Irrfahrt und Ende Piere Donchamps'
Die Tragödie Philippe Daudets
Dieser Pierre Bonchamps hat nur fünf Tage gelebt und niemals so geheißen: Usurpierter Name, hinter dem sich ein verwirrter, flüchtiger Knabe verbarg, Titel tiefer Tragödie, die einer der hitzigsten und leidenschaftlichsten Prozesse unserer Zeit nicht ganz zu enthüllen vermochte. Gerade aber das Unbegreifliche, Sinnlose und Undurchdringliche dieses Falles macht hier eine einzelne leidenschaftliche Pubertätskrise typisch für viele verborgene. Und es mag darum nicht zwecklos sein gegenüber allen politisch überhitzten Darstellungen, den Tatbestand jenes Prozesses leidenschaftslos in seiner erstaunlichen und doch präzisen Folge zu erzählen.
Am 20. November 1923 steht der vierzehneinhalbjährige Philippe Daudet, der Sohn des Deputierten und fanatischen Royalisten Léon Daudet, der Enkel Alphonse Daudets, zur gewohnten Morgenstunde auf, verläßt das Zimmer, in dem er mit seiner Mutter gemeinsam schläft und verabschiedet sich nicht auffälliger als sonst.
Aber statt seine Bücher zu nehmen, packt er einen Rucksack, statt in die Schule zu gehen, wo er tags zuvor eine unrichtige Lateinaufgabe dem Lehrer vorgelegt hatte, begibt er sich geradenwegs auf den Bahnhof Saint-Lazare, um nach Le Havre und von dort nach Kanada zu reisen. Seine ganze Habe besteht aus ein wenig Wäsche und aus 1700 Francs, die er dem elterlichen Schrank entwendet hat. In Le Havre steigt der flüchtige Gymnasiast in einem kleinen Hotel ab, schreibt sich unter dem Namen Pierre Bonchamps ein; von diesem Augenblick beginnt sein eigenes Leben, er ist nicht mehr der wohlbehütete, umschmeichelte Familiensohn Philippe Daudet, sondern irgend etwas Neues, Abenteuerliches, Selbständiges, das seinen Weg in die Welt beginnt. Aber bei dem ersten Schritt schon in die Wirklichkeit zerstößt er sich den Kopf. In der Schiffsagentur für Kanada erfährt er zu seinem Schrecken, daß die 1700 Francs bei weitem nicht für die Überfahrt ausreichen. Der frühere Philippe Daudet hat gelernt, griechische Verba zu konjugieren, weiß von Cäsar und Vercingétorix, kann mit Logarithmen rechnen und gute Aufsätze machen, aber wo hätte er's lernen sollen, daß zu einer Reise in die neue Welt Paß, Reiseausweis und Legitimation nötig sind, daß eine Summe, die gestern dem Schuljungen phantastisch erschien, heute dem Pierre Bonchamps nicht über das Meer hilft. Verstört kehrt er zurück in das kleine Hotel, die Welt hat ihn zurückgestoßen, zum erstenmal tut der romantisch umleuchtete Begriff Fremde sich ihm auf als ein Abgrund von Dunkelheit und Öde. In seiner Angst klammert er sich an den ersten besten, beginnt lange Gespräche mit dem Hausdiener, dem Stubenmädchen, die merkwürdige Sympathie mit diesem hochaufgeschossenen Jungen empfinden, aus dessen Fahrigkeit sie sofort ein Tragisches wittern. Abends schließt er sich ein in sein Zimmer, liest und schreibt. Am nächsten Tag, dem 21., dem zweiten seines neuen Lebens, geht er frühmorgens in die Kirche zur Messe (vielleicht ein letzter Versuch, von Gott ein Wunder zu erlangen), irrt dann in den Straßen am Hafen ziellos herum, kommt nachmittags wieder ins Hotel, liest und schreibt aufs neue, darunter einen Brief, den er wieder zerreißt. Am nächsten Morgen, am 22., dem dritten seines neuen Lebens, reist er ab, nachdem er zuvor seinem einzigen Freund, dem Hausknecht, die Hand geschüttelt und ihm gesagt hat, er möge die im Zimmer zurückgelassenen Bücher als Andenken behalten.
