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Am 28. Oktober 1886 fuhr Präsident Grover Cleveland zu einer tränenförmigen Insel im Hafen von New York, um Frankreichs Geschenk der Freiheitsstatue offiziell entgegenzunehmen. Unter bleiernem Himmel und bei leichtem Nebel beendete der Präsident seine Rede mit einer Hommage an die Fackel der in Kupfer gewandeten Dame und an ihre symbolische Kraft: »Ein Strahl des Lichts soll die Finsternis der Ignoranz und der Unterdrückung des Menschen durchbrechen, bis die Freiheit die Welt erleuchtet.«[2]
Würdenträger schlugen feierlich die allerletzten Nieten ein, während Kriegsschiffe Kanonen abfeuerten. Am Ufer, in Lower Manhattan, brachen die Zuschauer in Jubel aus. Kopfsteinpflasterstraßen erzitterten von wiehernden Pferden und Trommelschlägen und leuchteten von Blumenständen voller Blüten. Blaskapellen marschierten wie Soldaten auf dem Weg zur Front, und Kinder kletterten Laternenpfähle hinauf, um nicht niedergetrampelt zu werden.
Besucher, die vom Spektakel angezogen wurden, legten den Kopf in den Nacken, um die unvorstellbar großen Gebäude zu betrachten, die über ihnen emporragten. Weil ihn diese in den Himmel guckenden Landeier amüsierten, kam einem Büroboten in einem der hohen Türme eine verwegene Idee. Er öffnete ein Fenster und warf einige Bahnen des schmalen Papiers hinaus, auf denen normalerweise das trunkene Schwanken der Aktienkurse notiert wurde. Seine Freunde taten es ihm nach.
»In kürzester Zeit war die Luft weiß von sich windenden Luftschlangen«, bemerkte ein Reporter der New York Times. »Hunderte davon verfingen sich im Netz der Stromkabel und bildeten ein verschneites Dach, und andere fielen herab und wurden von der Menge aufgefangen.«
Der Spaß war ansteckend. Ernste Männer der Finanzwelt wurden wieder zu Jungs und drückten sich an die Bürofenster, um Papier auf die Menge herabzurollen. »Es nahm kein Ende«, schrieb der Times-Reporter. »Jedes Fenster schien eine Papierfabrik zu sein, die sich windende Streifen Papier ausspuckte. Das war die neue Art, in der Wall Street zu feiern.«[3]
Und so wurde die Wall-Street-Variante der Konfettiparade geboren.
Im Laufe der nächsten einhundertundfünfzehn Jahre segelten zahllose Tonnen Konfetti feierlich aus Hochhausfenstern auf einen Abschnitt des Lower Broadway herab, der als Canyon of Heroes bekannt wurde - als Schlucht der Helden. Stürme aus Papier wurden zu Ehren von mehr als zweihundert Entdeckern und Präsidenten, Kriegshelden und Sportlern, Astronauten und religiösen Figuren, Berühmtheiten von Einstein bis Earhart, von Churchhill bis Kennedy, von Mandela bis zu den Mets heraufbeschworen.
Dann kam der 11. September 2001.
Aufgerissen, in Flammen stehend, von innen immer schwächer werdend, spuckten die Zwillingstürme des World Trade Center Papier aus wie eine verletzte Pulsader Blut. Rechtsurkunden und Mitarbeitereinschätzungen. Gehaltsabrechnungen, Geburtstagskarten, Speisekarten. Zeitpläne und Blaupausen, Fotos und Kalender, Buntstiftzeichnungen und Liebesbriefe. Manche im Ganzen, manche zerrissen, manche brennend. Ein einzelner Fetzen Papier aus dem Südturm, der wie eine Flaschenpost aus einem sinkenden Schiff geworfen wurde, erfasste den Schrecken dieses Tages. Dort stand, neben einem blutigen Fingerabdruck, in hektischer Handschrift geschrieben:
84. Stock
Büro West
12 Pers. eingeschlossen[4]
Nach dem Papier kamen die Menschen. Nach den Menschen die Gebäude. Nach den Gebäuden die Kriege. Die Asche kühlte ab, doch nicht die Wut. Jahrelang konnten New Yorker keine Konfettiparade ertragen, vor allem nicht so nah an dieser heiligen Lücke, die Ground Zero getauft wurde.[5] Doch mit der Zeit wird das Undenkbare oft erträglich.
Im Februar 2012 gewannen die New York Giants als Außenseiter den Super Bowl. Zehntausende Footballfans kamen zusammen, um zu feiern, nur wenige Blocks von der Stelle entfernt, wo am One World Trade Center Stahlrohre als überwältigender »Freedom Tower« in den Himmel ragten, ein trotziger Mittelfinger an die Feinde Amerikas, höher und kühner als die kastenartigen Zwillinge, auf deren geheiligte Fußabdrücke das neue Gebäude herabblickte. Als die siegreichen Giants vorbeirollten und ihre Fans auf der Straße tanzten, flatterten sechsunddreißig Tonnen geschredderten Papiers auf sie herab.
An Konfetti gemessen, hatte die Rückkehr zum »Normalzustand« nur etwas mehr als zehn Jahre gedauert.
