ERSTES BUCH: JEDE(R) FÜR SICH
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Als in die Kongresshalle des Zoo hinein ein Löwe brüllte
Im Foyer der Kongresshalle des Zoo in einem Spiegel sah er sich plötzlich ganz: Von den Schuhen bis zum dicken Haar, der Mähne. Wie es sich an den Garderoben staute. Von da gingen sie in den Saal. Im Anzug, in dunklem Kleid, Kostüm. Irgendwas erinnerte ihn an die Konfirmation? Die Spiegel nicht. Der Anzug? Das leise Reden? Vielleicht das. Die Erwartung, die im Hals steckte.
Er dachte an die Prüfung und stolperte.
Kostet dich einen Kuss! rief die ihn am Arm fasste. Im Alten Amtsgericht auf dem Peterssteinweg begegnete er ihr wieder, er setzte sich nach hinten, sie entdeckte ihn trotzdem und hielt die Wange hin. Küsse sie weg, die Sommersprossen, die Biester. Am Elsterflutbecken waren Ruderer vorbeigeschossen, als Regine das sagte. Inzwischen war sie in München. Dass er stolperte, war Zufall, dass man sich begegnete, nicht. Bloß in die Dialektik von Zufall und Notwendigkeit war Johannes noch nicht eingedrungen, die lag noch zwischen den Deckeln der Blauen Bände.
Eberhard Spillner, strohblond, hatte im Hörsaal Platz genommen, Ingeborg, die er später Gothlinde nannte, auch. Sie konnte Gleichschritt halten, wie sich am 7. Oktober auf dem Karl-Marx-Platz zeigte. Eberhard war Pimpf gewesen. Du wirst sie ertragen, Hannes. In der Partei waren beide, Ebbi und Inge.
Zur Wiedersehensfeier 25 Jahre danach fehlten sie. Ingeborg war in Korea, Nordkorea, Kulturattaché. Eberhard hatte politisch versagt. Mitwisser des Versagens war Helmut Bergner. Helmut mochte seinen Namen nicht, weil es zu viele Helmuts gab. Er konnte, seit er in Budapest Deutsch für Ausländer unterrichtete, mit dem Colatrinken nicht aufhören; später erblindete er. Wenn Helmutio von Kádár sprach, nannte er ihn Joschi Patschi. Von Zeiß war Helmut über die ABF zur Universität gekommen, er blieb parteilos.
Eberhard, Ebbi, war unser Vorbild. War er! Niemand widersprach, als sie unter sich waren und das sagten. Ingeborg lebt in einem Land, in dem Menschen in Erdlöchern hausen, behauptete Jürgen Brandner, in dessen Erinnerung sie fest verankert war. Lasst uns anstoßen, damit sie an uns denken, Hannes, an dich vor allem, weil du sonst hingekracht wärst. Ich bin Zeuge und lüfte das Geheimnis um den Kuss, den ihr, als zur Immatrikulation der Löwe brüllte, entweder nicht bemerkt oder vergessen habt. Da drauf trinken wir!
Ein Löwe? rief Doris Hechler, Kunsterzieherin, vollbusig, inzwischen Kettenraucherin, was ihr das Leben gekostet haben wird. Ich habe keinen Löwen brüllen hören. Jürgen, der einen in der Krone hatte, widersprach. Erhebe dich, Vergessliche. Sie blieb sitzen. Da brüllte doch kein Löwe! Doch! Der brüllte! Gerade das war der Zufall, der Kuss nicht. Ingeborg war kein Zufall. Wir alle waren keine Zufälle.
Auf den Zufall! Der keiner war! Da drauf trinken wir! Auf die Notwendigkeit! Helmutio reckte das Bierglas. Auf die Gesetzmäßigkeit! Das Klassikerstudium! Die Blauen Bände! Hoch die Tassen! Helmut Soldner, Graf genannt, noch ein Helmut, trank Wein, Doris auch.
