Zweites Buch
Balzac am Werk
Siebentes Kapitel
Der Mann von dreißig Jahren
Von 1829 an, mit seinem dreißigsten Jahr und dem Augenblick, da er mit seinem ersten wirklichen Buch vor die Welt tritt, ist Balzac endgültig Honoré de Balzac; seine langwierige und umwegige Entwicklung ist endgültig abgeschlossen. Als Mann, als Künstler, als Charakter, artistisch wie moralisch und physiognomisch, ist seine Erscheinung völlig ausgeformt. Kein entscheidender Zug wird sich in seinem Bilde mehr verändern. Die beispiellos aufgesparte Kraft hat ihre Richtung gefunden; der Schöpfer hat sich seine Aufgabe gestellt, der grandiose Architekt - wenn auch nur erst in annäherndem Umriß - den Plan für sein zukünftiges Werk entworfen, und mit Löwenmut wirft sich Balzac in die Arbeit. Solange der Puls an seiner Hand pocht, wird nun der pausenlose Rhythmus seines Tagewerks nicht stocken und nicht sich mindern. Dieser Maßlose hat sich ein eigentlich unerreichbares Ziel gestellt, aber nur der Tod kann seinem prometheischen Willen eine Schranke setzen. Balzac am Werk ist das vielleicht grandioseste Beispiel schöpferischer Kontinuität, das wir in der neueren Literatur kennen. Wie ein mächtiger Baum, gespeist von den ewigen Kräften der Erde, steht er strotzenden Stammes aufrecht, bis die Axt ihn fällt, immer höher die füllige Krone des Werkes gegen den Himmel wölbend und, ohne den Standort zu verändern, mit geradezu organischer Geduld seine schicksalsgegebene Funktion erfüllend: unablässig zu blühen, zu wachsen und immer reifere Früchte zu schenken.
Mit all diesen schöpferischen Erneuerungen wird von nun ab Balzac ein und derselbe bleiben; seine äußere Physiognomie verändert sich so wenig mehr wie die charakterologische Struktur. Legt man die Bilder des Fünfzigjährigen neben die des Dreißigjährigen, so findet man nur Kleinigkeiten verändert, nicht Wesentliches; ein paar graue Streifen im Haar, ein paar Schatten unter den Augen, ein gelblicher Ton in dem früher so üppigen Kolorit, aber der Habitus ist genau derselbe. Im dreißigsten Jahre ist ein für allemal das Individuelle und Einmalige seiner Erscheinung zum endgültigen Ausdruck gekommen. Aus dem »kleinen, mageren und blassen jungen Mann« der Entwicklungsjahre, dessen äußerer Unscheinbarkeit als einziges Positivum eine »schwache Ähnlichkeit« mit dem jungen Bonaparte »vor dem Ruhm« nachzurühmen war, ist in merkwürdigem Kreislauf wieder das »dicke Kind mit den Pausbacken« seiner ersten Kindheit herausgekommen. Das Nervöse, Unsichere, Ungeduldige, Fahrige weicht im Augenblick, da er sich am Schreibtisch seßhaft gemacht hat, einer von Kraft und Fülle strotzenden Breite und Behaglichkeit, und er schildert in der Gestalt des d'Arthez nur sein Spiegelbild, wenn er sagt:
Der Ausdruck in d'Arthez' Augen, die früher im Feuer eines edlen Ehrgeizes leuchteten, war mit dem Erfolg müde geworden. Die Gedanken, die seiner Stirn Großartigkeit verliehen hatten, waren abgeblüht; seine ehemals schlanke Figur war beleibt geworden. Die Goldfarben des Wohllebens zeigten sich überall auf seinem Gesicht, das in seiner Jugend von der Not mit braunen Tönen gezeichnet war -, den Farben des Temperamentes, das alle Kräfte anspannt, um unablässig zu kämpfen und zu siegen.
Der erste - wie meist bei dem Künstler trügerische - Eindruck von seinem Gesicht ist bloß der einer vergnüglichen, lebensgenießerischen Gesundheit, einer jovialen Gutmütigkeit. Trotz der über die harte, blanke Stirn emporgetürmten, meist nicht ganz reinlichen Mähne macht die weiche Materie, aus der dies Gesicht geformt ist - weich und fett die Haut, zart und dünn das Bärtchen, breit und zerfließend die Formen - den Eindruck genießerischer Lässigkeit, eines Vielschläfers, eines Vielessers und Wenigarbeiters. Erst wenn man auf seine Schultern blickt, breit wie die eines Lastträgers, diese Schultern eines Vautrin, auf diesen zähen, muskulösen Stiernacken, der zwölf oder vierzehn Stunden über die Arbeit gebeugt sein kann, ohne zu ermüden, auf die Athletenbrust, so ahnt man etwas von der Massivität, von der Wucht seines Wesens; erst unter dem weichen, zerflossenen Kinn beginnt dies Mächtige in ihm. Dieser Körper ist ein Block Erz; das Genie seines Körpers liegt wie das seines Werkes in der Masse, in der Breite, in einer unbeschreiblichen Vitalität. Vergeblich und verlogen darum jeder Versuch, Balzacs Genialität aus seinem Antlitz zu deuten. Der Bildhauer David d'Angers hat es versucht, indem er die Stirn überhöhte und ihr vorspringende Buckel herausbosselte, um die Denkarbeit des Gehirns gleichsam durch die Schale dringen zu lassen. Der Maler Boulanger hat es versucht, das vordringliche Embonpoint durch die weiße Kutte zu verdecken und die Haltung des wohlbeleibten Männchens aufzustraffen; Rodin, indem er ihm den ekstatischen Schreckblick eines aus tragischen Halluzinationen Erwachenden gab. Alle drei suchen sie aus dem dunklen Gefühl, daß man dies an sich unprätentiöse Gesicht physiognomisch steigern müsse, um das Genie darin kenntlich zu machen, dämonische oder heroische Elemente einzuschmuggeln, und Balzac selbst versucht sich gleichfalls an einer solchen Intensivierung seines Wesens, als er sich im Porträt seines Z. Marcas zeichnet:
Seine Haare glichen einer Mähne; seine Nase war kurz und gedrückt, an der Spitze eingefurcht und mit breiten Flügeln wie bei einem Löwen. Auch die Stirn war löwenhaft und durch eine mächtige Rille in zwei kräftige Buckel geteilt.