Etwas flackert in dem Benehmen des verängstigten jungen Burschen, das die braven Leute aufmerksam macht. Beim Aufräumen des verlassenen Zimmers finden sie im Papierkorb die Fetzen jenes zerrissenen Briefes. Aus Neugierde setzen sie die Fragmente wieder zusammen und lesen erschreckt:
»Geliebte Eltern, verzeiht mir, o verzeiht mir den ungeheuren Schmerz, den ich Euch getan habe. Ich bin ein Elender, bin ein Dieb, aber ich hoffe, daß meine Reue dies mein Vergehen gutmacht. Ich sende von dem Geld zurück, was ich noch nicht ausgegeben habe, und bitte Euch, mir zu verzeihen. Wenn Ihr den Brief empfangt, bin ich nicht mehr am Leben. Lebt wohl, ich verehre Euch mehr als alles, Euer verzweifeltes Kind Philippe.« Dazu noch ein kleiner Nachtrag: »Umarmt für mich Claire und Franz, aber sagt ihnen niemals, daß ihr Bruder ein Dieb war.«
Den braven Leuten zittert die Hand. Ihr erster Gedanke ist, zur Polizei zu laufen, um möglicherweise den Selbstmord zu verhindern oder die Adressaten zu verständigen. Aber die Adresse des Briefes jagt ihnen Schrecken ein. Leon Daudet ist weit über Paris hinaus gefürchtet wegen seiner aggressiven Art, berüchtigt wegen seiner Vehemenz, ein tödlicher Hasser - ihm mitzuteilen, daß sein Sohn ein Dieb sei, kann nur zu peinlichen Weiterungen führen. So verstecken sie den Brief. Und wie tausendmal in unserer Welt geht ein Mensch zugrunde wegen der Feigheit der andern, wegen ihrer Angst vor einer kleinen Unannehmlichkeit -, aus Trägheit des Herzens.
Warum ist Philippe entflohen, warum hat er das Vaterhaus verlassen, warum ist er Pierre Bonchamps geworden? War es Haß gegen den Vater, Krise der Nerven, Angst vor dem Lateinlehrer, Abenteuerlust - all dies gewohnte pathologische Motive der Pubertät? Kein Brief, kein Wort seines Tagebuches gibt deutlich Antwort. Aber etwas von den geheimnisvollen Verwirrungen seines Wesens offenbaren einige Aufzeichnungen, die er am Abend vor der Flucht mit ungelenker Kinderhand in ein blaues Schulheft einschrieb, das er dann knapp vor seinem Ende in Paris einem ihm zufällig Begegnenden schenkte. Es sind kleine Gedichte in Prosa, offenbar von Baudelaire inspiriert und ganz im Sinne des alten Satansmeisters >Les parfums maudits< genannt, Gedichte, literarisch kaum zu werten, aber merkwürdig die Verwirrtheit der Pubertät verratend. Drei dieser kleinen Gedichte will ich hierhersetzen.
»>Tochter des Nereus.< Wir haben zusammen in einer niederträchtigen Bude des Montmartre getanzt, und seitdem habe ich sie oft wiedergesehen. Sie ist nur eine Dirne, aber sie weiß es. Sie ist nicht schön, aber sie weiß es. Sie ist die Tochter eines früheren russischen Ministerpräsidenten, und wenn sie trunken ist von Tanz und Cocktails und Liebe, singt sie schöner als jemals Sirenen gesungen.
