts träumte.
»Toto«, jubelte Regina zurück und wartete gespannt auf Owuors sprudelnde Fröhlichkeit.
Sie riss die Augen so weit auf, dass sie glitzernde Punkte sah, die im hellen Licht zu einem Ball aus Feuer wurden, ehe sie verschwanden. Papa hatte seine kleine, weiße Hand auf Mamas Schulter gelegt. Das Wissen, wieder Papa und Mama zu haben, erinnerte Regina an Schokolade. Erschrocken schüttelte sie den Kopf und spürte sofort einen kalten Wind auf der Haut. Ob der schwarze Mann im Mond nie mehr lachen würde, wenn sie an Schokolade dachte? Die gab es nicht für arme Kinder, und Regina wusste, dass sie arm war, weil ihr Vater nicht mehr Rechtsanwalt sein durfte. Mama hatte ihr das auf dem Schiff erzählt und sie sehr gelobt, weil sie alles so gut verstanden und keine dummen Fragen gestellt hatte, doch nun, in der neuen Luft, die gleichzeitig heiß und feucht war, konnte sich Regina nicht mehr an das Ende der Geschichte erinnern.
Sie sah nur, dass die blauen und roten Blumen auf dem weißen Kleid ihrer Mutter wie Vögel umherflogen. Auch auf Papas Stirn leuchteten winzige Perlen, nicht so schön und bunt wie auf Owuors Gesicht, aber doch lustig genug, um zu lachen.
»Komm, Kind«, hörte Regina ihre Mutter sagen, »wir müssen sehen, dass du sofort aus der Sonne kommst«, und sie merkte, dass ihr Vater nach ihrer Hand griff, doch die Finger gehörten ihr nicht mehr. Sie klebten an Owuors Hemd fest.
Owuor klatschte in die Hände und gab ihr die Finger zurück.
Die großen schwarzen Vögel, die auf dem kleinen Baum vor dem Haus gehockt hatten, flogen kreischend zu den Wolken, und dann flogen Owuors nackte Füße über die rote Erde. Im Wind wurde das Engelshemd eine Kugel. Owuor weglaufen zu sehen, war schlimm.
Regina spürte den scharfen Schmerz in der Brust, der immer vor einem großen Kummer kam, aber sie erinnerte sich rechtzeitig, dass ihre Mutter gesagt hatte, sie dürfe in ihrem neuen Leben nicht mehr weinen. So kniff sie die Augen zu, um die Tränen einzusperren. Als sie wieder sehen konnte, kam Owuor durch das hohe, gelbe Gras. In seinen Armen lag ein kleines Reh.
»Das ist Suara. Suara ist ein Toto wie du«, sagte er, und obwohl Regina ihn nicht verstand, breitete sie die Arme aus. Owuor gab ihr das zitternde Tier. Es lag auf dem Rücken, hatte dünne Beine und so kleine Ohren wie die Puppe Anni, die nicht mit auf die Reise hatte kommen dürfen, weil kein Platz mehr in den Kisten gewesen war. Noch nie hatte Regina ein Tier angefasst. Aber sie spürte keine Angst. Sie ließ ihr Haar über die Augen des kleinen Rehs fallen und berührte seinen Kopf mit ihren Lippen, als hätte sie schon lange danach verlangt, nicht mehr nach Hilfe zu rufen, sondern Schutz zu geben.
»Es hat Hunger«, flüsterte ihr Mund. »Ich auch.«
»Großer Gott, das hast du in deinem ganzen Leben nicht gesagt.«
»Mein Reh hat das gesagt. Ich nicht.«
»Du bringst es hier noch weit, scheue Prinzessin. Du redest jetzt schon wie ein Neger«, sagte Süßkind. Sein Lachen war anders als das von Owuor, aber auch gut für die Ohren.
Regina drückte das Reh an sich und hörte nichts mehr als die regelmäßigen Schläge, die aus seinem warmen Körper kamen. Sie machte ihre Augen zu. Ihr Vater nahm das schlafende Tier aus ihren Armen und gab es Owuor. Dann hob er Regina hoch, als sei sie ein kleines Kind, und trug sie ins Haus.