Mit der Zeit werden Nachrichten zu Geschichte. Und Geschichte, so hat einmal jemand gesagt, ist das, was anderen Menschen passiert ist.[6] Für all jene, die den 11. September erlebt haben, mag die Zeit die Wut und die Trauer abschwächen, die auf den Tod und die Zerstörung folgten, als Terroristen vier Passagierflugzeuge in Lenkraketen verwandelten. Doch die Erinnerungen sterben nicht. Der Schmerz, den die verheerendsten Terroranschläge der amerikanischen Geschichte ausgelöst haben, sitzt zu tief. Er hat psychische Narben hinterlassen, die uns jeden Tag dazu zwingen, an das davor und das danach zu denken und uns auf eine Welt einzustellen, die durch die Sicherheitscheckpoints physisch verändert und durch jede Erwähnung des »homeland« psychologisch verändert ist - ein Wort, das vor den Ereignissen des Tages, der in den USA als »9/11« bekannt ist, nur selten benutzt wurde.[7] (Die Abkürzung aus Monat und Tag wurde vor allem deshalb zur allgemein gültigen Abkürzung für die Anschläge, weil die Ziffernfolge dieselbe ist wie die des landesweiten Notrufsystems: 9-1-1; es lässt sich nicht sagen, ob die Terroristen das Datum aus diesem Grund ausgewählt haben.)
Schon jetzt hat eine komplette Generation keine unmittelbaren Erinnerungen an den 11. September, trotz der alltäglichen Auswirkungen auf ihr Leben. Der Historiker Ian W. Toll beschrieb diese Entwicklung in Bezug auf einen anderen schockierenden feindlichen Angriff, der ebenfalls zum Krieg führte: den Angriff auf Pearl Harbor, sechzig Jahre zuvor. »Der Lauf der Zeit nimmt die schneidende Dringlichkeit des Überraschungsangriffs hinweg und verhüllt sie in Schichten aus Erzählung und retrospektiver Beurteilung«, schrieb Toll. »Die Rückschau ermöglicht uns, die Krise einzuschätzen, doch sie nimmt uns zugleich die Fähigkeit, die unmittelbaren Sorgen derer nachzuempfinden, die sie durchleiden mussten.« Er zitierte John H. McGoran, einen Seemann auf dem dem Untergang geweihten Kriegsschiff USS California: »Wenn man es nicht selbst miterlebt hat, gibt es keine Worte, die es angemessen beschreiben können; wenn man dabei war, sind keine Worte nötig.«[8]
Auch wenn Worte scheitern können, sind sie unsere einzige Hoffnung, das Versinken des 11. September in die Untiefen der Geschichte hinauszuzögern. Das ist das Ziel dieses Buches. Es folgt dem Ansatz, die Geschichte dieses chaotischen Tages in drei Teilen zu erzählen: Die Ereignisse in der Luft, am Boden sowie das, was im Anschluss geschah. Der Fokus liegt dabei auf den einzelnen Akteuren, ihren Erfahrungen und Taten, von heldenhaft über herzzerreißend bis mörderisch. Für jeden Bericht, der hier aufgeführt ist, gibt es tausend andere, die ebenso wichtig sind. Ich habe versucht, Geschichten auszuwählen, die den Tag in seiner ganzen Tiefe und Breite abbilden, ohne dieses Buch in eine Enzyklopädie zu verwandeln. Das Ziel ist es, solchen Lesern eine frische Perspektive zu liefern, für die die Anschläge noch immer »News« sind, und für alle andere so etwas wie Erinnerungen zu schaffen.
Eine weitere Hoffnung ist persönlicher Art: Einigen der Menschen Namen zu geben, die direkt von diesen Ereignissen betroffen waren. Unter den beinahe dreitausend Männern, Frauen und Kindern, die am 11. September getötet wurden, ist wohl niemand, den man als vertrauten Namen bezeichnen könnte. Das »bekannteste« Opfer ist vielleicht der sogenannte Falling Man, der beim Sturz aus dem Nordturm des World Trade Center fotografiert wurde.[9] Doch selbst er bleibt für die meisten Menschen namenlos, ein anonymes Symbol.
Der Ursprung dieses Buches geht auf den Tag selbst zurück. Am 11. September 2001 schrieb ich, als Reporter des Boston Globe, die Titelgeschichte über die Anschläge, mit Unterstützung mehrerer Dutzend Kollegen. Mein Ansatz war zugleich historisch und lokal: beide entführten Flugzeuge, die die Zwillingstürme trafen, waren vom Logan International Airport in Boston gestartet. Fünf Tage später veröffentlichte ich, mit Hilfe von vier Reportern, eine Geschichte mit dem Titel »Six Lives«, die als Modell für dieses Buch dient.[10] Darin wurden die Geschichten von sechs Menschen miteinander verwoben, die von der Entführung des American Airlines Fluges 11 und der Katastrophe im Nordturm betroffen, dafür verantwortlich oder auf andere Weise damit verbunden waren. Wie wir damals erklärten, war die Geschichte so angelegt, dass sie »die gemeinschaftliche Erfahrung einer Nation [aufdeckt], erzählt anhand ihrer Erinnerungen und der Erinnerungen ihre Nächsten. Sie ist zugleich ein Denkmal für all jene, die getötet wurden, und ein Bericht über die, die überlebt...
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