Aber ein Wahrhafter muß unerbittlich feststellen, daß - wie alle wahrhaft repräsentativen Genies eines Volkes, wie Tolstoj, wie Luther - Balzac nach Volk aussieht, daß sein Gesicht gleichsam die Summe zahlloser anonymer Menschen seiner Heimat ist. Und in diesem besonderen Falle ist es - abermals wie bei Luther, wie bei Tolstoj - ein wahrhaft volkshaftes, ein vulgäres, ein allbürgerliches und sogar plebejisches Gesicht. Besonders in Frankreich drückt sich die geistige Leistung der Nation in zwei Typen aus, einem aristokratisch verfeinerten, raffiniert sublimierten - etwa Richelieu, Voltaire, Valéry - und dem andern, in dem die Kraft, die Gesundheit des Volkes zum Ausdruck kommt, dem Typus Mirabeaus und Dantons. Balzac gehört völlig in die vulgäre, aber elementare Klasse und nicht zu den Aristokraten, den Dekadenten. Bindet ihm eine blaue Schürze um und stellt ihn hinter die Theke eines Bistro in Südfrankreich, so kann man den Gutmütigen und Jovialen nicht unterscheiden von irgendeinem analphabetischen Gastwirt, der seinen Kunden Wein ausschenkt und mit ihnen plaudert. Als Bauer hinter dem Pflug, als Wasserträger auf der Straße, als Zolleinnehmer, als Matrose in einem Marseiller Bordell, überall würde Balzac mit seinem Wesen und Gesicht natürlich wirken. Echt und natürlich ist Balzac in Hemdsärmeln, lässig angezogen wie ein Bauer oder ein Proletarier, wie das Volk, dessen Teil er ist. Verkleidet wirkt er nur, wenn er versucht, elegant zu sein und sich aristokratisch zu gebärden, wenn er sich pomadisiert, sein Haar aufsträhnt, wenn er vor die Augen, die alles durchdringen und sehen, ein affiges Lorgnon hält, um es den Stutzern des Faubourg Saint-Germain gleichzutun. Wie in seiner Kunst ist seine Stärke nicht dort, wo er künstlich ist, wo er sich philosophisch oder sentimental in eine Sphäre begibt, die ihn unwahr macht, sondern nur da, wo er Volk ist. Auch sein körperliches Genie lag einzig in seiner Vitalität, seiner Vehemenz, seiner Kraft.
Nun ist es nicht das Wesen eines Porträts, gerade diese Eigenschaften optisch zum Ausdruck zu bringen. Ein Bild ist immer nur gleichsam der Ausschnitt aus einem lebendigen Film, eine Sekunde der Starre, des An-sich-Haltens, eine gebrochene Bewegung, und ebensowenig, wie man aus einer einzelnen Seite seines Werks die Fülle, die Vielseitigkeit, die beispiellose Produktivität seines Genies, kann man nach dem Dutzend erhaltener Porträts das Übermaß von Geist, Brio, Heiterkeit und überströmender Lebensfülle ahnen, die er als Mensch gewesen sein muß. Ein flüchtiger, ein oberflächlicher Blick gibt nichts bei Balzac. Man weiß es aus der Übereinstimmung aller Berichte seiner Zeitgenossen: wenn das kleine, dickliche Männchen, noch keuchend von der Anstrengung des Treppensteigens, mit seinem schlechtgeknöpften braunen Rock, seinen halboffenen Schuhen, seiner unordentlichen Mähne in ein Zimmer trat und sich schwer hinwarf auf einen Fauteuil, der unter seinen fünfundachtzig oder neunzig Kilo bedenklich stöhnte, war der erste Eindruck ein niederschmetternder. Wie? Dieser grobe, fettige, schlecht parfümierte Roturier soll unser Balzac sein, der Troubadour unserer intimsten Gefühle, der Anwalt unserer Rechte? staunen die Damen, und zufrieden schielen die anwesenden anderen Dichter in den Spiegel und konstatieren, um wieviel besser sie wirken, um wieviel geistiger sie aussehen. Hinter manchem Fächer verbirgt sich ein Lächeln, Herren tauschen maliziöse Blicke über dies penetrant Bürgerliche, behäbig Plebejische des literarisch so gefährlichen Konkurrenten. Aber im Augenblick, da Balzac zu sprechen beginnt, ändert sich blitzartig der erste peinliche Eindruck, denn ein Sturzbach, ein »torrent«, bricht los, funkelnd von Witz und Geist; sofort wird die Atmosphäre im Zimmer elektrisch, alle Aufmerksamkeit zieht er magnetisch an sich. Er spricht über tausend Dinge, bald über Philosophie, bald entwirft er politische Projekte, er weiß hundert Anekdoten, er erzählt wahre und erfundene Geschichten, die, während er sie vorträgt, noch immer phantastischer und unglaubwürdiger werden. Er prahlt, er spottet, er lacht, aus den kleinen dunklen Augen sprühen übermütige goldene Funken, er...