»Fein«, jubelte Regina, »wir haben Löcher im Dach. So etwas hab ich noch nie gesehen.«
»Ich auch nicht, bis ich herkam. Warte nur ab, in unserem zweiten Leben ist alles anders.«
»Unser zweites Leben ist so schön.«
Das Reh hieß Suara, weil Owuor es am ersten Tag so genannt hatte. Suara lebte in einem großen Stall hinter dem kleinen Haus, leckte mit warmer Zunge Reginas Finger ab, trank Milch aus einer kleinen Blechschüssel und konnte schon nach einigen Tagen an zarten Maiskolben kauen. Jeden Morgen machte Regina die Stalltür auf. Dann sprang Suara durch das hohe Gras und rieb bei der Heimkehr den Kopf an Reginas braunen Hosen. Sie trug die Hosen seit dem Tag, an dem der große Zauber begonnen hatte. Wenn abends die Sonne vom Himmel fiel und die Farm in einen schwarzen Mantel hüllte, ließ sich Regina von ihrer Mutter die Geschichte von Brüderchen und Schwesterchen erzählen. Sie wusste, dass sich auch ihr Reh in einen Jungen verwandeln würde.
Als Suaras Beine länger waren als das Gras hinter den Bäumen mit den Dornen und Regina schon die Namen von so vielen Kühen kannte, dass sie ihrem Vater beim Melken sagen musste, wie sie hießen, brachte Owuor den Hund mit weißem Fell und schwarzen Flecken. Seine Augen hatten die Farbe heller Sterne. Die Schnauze war lang und feucht. Regina schlang ihre Arme um den Hals, der so rund und warm war wie Owuors Arme. Mama rannte aus dem Haus und rief: »Du hast doch Angst vor Hunden.«
»Hier nicht.«
»Den nennen wir Rummler«, sagte Papa mit einer so tiefen Stimme, dass Regina sich verschluckte, als sie zurücklachte.
»Rummler«, kicherte sie, »ist ein schönes Wort. Genau wie Suara.«
»Rummler ist aber Deutsch. Dir gefällt doch nur noch Suaheli.«
»Rummler gefällt mir auch.«
»Wie kommst du auf Rummler?« fragte Mama. »Das war doch der Kreisleiter in Leobschütz.«
»Ach, Jettel, wir brauchen unsere Spiele. Jetzt können wir den ganzen Tag Rummler, du Mistkerl, rufen und uns freuen, dass uns keiner verhaften kommt.«
Regina seufzte und streichelte den großen Kopf des Hundes, der mit seinen kurzen Ohren die Fliegen vertrieb. Sein Körper dampfte in der Hitze und roch nach Regen. Papa sagte zu oft Dinge, die sie nicht verstand, und wenn er lachte, kam nur ein kurzer heller Ton, der nicht wie Owuors Gelächter vom Berg zurückprallte. Sie flüsterte dem Hund die Geschichte vom verwandelten Reh zu, und er schaute in die Richtung von Suaras Stall und begriff sofort, wie sehr sich Regina einen Bruder wünschte.
Sie ließ sich vom Wind die Ohren streicheln und hörte, dass ihre Eltern immer wieder Rummlers Namen nannten, aber sie konnte sie nicht richtig verstehen, obwohl die Stimmen sehr deutlich waren. Jedes Wort war wie eine Seifenblase, die sofort platzte, wenn man nach ihr greifen wollte.
»Rummler, du Mistkerl«, sagte Regina schließlich, doch erst als die Gesichter ihrer Eltern so hell wurden wie Lampen mit einem frischen Docht, erkannte sie, dass die drei Worte ein Zauberspruch waren.
Regina liebte auch Aja, die kurz nach Rummler auf die Farm gekommen war. Sie stand eines Morgens vor dem Haus, als die letzte Röte vom Himmel verschwand und die schwarzen Geier auf den Domakazien den Kopf unter den Flügeln hervorholten. Aja war das Wort für Kinderfrau und schon deshalb schöner als andere, weil es sich ebenso gut vorwärts wie rückwärts sprechen ließ. Aja war, genau wie Suara und Rummler, ein Geschenk von Owuor.
Alle reichen Familien auf den großen Farmen mit tiefen Brunnen auf den Rasenflächen vor den mächtigen Häusern aus weißem Stein hatten eine Aja. Ehe Owuor nach Rongai gekommen war, hatte er auf so einer Farm bei einem Bwana gearbeitet, der sich ein Auto und viele Pferde hielt und natürlich eine Aja für seine Kinder.
»Ein Haus ohne Aja ist nicht gut«, hatte er an dem Tag gesagt, als er die junge Frau von den Hütten am Ufer des Flusses anbrachte. Die neue Memsahib, der er beigebracht hatte, »senta sana« zu sagen, wenn sie danken wollte, hatte ihn mit ihren Augen gelobt.
Ajas Augen waren so sanft, kaffeebraun und groß wie die von Suara. Ihre Hände waren zierlich und an den Innenflächen weißer als Rummlers Fell. Sie bewegte sich so schnell wie junge Bäume im Wind und hatte eine hellere Haut als Owuor, obgleich beide zum Stamm der Jaluo gehörten. Wenn der Wind an dem gelben Umhang riss, der an einem dicken Knoten...