>Verlorene Mädchen.< Ich habe die Nacht mit verlorenen Mädchen verbracht. Ich habe ihre Gesichter vergessen, ich erinnere mich nur an ihre brutalen, so oft umfangenen Körper, aber doch Frauenkörper, und Villon sagt: »So sanft und rein ...«
>Abreise.< Meine Seele zittert vor Lust bei dem Gedanken an alles, was sie nun bald empfinden wird. Vor meinen Augen streift die Sonne der Provence vorbei, die schönen braunen Mädchen, die hellen und kühnen Männer und die dunklen Himmel des Nordens und der Schnee und die ewige Traurigkeit. Alles das werde ich erleben und muß nur die Saite in mir zum Erzittern bringen, die jeder Mensch in sich trägt, und werde glücklich sein, wenn dies möglich ist. Leb wohl, du altes Haus! Lebt wohl, meine Eltern! Niemand wird verstehen, warum ich fortgegangen bin, niemand wird die Empfindungen ahnen, die mich fortgetrieben haben. Zwei Tage noch, und wie der Vogel auf seinem ersten Flug reise ich dahin zu den fernen Ländern, zu neuen Gefühlen und in das Abenteuerliche hinein.«
»Niemand wird die Empfindungen ahnen, die mich weggetrieben haben ...« - es ist wahr geworden, dieses kleine Knabengedicht, und alle Prozesse können die Dunkelheit jenes von frühem Föhn aufgewühlten Kinderherzens nicht erhellen. Es ist grausam wahr geworden, dies kleine Gedicht.
Als diese Aufzeichnungen des Vierzehneinhalbjährigen im Verlauf (des???) Prozesses bekannt und veröffentlicht werden, fährt Leon Daudet, der Vater, erbittert empor. »Wie ist es möglich«, schreit er auf, »daß Philippe, mein Sohn, sein Manuskript einem ganz fremden Menschen gegeben hat, ein Manuskript, das er nicht einmal uns je gezeigt hatte?« Dieser Aufschrei ist so typisch für die Eltern, wie das Gedicht für das Kind. Gerade das Allerverständlichste können sie nicht verstehen, daß Kinder lieber jedem Fremden ihr Geheimnis ausliefern als dem Nächsten, und gegen keinen schamhafter sind als gegen das eigene Blut. Eben weil sie immer das eigene Kind in ihrem Kinde sehen, bleiben Eltern naturgemäß länger als die anderen blind für den neuen Menschen, der unter den vertrauten Zügen heimlich aufwächst, für den Doppelgänger in jedem Werdenden, für den Pierre Bonchamps, den Ausbrecher, den Abenteurer, der in jedem Vierzehnjährigen steckt, mag er auch nicht Philippe heißen und nicht Daudet. Dagegen hilft weder Klugheit noch Psychologie: nie ward's deutlicher bewiesen als eben diesmal, denn Léon Daudet ist einerseits gelernter Arzt, Patholog und Schüler Charcots, anderseits Psycholog von Beruf, Bildner und Erforscher von Menschen, wäre also prädestiniert zur Beobachtung wie kein anderer. Aber seine charakterologische Meisterschaft, die mit karikaturistischer Sicherheit jeden Menschen zu zeichnen weiß, an einem einzigen versagt sie, diese magische Wissenschaft: an dem eigenen Kind. Der Knabe schläft im elterlichen Zimmer, atemnah also, sie sprechen mit ihm Tag und Nacht, aber nie haben sie ihm ins innere Auge geblickt. Sie nennen ihn den kleinen Philippe, für sie ist der überlange Junge, dem der Flaum schon um die Lippen sproßt, noch immer das halbwüchsige Wesen, arglos, unverdorben, geschlechtslos, und der Pierre Bonchamps, der in seinen Gedichten von Prostituierten und weichen Umarmungen der Frauen träumt, immer noch das Kind Philippe, das morgens in die Schule geht und seine Lateinaufgaben macht. Und dabei kennt der Vater die epileptischen Anfälle des Knaben, kennt die Belastung durch den Großvater (Alphonse Daudet war Tabetiker),...