War alles beschlossen, das Gelöbnis auch, bloß wir wussten das nicht, rief Klaus Wagner, inwischen Berliner, der gleich hinter der Mauer lebte, bei den Schwiegereltern. Klaus war Zwickauer, der Vater alte KPD und hinter Max Hoelz hermarschiert.
Haben wir was gelobt?
Wenn du es nicht mehr weißt, Klausi, dass wir gelobt haben, bist du nicht dort gewesen. Erlaube, dass ich dich wieder so nenne. Meine Erinnerung ist zuverlässig, weil an meiner Seite ein Mädchen saß, das leise ausrief: Gelöbnis!? Auch das noch! Und ich trete noch einen anderen Beweis an, die Einladung vom 21. September 1955, einem Mittwoch, 14.30 Uhr. Da zogen die Fahnen ein, gefolgt vom Akademischen Senat, von Musikstück. Begrüßung, Rezitation. Glaubt ihrs jetzt?!
Damit ihr euch hineinversenken könnt, fange ich mit dir an, Hannes. Haben wir ein Gelöbnis abgelegt? Laut und vernehmlich! Ja. Jetzt du, Graf! Haben wir was gelobt? Ja oder nein? Wird so gewesen sein, sagte der bissel verlegen. Es war so. Jeder bekam die Einladung. Ihr seid festgenagelt. Bergner wedelte mit der Einladung. Nach Rezitation die Ansprache durch den Rektor, den's noch gibt, den Sauf-Mayer, Verpflichtung, Festprogramm, Nationalhymne. Ich sehe, Klausi, gibst dich geschlagen. Die Eidesformel verkneife ich mir natürlich nicht und höre dann auf.
Ich gelobe . Hört auf zu quatschen! Nochmal ... Ich gelobe, im Geiste des Humanismus, der Demokratie, des sozialistischen Fortschritts und der Völkerverständigung zu studieren; die Würde und das Ansehen der Universität zu mehren ... Schwarz und Omeier fehlen, sehe ich, außerdem quatschen die Geografen dazwischen. Wollt ihr alles hören? Alles, alles richtig bis jetzt! rief Fips - Günther mit th, ergänzte Bergner - ... Disziplin zu wahren sowie mein Wollen und Streben einzusetzen für den Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik ... Auf den Tisch klopfend Fips: Sehr gut! Disziplin!
Helmutio feixend: Gilt auch für Genossen!
Freches Schwein, dieser Bergner! ... für den Aufbau des Sozialismus, ich kürze ab, und so weiter. Fips dazwischen rufend: Was soll das sein?
Dann werde ich vorlesen, für dich solo . für ein einheitliches, friedliebendes und demokratisches Deutschland ... Überholt, rief Günther, aber wir wissen, wie's gemeint war. Wollte ich nur hören, sagte Helmutio. Fips ungerührt: Am Ende werden wirs haben. Bergner bissig: Wenn nicht sozialistisch, dann doch einheitlich. Sagtest du was, Bergner? Sozialistisch, sage ich, Helmutio kam zum Schluss: . die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt, ich höre auf.
Der Graf wollte das Gelöbnis ganz hören. Das wars. Hast geschlafen, seh ich, Soldner.
Jürgen Brandner wechselte das Thema. Mit der Vergesslichkeit ist das wie mit einer Krankheit. Ich hätte mich schlagen lassen. Kein Gelöbnis. Sind wir aufgestanden? Klaus Wagner, parteilos, stand auf. Ob wir im Stehen gelobt haben, ist egal. Vom Zufall war die Rede. Wo gabs welche? Es gab keine Zufälle. Von Notwendigkeiten waren wir eingekreist. Alles vorherbestimmt. Hans Christoph Sproemberg, an den ihr euch erinnern werdet, ist tot. Klein-Zack. Mit Pomade im Haar. Drüben gestorben. Dass Zacki auf der Liste war, verdankte er der Götheln, und dass ich, Arbeiterkader, druntergemischt wurde in diese Seminargruppe, auch kein Zufall. Ich wette, das hatte mit meinem Vater zu tun, und mitentschieden hat Gothlinde, sie war die Partei. Ich behaupte sogar, sie hat uns eingruppiert. Die Partei, bei einigen weiß ichs, sind inzwischen selber drin, außer mir und dem Bergner, das aber ist eine story für sich. Was hat die Inge, die mich liebte, an ihrem Tisch konnte man das nicht hören, mich bekniet, dass ich reingehe, ich meine die andre Inge. Die ist nicht glücklich geworden.
Die andre Inge saß einige Tische weiter. Sie waren Luft schnappen, als Klaus Wagner das sagte. Ihr wisst, wer der Vater ist. Die Inge kniete mir auf der Brust, was schon mein Vater versucht hat, und der ist bei Thälmann marschiert.
Helmutio fragte nach Franziska. Hat ein Kind, das zur Schule geht; die schwimmt ganz oben.
Und Gisela? - Kommt mich abholen.
Klaus Wagner hatte was von Schule gehört. Wenn du mich fragst, was sein wird, Hannes, mit der Schule, dann sag ich, bei den Schülern haben wir schon verspielt.
Wir sollten mit unseren Mädchen mal tanzen, meinte der Graf, weil Musik spielte. Unsern Weibern. Damens, meinst du, Bergner, verbesserte Gert Müller, der von Schneebarch, Schneeberg, angereist war, Lehrer, später Linkspartei, was noch keiner wissen konnte. Dann eben Damens, gab Helmutio nach.
Schade, immer fehlen welche. Omeier lässt grüßen. Jürgen wird gefragt: Schreibt ihr euch?
Er schreibt. Legte den Finger an den Mund. Nicht ich, zum Neuen Jahr. Mal aus Spitzbergen, mal von Honolulu.
Die Ratte!
Bin mit ihm zurechtgekommen, solange er da war.
Und Schwarz?
Gymnasium. Hamburg.
Werner kam an den Tisch. Sie wechselten das Thema. Brandner war auch Reisekader.
Bei der Einschreibung in der spärlich beleuchteten Kalinin-Mensa hatte Johannes Werner kennengelernt. Du kamst vom Seiteneingang, ich von der Mitte. Wir steuerten denselben Platz an. Ich war eher. Du hast mir den Weg abgeschnitten. Nein, ich war schneller.
Fips (mit Abzeichen) schmiss eine Runde für den Geografentisch. Früher sagte er: Wer mich verpfeift, kriegt eins auf die Mütze.
Beim Einzug in die Kongresshalle der Rektor vorneweg mit goldner Amtskette, gefolgt vom Senat, Anzugmenschen außer einer Dame, sie in rosa Kostüm, Eva Lips, Völkerkundlerin. Ihr Mann Julius Lips, Rektor-Vorgänger. Ein Kahlköpfiger fast ohne Hals war hinter einem Weißkopf hergegangen. Überflog den Saal, bevor er sich setzte, als müsse er die Gesichter auf Echtheit prüfen.
Sie hatten Platz genommen. Der Weißkopf mit Scheitel setzte sich nicht neben den Glatzkopf, sondern extra. Eberhard sagte: So stelle ich mir die Götter in Begleitung von Zeus vor, als er im Hörsaal 40 dem Weißkopf wiederbegegnete, er das Jackett zuknöpfend. In diesem Moment war die mit Perlmuttknöpfen besetzte Weste zu sehen. Herrenmensch, sagte Ebbi, Hannes, Kommandeur. Helmutio anzüglich: Von wem die Tränensäcke sind, verrate ich nicht. Solche sollten Kinder haben, die dafür gerüstet sind, statt welche wie mich zu quälen, Kenner des Althochdeutschen, des Mittelhochdeutschen, Altenglischen, Altnordischen, denen du jede grammatische Form abverlangen kannst. Aber das sagte Bergner später.
Ich hab auf die Kette geguckt, die der Rektor in den Händen hielt, sagte Doris bei diesem Wiedersehen nach fünfundzwanzig Jahren, und nicht an solchen Quatsch...